Dienstag, 16. April 2024

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Pflege zu Hause
Wer pflegt, riskiert sozialen Absturz

Waschen, kochen, Verbände wechseln und nachts immer wieder aufstehen - wer Angehörige zu Hause betreut, muss rund um die Uhr verfügbar sein. Zeit für eine andere Arbeit bleibt da kaum. Für viele Pflegende bedeutet dies Armut und Hartz IV.

Von Ina Rottscheidt | 04.01.2018
    Eine pflegebedürftige Frau liegt zu Hause in ihrem Pflegebett, aufgenommen am 05.12.2013 in Potsdam.
    Von den rund drei Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden fast drei Viertel zu Hause betreut (dpa / Britta Pedersen)
    "Guten Morgen, lieber Sonnenschein …"
    Andrea Siedler sitzt mit ihrer Oma auf der Bettkante. Nach dem Aufstehen singen sie immer das gleiche Lied.
    "… was machen denn die Vögelein?"
    "Das Lied, Omi, das hast du immer gesungen, als ich klein war, ne?" – "Ja!" – "Und das ist halt immer traditionell unser ‚Guten Morgen lieber Sonnenschein-Lied."
    Fast 99 Jahre ist die Oma, sie kann nicht mehr sehen und hat fortgeschrittene Demenz. Oft sitzt sie einfach da und ihr Blick scheint ins Leere zu gehen, doch wenn sie das alte Lied sind, strahlt sie.
    "Bei ihr ist das eine Orientierung, welche Tageszeit wir haben, und sie aus dieser Angst herausholt, die sie beim Aufwachen erst einmal da ist, weil sie nicht weiß, wo sie ist, denn sie erkennt das ja nicht als ihr zu Hause."
    "Moment, ich tue mal die Hörgeräte rein …."
    Keine Zeit für eine andere Arbeit
    Andrea Siedler wäscht und kocht, zieht die Oma an, wechselt Verbände und steht nachts für sie auf. Seit 13 Jahren – rund um die Uhr. Zeit für eine richtige Arbeit bleibt da nicht. Die 52-Jährige lebt von Hartz IV – rund 500 Euro hat sie im Monat zur Verfügung. Aber was sie wirklich betrübt, ist die Einsamkeit.
    "Ich kann nicht mal eben in den Biergarten oder auf einen Geburtstag, zum Flohmarkt, zum Konzert gehen, das geht nicht mehr. Manchmal geht es, wenn Oma schläft. Und es kommt kaum noch einer zu Besuch. Das macht einsam. Und natürlich das Geld, das reicht hinten und vorne nicht."
    So wie Andrea Siedler ergeht es vielen, denn von den rund drei Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden fast drei Viertel zu Hause betreut. Ein direkter Weg in die Armut, sagt Susanne Hallermann, Gründerin des Vereins "Armut durch Pflege":
    "Viele pflegende Angehörige können nicht mehr berufstätig sein, müssen teilweise oder sogar ganz reduzieren. Sie verbrauchen ihre finanziellen Reserven auf, sodass sie nachher Arbeitslosengeld II erhalten, Hartz IV, das geht schneller als man denkt."
    Das sollte sich durch die Pflegereform, die im Januar 2017 in Kraft trat, ändern. Tatsächlich erhalten seitdem mehr Menschen Hilfe, und in vielen Fällen ist das auch mehr Geld. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe von der CDU zieht eine positive Bilanz:
    "Es sind über fünf Milliarden Euro zusätzlich eingesetzt worden im Pflegebereich, und ganz wichtig: Viele Menschen erhalten früher Hilfe. Und im ersten Halbjahr 2017 haben 200.000 Menschen erstmalig erste Unterstützungsleistungen der Pflegeversicherung bekommen. Genau das ist die Richtung, die wir uns vorgestellt haben."
    901 Euro Pflegegeld pro Monat
    Wem beispielsweise Pflegegrad 5 zuerkannt wird – das ist die höchste Stufe – der bekommt 901 Euro Pflegegeld im Monat. Das ist mehr als vor der Reform. Aber für jemanden, der sich rund um die Uhr kümmert, reicht das nicht aus:
    63 Stunden beträgt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit einer Pflegeperson, das hat eine Studie der Hans-Boeckler-Stiftung herausgefunden. Und sie pflegt im Schnitt neun Jahre lang, auch das ein Ergebnis der Studie. Andrea Siedler pflegt ihre Oma seit 13 Jahren:
    "Ich habe erst mal nicht damit gerechnet, dass ich so lange pflege. Ich bin jetzt 52, und die Rente ist natürlich ein Witz. Im Moment habe ich einen Rentenbescheid, das ist etwas über 500 Euro. Davon kann ich nicht leben. Und das ist ja das Gemeine: Kennen Sie diese Broschüre von der BfA: "Pflege lohnt sich!?" Ich habe mich da jahrelang drauf verlassen und gedacht, ich sammle ja Rentenpunkte, und es ist ja alles gut. Ich wusste nicht, wie viel Rente es wirklich mehr gibt. Das ist ein Witz. Und mit 500 Euro kann man wirklich nicht überleben."
    Das Bundesgesundheitsministerium verweist auf die Zahlung von Rentenbeiträgen. Die Ausgaben dafür seien um fast 50 Prozent erhöht worden, sagt Gröhe. Doch auf die spätere Rente der pflegenden Angehörigen wirke sich das nur minimal aus, kritisiert Susanne Hallermann:
    "Das ist eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, denn pflegende Angehörige sind nicht ausreichend sozial abgesichert. Und die Mehrzahl sind wiederum Frauen, sodass die Altersarmut vorprogrammiert ist."
    SPD-Thema bei Sondierungsgesprächen
    Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach will das Thema daher bei den anstehenden Sondierungsgesprächen wieder auf den Tisch legen. Seine Forderung: deutlich mehr Geld für pflegende Angehörige und Profis.
    "Man darf die Angehörigen nicht gegen die Professionellen ausspielen, auch die Angehörigen müssen mehr Geld bekommen, für die Pflege, die sie leisten. Aber dann muss auch jeder in Deutschland wissen: Die beiden Gruppen, die das ablehnen, das ist das Arbeitgeberlager, die wollen den paritätischen Beitragssatz in dieser Höhe, was dann notwendig wäre, nicht bezahlen. Und das will auch die CDU nicht, die CDU ist auch der Meinung, dass die Pflegeversicherung schon teuer genug ist. Das ist ein politisches Problem."
    "Omi wir machen Pause …"
    Andrea Siedler hat die Oma im Rollstuhl runter an den Rhein geschoben. Sie setzt sich neben sie auf eine Bank. Dann schauen beide auf das Siebengebirge auf der anderen Rheinseite:
    "Wie heißt der Berg da drüben?" – "Drachen…..fels!"
    Oma kommt nicht ins Heim
    Für Andrea Siedler sind das keine Momente des Glücks. Sie verzichtet auf viel. Der Rücken und die Knie schmerzen ihr, und das Geld reicht nie. Trotzdem hätte sie ihre Oma niemals in ein Heim gegeben:
    "Es ist einfach das Wissen, es fühlt sich richtig an, trotz der ganzen Schwierigkeiten, trotz der Müdigkeit. Ich glaube es ist das Allerbeste, was man mache kann: Für einen anderen Menschen da sein und dafür zu sorgen, dass es ihm den Umständen entsprechend gut geht, und ihm die Angst nehmen. Und solange ich die Kraft dazu habe, geht das auch."