Dienstag, 16. April 2024

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Peter-Weiss-Biografien
Über die verschlungenen Wege eines os­zil­lie­renden Autors

Seine "Ästhetik des Widerstands" gilt als Höhepunkt deutscher Prosa nach 1945: Peter Weiss gehört zu den meist gelesenen politischen Autoren der Nachkriegszeit. Anlässlich seines 100. Geburtstag sind gleich mehrere Bücher erschienen, die sich dem Leben und dem Werk des Künstlers nähern - und das aus sehr unterschiedlichen Perspektiven.

Von Helmut Böttiger | 08.11.2016
    Der Schriftsteller, Maler und Regisseur Peter Weiss in den 60-er Jahren: "Die Ermittlung", sein Stück über den Frankfurter Auschwitz-Prozess, wurde am 19. Oktober 1965 an mehreren Theatern in Deutschland sowie der DDR uraufgeführt.
    Der Schriftsteller, Maler und Regisseur Peter Weiss in den 60-er Jahren: "Die Ermittlung", sein Stück über den Frankfurter Auschwitz-Prozess, wurde am 19. Oktober 1965 an mehreren Theatern in Deutschland sowie der DDR uraufgeführt. (picture-alliance / dpa / Manfred Rehm)
    In den später siebziger und in den achtziger Jahren gab es in jeder deutschen Universitätsstadt selbstorganisierte Lesezirkel, oft semesterlang, die sich über die "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss den Kopf zerbrachen. Dieses sperrige, mehrdeutige, monumentale Werk hatte der Autor in drei aufeinanderfolgenden Bänden 1975, 1978 und 1981 veröffentlicht.
    Er starb kurz danach, 1982. Es ist ein Gipfelpunkt deutscher Prosa nach 1945. Die gesellschaftspolitischen und ästhetischen Ansätze waren Gegenstand heftigster Debatten und Auseinandersetzungen. Weiss forderte die deutsche Linke wie den deutschen Literaturbetrieb gleichermaßen heraus, und er wusste das:
    "Eine Ästhetik, die sich nicht befasst mit den traditionellen Begriffen der Ästhetik, nämlich der Lehre des Schönen, des Harmonischen, des Formvollendeten, des Abgeklärten, des Fertigen, des Vorbilds, sondern eine Ästhetik, die in sich alles enthält, was dem Kampf des Menschen entspricht, nämlich dem Kampf, sich zu einer höheren Bewusstseinsebene hinzubewegen.
    Also es werden Menschen geschildert, die im politischen Kampf stehen, aber diesen politischen Kampf als zu eng empfinden und diesen Kampf erweitern wollen und einsehen, dass zu diesem Kampf, dem politischen Kampf, dem Kampf um eine politische Erneuerung unbedingt gehören muss die kulturelle Umwandlung, die Bereicherung des Menschen an kulturellen Gütern. Wir müssen uns erobern den Zugang zur Kunst, zur Literatur, zum Ausdruck gleich welcher Form gleichzeitig mit dem Weg zur politischen Organisation."
    Neuentdeckung: Peter Weiss als Künstler und Filmemacher
    Zum 100. Geburtstag von Peter Weiss sind etliche Bücher erschienen, die sich diesem mittlerweile scheinbar historischen Gegenstand widmen – unter anderem auch eine Neuausgabe der "Ästhetik des Widerstands", die sich von den legendären drei grauen Kartonbänden der Originalausgabe tatsächlich etwas unterscheidet.
    Die Eingriffe des damaligen Lektorats, die vor allem die Stilistik und den Satzrhythmus betrafen, sind jetzt im Sinne des Autors wieder getilgt worden. Es gibt daneben aber auch eine Neuentdeckung: Peter Weiss verstand sich zunächst ja eher als Bildender Künstler und als Filmemacher. In dem Band "Dem Unerreichbaren auf der Spur" sind Artikel zu lesen, die bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt waren. Es betrifft vor allem die Zeit der 50er Jahre, in der sich Weiss intensiv mit dem Surrealismus und der Avantgarde beschäftigte.
    "Und dann befriedigte mich allein die Malerei nicht mehr, schon während der 50er Jahre. Es kam dann der Film dazu, der Experimentalfilm, die Collage als Ausdrucksmittel, auch schon das Theater, dramatische Sachen. (…) Und das hing natürlich zusammen mit der ganzen Situation, man wollte sich orientieren nach allen Richtungen hin, man fing an, aus dem Exil, aus der geschlossenen Situation herauszukommen."
    Weiss schreibt im Exil auf Schwedisch
    Weiss schreibt auf Schwedisch über Emaille-Malerei, über "Ausdrucksmittel des Films" oder die Göteborger Kunsthochschule Valand, die er als "avantgardistisches Laboratorium" feiert. Diese intensive Beschäftigung mit der zeitgenössischen Moderne bewegt sich auf einer Höhe, die in der Bundesrepublik der damaligen Zeit noch gar nicht zu erahnen war. Weiss versuchte sich damit, in den schwedischen Kulturbetrieb hineinzuschreiben – eine Zeit lang glaubte er daran, dass die Sprache seines Exils auch seine unmittelbare Ausdrucksform sein könnte. Seine Frau Gunilla Palmstierna-Weiss erinnert sich:
