Freitag, 19. April 2024

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Pflegekräfte aus Osteuropa
Streit über den Wert der Arbeit

Pflegekräfte aus Osteuropa sind eine wichtige Säule der häuslichen Altenpflege in Deutschland. Doch an den Arbeitsbedingungen entzündet sich immer wieder Kritik. Jetzt will eine frühere Altenpflegerin aus Bulgarien ein Urteil mit Signalwirkung erstreiten.

Justina Oblacewicz im Gespräch mit Andreas Noll | 17.08.2020
Eine Pflegekraft aus Polen wäscht einen betllägrigen Mann. Der Pfleger kommt aus Polen und ist eigentlich Musiker von Beruf.
Man sei auf die osteuropäischen Kräfte angewiesen, denn es gebe in Deutschland nicht genügend Pfleger. (imago/epd)
Rund 1.000 Euro netto für 30 Stunden Arbeit in der Woche – das stand im Arbeitsvertrag von Dobrina D. Die bulgarische Altenpflegerin kümmerte sich 2015 um eine Seniorin in Deutschland. Aber die vereinbarte Arbeitszeit reichte nicht aus, die alte Dame brauchte Betreuung rund um die Uhr.
"Ich stand 24 Stunden täglich zur Verfügung. Wenn sie Schmerzen hatte oder mich rief, musste ich aufstehen, um ihr Nachthemd oder die Windeln zu wechseln. Ich hatte keine Freizeit und auch sonst keine freien Tage, ich war die ganze Zeit im Einsatz." Das erzählte Dobrina D. vor kurzem der Deutschen Welle.
Deshalb klagt die Bulgarin vor dem Berliner Arbeitsgericht – unterstützt vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Dobrina D. fordert eine Lohnzahlung für die tatsächlich geleistete Arbeit und bekam in erster Instanz recht. Ihr damaliger Arbeitgeber – eine bulgarische Vermittlungsagentur – muss ihr gut 40.000 Euro nachzahlen. Eine Summe, die der Bereitschaftszeit rund um die Uhr entspricht und mit dem Mindestlohn vergütet werden soll – so die Begründung des Gerichts.
Zu viel Arbeit, zu wenig Geld:
Aber Dobrina D. hat von dem Geld bislang noch keinen Euro gesehen. Die bulgarische Agentur ging in Berufung und lehnte auch einen Vergleichsvorschlag des Gerichts in Höhe von 10.000 Euro ab.
Die Klage wirft ein Licht auf die Bedingungen, unter denen Altenpflegerinnen und Altenpfleger etwa aus Polen, Bulgarien und Rumänien in Deutschland arbeiten. Sie betreuen geschätzt etwa 300.000 Senioren in ihrem Zuhause. Und das eben oft rund um die Uhr.
Man sei auf die osteuropäischen Kräfte angewiesen, denn es gebe in Deutschland nicht genügend Pfleger. Das sagt zum Beispiel der Verband für häusliche Betreuung und Pflege, der sich dafür einsetzt, Senioren zu Hause zu betreuen, wenn der Arbeitsschutz sichergestellt ist.
Sollte Dobrina D. am Ende Recht bekommen, könnte das die Branche aufrütteln. Weitere osteuropäische Betreuerinnen könnten sich Nachzahlungen erstreiten. An diesem Montag geht die Verhandlung in die nächste Runde. Dobrina D. beobachtet den Prozess aus Bulgarien. Sie ist inzwischen in Rente.
Andreas Noll: Mitgehört hat Justyna Oblacewicz. Sie ist Referentin für das Projekt Faire Mobilität beim Deutschen Gewerkschaftsbund, der ja den Prozess der Bulgarin unterstützt. Wie blicken Sie denn auf den Fall Dobrina D.? Ist das ein Einzelfall aus ihrer Sicht? Oder arbeitet da eine ganze Branche nach diesem Modell?
Justina Oblacewicz: Ganz im Gegenteil. Aus meiner Sicht ist das ein Fall von vielen. Aber einer oder vielleicht der einzige, der aktuell soweit vors Gericht gekommen ist, dass wir sogar ein Urteil in der ersten Instanz haben. Die Branche basiert auf genau diesem Modell, und dabei ist es völlig unerheblich, ob wir es hier mit Entsendungs- Arbeitsverträgen zu tun haben oder mit Selbständigkeiten. Am Ende des Tages sind die Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten gleich. Sie arbeiten nämlich, wie das eben im Beitrag auch angeklungen war, bis zu 24-Stunden am Tag. Bezahlt werden aber bis zu maximal 40 Stunden pro Woche.
