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Peter Wawerzinek: "Der Liebestölpel"
Alle Vögel sind nun da

In "Rabenliebe" ging's um den frühen Mutterverlust, in "Schluckspecht" um seinen Kampf gegen den Alkoholismus. Mit „Liebestölpel“ schließt der in einem DDR-Kinderheim aufgewachsene Peter Wawerzinek seine biografisch inspirierte Vogel-Trilogie ab. Ein Roman über eine lebenslange Liebe, die wehtut.

Von Andrej Klahn | 12.11.2019
Der Schriftsteller Peter Wawerzinek zu Gast bei Deutschlandradio Kultur.
Schreibend den eigenen Dämonen auf der Spur: Peter Wawerzinek (Deutschlandradio / Cornelia Sachse)
Peter Wawerzinek hatte es schon immer mit den Vögeln. Keinem Lebewesen habe er in seiner Kindheit größere Zuneigung entgegengebracht als der Möwe, heißt es in dem 1994 erschienenen Prosaband "Das Kind, das ich war". Dass es rückblickend Tiere und nicht Menschen waren, zu denen Wawerzinek sich in jungen Jahren hingezogen fühlte, sagt viel über die harten Bedingungen aus, unter denen er herangewachsen ist. Groß geworden ist er in DDR-Kinderheimen. Nachdem die Mutter ihn und seine Schwester in einer Rostocker Wohnung zurückgelassen hatte, um in den Westen rüber zu machen.