    "Er sprach perfekt Schwedisch. Er hat unglaublich schön auf Schwedisch geschrieben. Er hat eine Begabung. Natürlich hab ich eine Theorie, weil er so schnell Schwedisch gelernt hat. Er war ja immer verliebt in intellektuelle Frauen. Da kann man nicht nur kommen und sagen: Ich liebe dich. Da muss man etwas mehr reden auch noch."
    Zwei Biografien über Weiss
    Bald aber erkannte Weiss, dass er sich adäquat nur im Deutschen, seiner Muttersprache ausdrücken konnte. Eine Biografie über die verschlungenen Wege dieses vielfach oszillierenden Autors zu schreiben ist eine Herausforderung. Es sind jetzt zwei solcher Versuche erschienen, und sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Birgit Lahanns Biografie ist gezeichnet von der momentan grassierenden Mode historischer Reportagen. Die Autorin vermittelt den Eindruck, unmittelbar dabei gewesen zu sein, ohne zeitliche Distanz, mit den Mitteln der Home-Story. Hauptquelle sind Gespräche mit der Witwe von Weiss. Wegen der beabsichtigen Wirkung gehen Interview-Dialoge ohne Zitatzeichen, wenn auch mit Zeilensprung, in den Text ein:
    "Was war bei dieser ersten Begegnung das Interessante an ihm?
    Er hatte eine Ausstrahlung, das muss ich sagen. Die hatte er.
    Und Sie waren eine intelligente und sehr schöne Frau.
    Schön? Das hab ich selbst nie so gesehen.
    Aber er wird es gesehen haben."
    Historische Reportage und Folge instruktiver Essays
    Als prägendes Trauma in Weiss‘ Leben erscheint dann gleich im ersten Kapitel der Unfalltod seiner erst zwölfjährigen Schwester Margit 1934, der durchaus Spuren in Weiss‘ Werk hinterließ, bei Lahann aber eine zusätzliche melodramatische Note bekommt. Ihr Buch ist bestimmt dazu geeignet, bei betreffenden Text- und Wellen-Chefs den Stempelsatz "Verdammt gut geschrieben" hervorzurufen. Die wichtigsten Dimensionen von Weiss‘ Leben und Werk werden dabei aber natürlich nur gestreift.
    Werner Schmidt beginnt seine Biografie dagegen exemplarisch mit der großen Lebenskrise, die Weiss um 1960 hatte – der Protagonist war 43 Jahre alt und schien in allen künstlerischen Bestrebungen gescheitert zu sein. Zugleich kam es zu einer vorübergehenden Trennung von seiner Partnerin und späteren Ehefrau Gunilla Palmstierna. Damit trifft Schmidt einen Nerv. Als emeritierter Professor für Neuere Geschichte in Stockholm interessieren ihn allerdings vornehmlich gesellschaftspolitische Aspekte.
    Deshalb ist seine Biografie auch weniger eine klassische Lebensbeschreibung als eine Folge instruktiver Essays über die einzelnen werkgeschichtlichen Phasen. Das Privatleben von Weiss bleibt nahezu ausgeklammert. Interessant sind Schmidts Ausführungen über die politische Haltung von Weiss, der von Stockholm aus BRD und DDR als ihm gleichermaßen nahe und fremde deutschsprachige Staaten ansah, sich in seiner radikalsten politischen Phase aber eindeutig zur DDR bekannte.
    Die Entwicklung von Weiss' Denken nachgezeichnet
    "Das politische Engagement wurde dann zu Anfang der 60er Jahre stärker und stärker, auch eben mit der Zusammenarbeit mit Freunden in der DDR, wo mein Stück dann inszeniert wurde, in Rostock. Und diese Dinge, ständig das Erlebnis der geteilten Welt, des Westens und des Ostens, und die Konflikte, die daraus entstehen müssen, und dass immer, wenn man zwischen diesen Konflikten steht, wie ich es ja als doch neutraler Schwede immer tat – wurde auch bei mir der Drang verschärft, ich muss also mich für die eine Seite entscheiden.
    Ich kann nicht ständig zwischen den Stühlen sitzen, sondern: was ist mir näher, auf welcher Seite sehe ich Entwicklungsmöglichkeiten, wo, in welcher gesellschaftlichen Grundhaltung kann ich eine allmähliche Veränderung besser sehen. Ist sie unter dem Sozialismus oder ist sie unter dem liberalen Kapitalismus des Westens zu finden?"
    Solche Überlegungen referiert Werner Schmidt sehr ausführlich. Aufgrund seines schwedischen Hintergrunds beleuchtet er auch Aspekte bei Weiss, die in der deutschen Rezeption immer vernachlässigt wurden. Den Roman "Die Situation", den Weiss 1956 auf Schwedisch schrieb, interpretiert Schmidt als Vorläufer von Weiss‘ bedeutenden autobiografischen Reflexionen "Abschied von den Eltern" und "Fluchtpunkt".
