Dienstag, 16. April 2024

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Peter Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord

Am Ursprung seines Buches, so schreibt der us-amerikanische Historiker Peter Novick, liege Neugier und Skepsis. Die Neugier habe sich auf die Frage bezogen, warum eigentlich erst heute und ausgerechnet in den USA der Holocaust eine derart überragende Bedeutung gewonnen habe. Seine Skepsis als Jude und Amerikaner dagegen sei mit der Frage verbunden, ob diese herausragende Stellung tatsächlich so wünschenswert sei. Novicks Buch "The Holocaust in American Life" hat, noch bevor es auf Deutsch unter dem Titel "Nach dem Holocaust" erschien, hierzulande viel Lob bekommen. Nicht wenige haben es besonders gegen Norman Finkelsteins Polemik "Die Holocaust-Industrie" in Stellung gerückt. Beide beschäftigen sich mit ähnlichen Gegenständen, doch aus unterschiedlichen Motiven und auf unterschiedliche Weise. Novicks Buch ist eine gründliche historische Untersuchung, die sich weitgehend der Anklage enthält. Dennoch ist seine Kritik an der Kultivierung eines Opferbewußtseins unter den amerikanischen Juden oder daran, dass die Erinnerung an den Holocaust in den USA mühe-und kostenlos sei, nicht so weit von Finkelsteins Denken entfernt, wie es die eifernde Verdammnis des letzteren gerne hätte. Hermann Theißen hat Peter Novicks Buch für uns gelesen.

Hermann Theißen | 19.03.2001
    In Washington gibt es ein großartiges Holocaust-Museum, aber kein Sklaverei-Museum. Was würden die Amerikaner davon halten, wenn die Deutschen sagten, der Holocaust sei zwar furchtbar gewesen, wirklich wichtig aber sei die Errichtung einer Berliner Gedenkstätte für die amerikanischen Negersklaven?

    Mit dieser provokativen Frage beendet Peter Novick das kurze Eingangskapitel, das er der deutschen Ausgabe seiner Studie vorangestellt hat. Sie ist eine Variation von einfachen Beobachtungen, aus denen er sein Forschungsinteresse ableitet. Dazu zählen vor allem diese: Der Anteil der Juden an der US - amerikanischen Bevölkerung beträgt zwei oder drei Prozent, die Schauplätze des Völkermords liegen mehrere tausend Kilometer vom amerikanischen Kontinent entfernt, in den ersten zwanzig Jahren nach dem zweiten Weltkrieg interessierte sich auch in den USA lediglich eine kleine Minderheit für Hitlers "Endlösung" und trotz alledem rückte der Holocaust seit den siebziger Jahren in das Zentrum des amerikanischen Diskurses und wurde wesentlicher Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses.

    Peter Novick rekonstruiert die Gründe für diesen Paradigmenwechsel und fragt nach seinen Konsequenzen. Dabei beleuchtet er die verschiedenen Phasen der Holocaust Rezeption in den USA und fügt zu einer neu gewichteten Gesamtdarstellung zusammen, was bislang nur in Einzelstudien vorlag.

    So wissen wir vor allem aus den Arbeiten von Tom Segev und David Wyman, dass die Zionisten in Palästina und die Juden in den Vereinigten Staaten wenig zur Rettung der Juden in Europa unternommen haben. Peter Novick bestätigt den Befund, findet aber viele realpolitische Erklärungen, die ihn verständlich machen, vor allem folgende zeitgenössische Handlungsvoraussetzung.

    Die Vorstellung, dass die Rettung einer bedrohten ausländischen Zivilbevölkerung für ein Land, das sich in einem totalen Krieg befand, eine Verpflichtung war, kam den Amerikanern im Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach nicht in den Sinn.

    Nach dem Krieg wollte in den USA wie in Israel niemand die Leidensgeschichten der Überlebenden hören, was vor allem Folge der neuen weltpolitischen Konstellation war, deren westliche Seite findige Ideologen mit dem theoretischen Konstrukt "Totalitarismus" armiert hatten. Mit dessen Hilfe konnte der neue Verbündete Westdeutschland entlastet, die Sowjetunion als der eigentliche Feind definiert und musste der Holocaust marginalisiert werden. Das Bestreben der großen jüdisch - amerikanischen Organisationen zielte vor allem darauf, die Assoziation Juden/ Kommunisten aus dem öffentlichen Bewusstsein zu eliminieren und sich in die Fronten des Kalten Krieges einzuordnen, was wiederum bedeutete, den Holocaust aus dem öffentlichen Diskurs auszuklammern.