Schwierige Kontrolle der Arbeitsbedingungen
Noll: Nun versucht aber die Politik durchaus gegenzusteuern. Es gibt ja seit einigen Jahren in Deutschland einen Mindestlohn, der für alle gilt. Es gibt auch Arbeitszeitgesetze. Woran hapert es dann?
Oblacewicz: Die häusliche Betreuung ist nun auch sehr isoliert, die findet ja in den Privathaushalten statt. Also ein Ort, es ist ja einerseits der Wohnort der Senioren, die betreut werden, aber auch der Arbeitsort, und eben da das durch das Grundgesetz geschützt ist, ist es auch sehr schwierig, die Arbeitsbedingungen dort zu kontrollieren. Schwierig bis sogar unmöglich. Insofern was wir beobachten, was passiert, ist ein systematischer Arbeitszeit-Verstoß und ein systematischer Mindestlohn-Verstoß, der einfach in allen diesen Beschäftigungsverhältnissen stattfindet. Zudem kommt noch, es sind internationale Vertragsbeziehungen, die da eine Rolle spielen, die es womöglich auch vereinfachen, eben diese Gesetzes-Umgehungen zu ermöglichen.
Kontakt zu betroffenen Frauen über soziale Netzwerke
Noll: Sie sprechen also hier über Macht-Positionen international, aber auch diesen geschützten Raum im eigenen Haus. Ist das dann nicht genau die Aufgabe der Gewerkschaften, hier zu helfen. Wir haben in Deutschland finanzkräftige und durchaus auch mächtige Gewerkschaften. Ist das am Ende auch ja durchaus bei ihnen ein Versagen, dass diese Frauen nicht zu ihren Rechten kommen?
Oblacewicz: Nun, der Prozess, denke ich, zeigt auch deutlich, dass die Gewerkschaften dadurch auch auf etwas tun. Ohne die Unterstützung der Gewerkschaft Verdi und des DGB Rechtsschutzes wäre dieser Fall tatsächlich so weit nicht gekommen vor Gericht. Insofern, wir tun etwas, es ist aber tatsächlich schwierig. Denn anders als zum Beispiel in der Fleischbranche haben sie nicht die Möglichkeit, einfach sich vor die Werkstore zu stellen oder in den Betrieb zu gehen und da die Person anzusprechen und sie eben auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zum Beispiel aufmerksam zu machen und sie über ihre Rechte aufzuklären. Was wir aber da dahingehend tun, dass wir in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, wo die Frauen eben sehr gut organisiert sind in bestimmten Gruppen und versuchen sie halt dort anzusprechen, sie dort mit Informationen zu versorgen. Und so kommen immer mehr Kontakte zu Frauen zustande, die wir eben auch versuchen zu überzeugen, für ihre Rechte sich einzusetzen und sie auch bei rechtlichen Schritten begleiten wollen. Es ist aber leider nicht sehr einfach, denn die Frauen sagen auch, wenn ich mich auflehne, dann muss ich damit rechnen, dass ich diese Beschäftigung verliere. Und sie brauchen aber diese Beschäftigung. Und was noch hinzukommt, dass wir eben auch feststellen, ist das in vielen Arbeitsverträgen sehr hohe Vertragsstrafen vereinbart sind. Das heißt, selbst wenn die Frauen, das ist ja, die Pflege hat ein weibliches Gesicht, obwohl auch vereinzelt Männer dort arbeiten, wenn sie sich auflehnen und ihre Arbeits-Bedingungen kritisieren, dann ist es häufig einen Grund, dass sie eben mit Vertragsstrafen eingeschüchtert werden und dann eben den Schritt zum Gericht nicht wagen wollen.
Noll: Sie sagen, die Frauen brauchen diese Jobs. Wie ist das aus Ihrer Sicht? Wie abhängig sind die Pflegerinnen und Pfleger aus Osteuropa und Südosteuropa von diesen Jobs in Deutschland?