    Und die Entstehung von Weiss‘ überragendem Erfolg mit dem Marat/Sade-Theaterstück wird differenziert analysiert: Weiss hatte im Haus des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld Brechts bis dato unveröffentlichtes "Arbeitsjournal" gelesen, und das nichtaristotelische Theater Brechts eröffnete ihm einen völlig neuen Horizont. Schmidt wertet darüber hinaus Weiss‘ Notizbücher äußerst gründlich aus und kann deshalb die Entwicklung des Denkens von Weiss detailliert nachzeichnen. Typisch für seine Zitier- und Argumentationsweise ist eine Passage wie diese:
    "Politisch verankert in einer Bewegung, in der die führende Rolle der Arbeiterklasse ein unangreifbares Dogma war, griff Weiss einen Begriff des Mitbegründers der Kommunistischen Partei Italiens und anerkannten marxistischen Denkers, Antonio Gramsci, auf, in dem er seine eigenen Erfahrungen und Schlussfolgerungen aufgehoben sieht: der historische Block. Schon im ersten Buch der Ästhetik des Widerstands berichtet der Ich-Erzähler, dass sein Vater in einem Gespräch 1937 "die Umschichtung innerhalb der gesellschaftlichen Kräfte als einen historischen Block" bezeichnete und dabei Gramsci erwähnte, der im April dieses Jahres an den Folgen einer zehnjährigen Haft in den Gefängnissen Mussolinis gestorben war.
    Alle verfügbaren Quellen ausgewertet
    Kurz vor seinem Tod schrieb Weiss in einem Brief an einen Leser der Ästhetik des Widerstands, dass ihn bei Gramsci besonders die Analyse des "historischen Blocks" interessiert habe, das Wegfallen der Grenzen zwischen der sogenannten Arbeiterklasse und den "fortschrittlichen" Gruppen, und dass es keine Festlegung mehr geben dürfe auf eine bestimmte soziale Herkunft, was zähle, sei nur der "frei gewählte politische Schritt."
    Werner Schmidt wertet souverän alle verfügbaren Quellen aus. Ästhetische Fragen interessieren ihn aber nicht so sehr. Formüberlegungen spielen überhaupt keine Rolle, so dass auch diese Biografie nur Teile des Gegenstands erfasst.
    Peter-Weiss-Ausgabe von "die horen"
    Aus Anlass von Weiss‘ hundertstem Geburtstag hat bereits im Sommer die Zeitschrift "die horen" eine umfangreiche Nummer über Peter Weiss vorgelegt. Es ist ein Kompendium mit völlig unterschiedlichen Texten und Herangehensweisen. Dabei fällt auf, dass Weiss‘ Beziehung zur DDR und sein Nachleben auf ihrem Terrain einen heimlichen Schwerpunkt des Heftes darstellt. Fast könnte man meinen, Weiss würde nachträglich seine damals ziemlich schnell enttäuschte Sehnsucht, ein DDR-Schriftsteller zu sein, verwirklicht bekommen.
    Es gibt aber natürlich auch etliche andere Stimmen in der betreffenden "Horen"-Nummer, so dass die vielfältigen Möglichkeiten, sich das Werk von Peter Weiss heute anzueignen, durchaus aufscheinen. Mittlerweile ist die Peter Weiss-Lektüre auch Teil der eigenen Biografie, wie man beispielsweise im Beitrag der Schriftstellerin Dorothea Dieckmann nachlesen kann. Sie las 1981 auf eine sie selbst verblüffende identifikatorische Weise "Abschied von den Eltern":
    "Was, um Himmels willen, hatte diese junge, stürmische weibliche Person mit einem Buch zu tun, in dem ein Mann Anfang Vierzig seine Entwicklung in den exotisch-erotischen Bildern einer Urwaldexpedition beschreibt, morbid, schwül, amorph, zutiefst pathetisch und imprägniert gegen jedes komische Element?"
    Als ehemaliger "Modeautor" ist Weiss heute aus dem Blick gerückt
    Peter Weiss war einmal geradezu ein Modeautor. Heute ist er weitgehend aus dem Blickfeld gerückt. Aber dass sein Werk auch künftig etwas bedeuten kann, scheint sicher zu sein. Seine Ernsthaftigkeit ist zeitlos, und seine Haltung eine aktuelle:
    "Der Zweifel, die Kritik, das Bewusstsein, dass alles aus Gegensätzen aufgebaut ist und verschiedenartig gedeutet werden kann – das ist überwiegend und leitet die Arbeit ständig an. Denn etwas Fertiges vorzufinden und etwas Fertiges darzustellen ist im Grunde genommen uninteressant für mich."
    Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 38 Euro

    Werner Schmidt: Peter Weiss. Leben eines kritischen Intellektuellen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 34 Euro

    Birgit Lahann: Peter Weiss. Der heimatlose Weltbürger. J.H.W. Dietz, Bonn 2016, 24,90 Euro

    Peter Weiss: Dem Unerreichbaren auf der Spur. Verbrecher Verlag, Berlin 2016, 24 Euro

    die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. Nr. 262, Göttingen 2016, Der Wundbrand der Wachheit. Peter Weiss lesen, 16,50 Euro