    Es gab einen weiteren Aspekt der amerikanischen Nachkriegskultur, der dazu führte, dass die Juden den Holocaust in ihrem eigenen Denken eine untergeordnete Stellung gaben - und noch mehr dazu, dass sie ihn gegenüber anderen bagatellisierten. Während der Status des Opfers heutzutage hochgeschätzt wird, erregte er in den 1940er und 1950er Jahren bestenfalls ein gewisses Mitleid, das mit Verachtung gemischt war. Es war eine Kennzeichnung, die es aktiv zu vermeiden galt.

    Die Politik des Verschweigens historischer Wahrheiten, für die Peter Novick erschreckend viele Beispiele anführen kann, änderte sich erst in Folge des Jom Kippur Kriegs von 1973.

    Die amerikanischen Juden (und auch Israelis) erkannten in der Situation des verwundbaren und isolierten Israel zunehmend eine beängstigende Parallele zur Lage der europäischen Juden 30 Jahre zuvor.

    Von diesem Zeitpunkt an, entwickelten die großen jüdischen Organisationen Kampagnen, die darauf zielten, die Erinnerung an den Holocaust zum gewichtigen Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins in den USA zu machen und jede Kritik an Israel zu tabuisieren. Der Paradigmenwechsel in der Holocaustrezeption wurde eingeleitet zu einem Zeitpunkt, als in den USA die antisemitische Bedrohung weitgehend verschwunden war, und er wurde abgeschlossen, als Juden sich führende Positionen in der amerikanischen Gesellschaft erarbeitet hatten. Für Peter Novick ist das keine paradoxe, eher eine kausale Gleichzeitigkeit:

    In den achtziger und neunziger Jahren wollten viele Juden aus verschiedenen Gründen herausstreichen, dass auch sie Angehörige einer "Gemeinschaft von Opfern" seien. Ihre faktische Lage konnte wenig bieten, um dieser Behauptung Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die amerikanischen Juden waren bei weitem die wohlhabendste, gebildetste, einflussreichste und in jeder Hinsicht erfolgreichste Gruppe innerhalb der amerikanischen Gesellschaft - eine Gruppe, die im Vergleich zu anderen identifizierbaren Minderheitsgruppen unter keiner feststellbaren Diskriminierung und keinen auf ihrem Minderheitenstatus beruhenden Nachteilen zu leiden hatte. Insofern die jüdische Identität jedoch in den Leiden der europäischen Juden verwurzelt werden konnte, lief sich auf den Status als Opfer (mittelbar) Anspruch erheben, einschließlich aller moralischen Privilegien, die mit diesem Status einhergehen.

    Nicht nur die Juden fanden in den USA zu einem neuen Holocaust - Bewusstsein, Peter Novick zeigt, wie der Holocaust mit Hilfe von strategisch angelegten Operationen und begünstigt durch die Zeitläufte zum prägenden Bestandteil des gesamtamerikanischen - kulturellen mainstreams gemacht wurde. Nun könnte man meinen, angesichts der "Einzigartigkeit" dieses Verbrechens sei dies eine überfällige Bewusstseinspolitik gewesen, aber genau diese Einzigartigkeit bestreitet Peter Novick.

    Die Behauptung, der Holocaust sei einzigartig - wie die, er sei unfassbar oder nicht darstellbar - ist tatsächlich zutiefst beleidigend. Was könnte sie anderes bedeuten als: "Eure Katastrophe ist im Gegensatz zu unserer gewöhnlich, fassbar und darstellbar."

    Die Sakralisierung und Mystifizierung des Holocaust, wie sie von Elie Wiesel und anderen betrieben werde, stehe nicht nur nicht in der jüdischen Tradition; sie verhindere historische Erkenntnisse, und die Verklärung des Holocaust zum "Inbegriff der Greueltat" trage womöglich eher zur gesellschaftlichen Desensibilisierung als zum Engagement bei.

    In den Vereinigten Staaten ist die Erinnerung an den Holocaust so banal und folgenlos, dass sie überhaupt keine Erinnerung ist, weil sie so unstrittig, so wenig mit den wirklichen Trennlinien innerhalb der amerikanischen Gesellschaft verknüpft, so apolitisch ist.

    Peter Novick hat eine kluge, kenntnisreiche und gewichtige Rekonstruktion der amerikanischen Holocaust Rezeption vorgelegt. In ihren Tabus brechenden theoretischen Implikationen geht seine Studie weit über die vorwiegend personalisierenden Anklagen des Norman Finkelstein hinaus und wer sich durch die 430 Seiten des Werks gearbeitet hat, wird Peter Novicks eingangs zitierte Frage nach einem amerikanischen Sklaverei-Museum weder als Relativierung noch als bloße Provokation abtun können.

    Peter Novick, "Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord", erschienen in der Deutschen Verlags-Anstalt hat 430 Seiten und kostet 44 DM.