Oblacewicz: Nun ist es ja so, dass sind in der Regel Frauen ab 50 aufwärts, die vielleicht über viele Jahre zu Hause die Kinder gepflegt haben, die aber auch eine Ausbildung, eine Berufsausbildung in ihren Heimatländern haben, aber keinen Arbeitsplatz mehr finden auf dem Arbeitsmarkt. Und insofern ist eben die häusliche Betreuung eine Branche, in der sie relativ leicht Fuß fassen können. Denn es ist eben kein Beruf, der eine besondere Qualifikation erfordert. Sie werden als Haushalts Angestellte eingestellt in der Regel und werden relativ schnell angelernt, so. Was aber nicht bedeutet, dass es ein minderwertiger Beruf ist, ganz im Gegenteil, ich finde, er wird einfach auch systematisch auch von der Politik übersehen und auch nicht genügend anerkannt. Das hat zum Beispiel die Corona-Zeit sehr deutlich gemacht. Es wurde sehr viel von der Pflegebranche an sich gesprochen, als einer systemrelevanten Branche. Aber die häuslichen Betreuerinnen, die ihnen den häuslichen Haushalten bis zu 24-Stunden am Tag arbeiten, die sind unterm Radar geflogen, die sie nicht gesehen worden. Die sind auch nicht mit Gratifikationen im Nachgang bedacht worden, ja. Es gab ja Bonuszahlungen für Pflege-Kräfte, aber eben nicht für die Haushalts Angestellten, die die Arbeit während der Coronazeit ununterbrochen fortgeführt haben.
Noll: Nun ist das ja nicht nur ein deutsches Problem, sondern in vielen reichen Ländern Europas arbeiten Pflegekräfte aus Osteuropa und Südosteuropa, gibt es da eine europäisch koordinierte Form, um diesen Menschen zu mehr Rechten zu verhelfen?
Deutschland hält sich nicht an internationale Vereinbarung
Oblacewicz: Es ist halt so, dass es gibt ein ILO-Abkommen,
Noll: Internationale Arbeitsorganisation,
Oblacewicz: Richtig, Internationale Arbeitsorganisation, das auch Deutschland 2013 ratifiziert hat, und da hat sich Deutschland dazu bekannt, dass auch Hausangestellten Arbeits-Bedingungen zustehen müssen wie auch normalen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Also eben bezahlter Urlaub, Arbeitsschutzvorschriften wie maximale Arbeitszeit und Ähnliches. Leider, und da komme ich wieder auf das zurück, was ich eingangs gesagt habe, wird das nicht durchgesetzt, ja. Also diese Arbeitsbedingungen, auch das, was in diesem Abkommen steht, wird einfach nicht eingehalten, da finden Gesetzesbrüche statt. Wir aber von Fairer Mobilität und auch von der Gewerkschaft und auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund wollen uns eben dafür einsetzen, dass diese Arbeitsbedingungen, die dort stattfinden, gute Arbeit sind. Denn davon profitieren am Ende eben nicht nur die Pflegekräfte, sondern eben auch die Familien. Denn es ist ja so, wenn sie eine übermüdete Betreuungskraft haben, die einfach vollkommen verschlissen ist, dann kann sie auch keine gute Arbeit mehr oder gute Pflege sicherstellen. Und insofern glauben wir, wenn jetzt tatsächlich das durchgesetzt würde, nämlich die Arbeitsbedingungen endlich Anwendung finden, die auf diese Person zutreffen müssen, würden beide Seiten davon profitieren. Das geht aber nur, wenn eben auch das Pflegesystem entsprechend reformiert wird. Denn uns ist klar, diese Arrangements, wie sie aktuell stattfinden, können nur so gelebt werden, weil sie besonders günstig sind. Wenn sie wirklich einer Person, und das sehen sie gerade an dem aktuellen Fall, für jede gearbeitete Stunde, das heißt bis zu 24-Stunden am Tag bezahlen müssten, und zwar den deutschen Mindestlohn, dann würden sie sehr schnell feststellen, dass dieses Modell sich nicht mehr finanziert. Das würde keine Familie bezahlen. Insofern glauben wir, da muss an sehr vielen Stellschrauben unter anderem am Pflegesystem gedreht werden, damit eben ein Angebot erschaffen wird, das es den Familien möglich macht, diese besondere Art der Betreuung weiterhin in Anspruch nehmen zu können, aber nicht zu den aktuellen Bedingungen.
Noll: Einschätzung waren das von Justyna Oblacewicz vom Projekt für Faire Mobilität vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Besten Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
Oblacewicz: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.