Das problematische Nicht-Verhältnis zur Mutter hat der 1954 in Rostock geborene Schriftsteller Wawerzinek in dem sprachgewaltigen Roman "Rabenliebe" aufgearbeitet. Auf "Rabenliebe" folgte 2014 "Schluckspecht". Und mit dem jüngst veröffentlichten "Liebestölpel" findet Wawerzineks Vogel-Trilogie nun ihren Abschluss.
Untalentiert für Partnerschaft und Nestbau wie die Trottellumme
Allesamt sind es Such- und Sehnsuchtsgeschichten, die der Literatur-Ornithologe in diesen Romanen erzählt, weit davon entfernt, bloß den Traum vom Fliegen auszubuchstabieren. Den Stoff für Warwerzineks Erzählen liefern die selbsterlebten Abstürze. Seine Suche nach der Mutter, sein Ringen mit dem Alkohol. In "Liebestölpel" geht es nun um das wohl komplizierteste der Gefühle: die Liebe. Als gefiedertes Wappentier dient dabei die Trottellumme, ein Vogel mit Bindungsproblemen, darin dem Ich-Erzähler ähnlich, wie der "Opa" genannte Pflegevater ihm erklärt:
"Sie leben an Land in Kolonien, sind jedoch in der Luft Einzelgänger. Nestbau und Brutpflege sind für sie eher problematisch, sie kommen damit nicht zurecht, es ist nicht ihr Metier. Mein Opa fliegt, die Flügelarme ausgebreitet, um mich herum. Sie sind unbestrittene Beherrscher der Lüfte, können nur eben nicht sonderlich sicher landen. Sie bauen ihre Nester an Felsklippen, Junge, legen je ein einziges Ei hinein und müssen es zu zweit auf engstem Raum ausbrüten in Nestern, an steile Felswände gepappt. Nestbau und Brutpflege sind absolut nicht ihr Ding."
Der Ich-Erzähler versucht es in "Liebestölpel" dennoch mit dem Nestbau. Petkowitsch heißt er. Wir folgen ihm in Wawerzineks aus einzelnen Episoden zusammengesetzten Roman durch mehrere Jahrzehnte. Wie auch der Autor wächst auch er in einem Kinderheim auf. Danach führt er ein unstetes Leben, studiert Kunst und finanziert seine Neigung zur Literatur durch wechselnde Gelegenheitsjobs. Als "schreibender Wanderbursche" ist er im Arbeiter- und Bauernstaat DDR verdächtig. Petkowitsch erlebt mit, wie die Mauer fällt, Deutschland sich wiedervereint und die graue Künstlerkolonie Prenzlauer Berg sich in eine pastellfarbene Touristenattraktion verwandelt.
Sein Schicksal heißt Lucretia
Doch es sind nicht die sich überstürzenden politischen Ereignisse, die das Leben des Erzählers prägen. Sie werden allenfalls am Rande und meist nur kursorisch abgehandelt. Sein Schicksal heißt: Lucretia. Als tugendhafte Selbstmörderin hat sie ihren Platz in der römischen Antike. Petkowitsch lernt ihre ostdeutsche Wiedergängerin im Kinderheim kennen. Ein Mädchen mit dicken schwarzen Zöpfen, mit dem er schon als Dreijähriger Fangen spielt. Ein Spiel, dass die Kleine von Anfang an meisterhaft beherrscht:
"Du kriegst mich nie!, ruft Lucretia. Läuft auf den großen, dicken Baum im Gespensterwald zu. Die Zunge ausgestreckt, auf nichts anderes fixiert, fahre ich den Zöpfen hinterher, fest entschlossen, atemlos. Bin dann beim dicken, hohen Baum, hinter dem Lucretia mit ihren beiden Zöpfen verschwunden ist. Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein. Hinter mir und vor mir gilt es nicht, an den Seiten auch nicht. Dreimal, viermal herum um den Baum ist da nichts mehr von den zwei Zöpfen zu sehen. Nicht vor, nicht hinter mir, zu den beiden Seiten auch nicht. Wie verhext nirgendwo."
Rückblickend erkennt der Ich-Erzähler hier bereits das Muster seiner lebenslangen Abhängigkeit von Lucretia. Sie hat ihn im Griff, führt ihn mal an kurzer, mal an langer Leine – los aber lässt sie ihn nie. Bildhübsch und manipulativ, launisch und unberechenbar entzieht sich Lucretia dem Geliebten, um doch immer just in dem Moment wieder aufzutauchen, wenn Petkowitsch gerade dabei ist, sein Leben mit anderen Frauen zu ordnen.
Wesen wie Lucretia geistern als femme fatale durch die Literaturgeschichte. Bei Wawerzinek aber ist die verhängnisvolle Frau nicht wie sonst so oft eine Männerphantasie, sondern ein Kinderheimkind wie sein Held: Also emotional ausgehungert, auch was die Fähigkeit zu lieben angeht. Was der Ich-Erzähler mit Lucretia erlebt, ist darum keine amour fou, sondern eine unheilvolle lebenslange Affäre mit einer psychischen Grenzgängerin.
Immer wieder ist sie plötzlich weg
Beide ziehen zusammen, um sich nur wenige Tage später wieder zu trennen. Wenn Lucretia nicht einschlafen kann, ruft sie Petkowitsch zu sich, um im nächsten Moment sein Manuskript aus dem Fenster zu werfen. Gemeinsam fahren sie in den Urlaub, um jeder alleine für sich daraus zurückzukehren.
"Ein Goldwäscher bin ich, wasche mit meinem Sieb den Schutt unserer Tage aus, um Staubpartikel einzufangen, sie zu einem Ganzen zu vereinen. Das komplizierte Puzzle, ich mache das Beste draus. Aus vielen kleinen Nuggets lasse ich die elf Tage unseres Zusammenlebens in Glanz erstrahlen. Mallorca wird zur Insel der Gerechten. Ist ein wenig wie Archäologie, was ich betreibe. Wenn ich Sicht für Sicht, Schicht um Schicht unser beider Leben freilege, finden sich winzige Splitter, die in meiner Haut stecken."
Die erlittenen Verletzungen hindern den Ich-Erzähler aber nicht daran, es immer wieder neu mit Lucretia zu versuchen. Wenn sie ihn ruft, ist er da. Und wenn er weg ist, reist sie ihm nach.
Irgendwann ist sie schwanger. Schon auf dem Weg zur Entbindung reklamiert sie das Kind als Alleinerziehende für sich, um ihn dann wenig später mit der Tochter sitzenzulassen. Mit Lucretia erlebt Wawerzineks Erzähler die Wiederkehr immergleicher Bindungsunfähigkeit, bis Lucretia schließlich unwiderruflich verschwindet. Fast am Ende reimt Petkowitsch sich dann geradezu märchenhaft die Moral seiner bitteren Geschichte zusammen.
"Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie neu, und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei, und dass der Mensch auf Erden soll glücklich werden, ist im Plan der Schöpfung nicht für jedermann enthalten, heißt es bei Sigmund Freud. Die Zeit heilt keine einzige Erinnerung, sagt mein Opa."
Wie schon die anderen Vogel-Romane ist auch "Liebestölpel" stark autobiografisch grundiert. Mit kunstvoll durchrhythmisiertem Ton überführt Wawerzinek darin Erinnerungen in eigenwillige Literatur. Reime hallen hier aus der Kindheit nach. Volksliedfetzen ziehen sich durch die Erzählung. Wawerzinek lässt den Ich-Erzähler Zungenbrecher aufsagen, Popsongs und Literatur zitieren, vor allem dann, wenn ihm das Leben besonders wehtut. Ein hochliterarisches Pfeifen im unheimlichen Wald der Erinnerungen ist das, wo die Dämonen der Kindheit auch noch in der Gegenwart des Erwachsenen herumspuken.
Peter Wawerzinek: "Liebestölpel"
Galiani Berlin, Berlin. 304 Seiten, 20 Euro