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Pflegereform
Gleiche Leistungen für psychisch und körperlich Kranke

2017 tritt ein neues Bewertungssystem für die 2,8 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland in Kraft. Dabei wird Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen der gleiche Leistungsanspruch eingeräumt wie Menschen mit körperlichen Leiden. "Das ist wirklich eine Wende in der Pflegepolitik", meint Klemens Kindermann, Leiter der DLF-Wirtschaftsredaktion.

Klemens Kindermann im Gespräch mit Günter Hetzke | 27.12.2016
    Eine Pflegerinn begleitet am 12.02.2015 in Hamburg eine Bewohnerin eines Seniorenwohnheims mit ihrer Gehhilfe (Rollator).
    "In erster Linie brauchen wir sehr viel mehr Personal und sehr viel mehr Nachwuchs in den Pflegeberufen", sagte Klemens Kindermann aus der DLF-Wirtschaftsredaktion. (picture-alliance / dpa / Christian Charisius)
    Günter Hetzke: Der 1. Januar ist ein ganz wichtiges Datum für alle Familien, die sich um Pflegebedürftige kümmern, denn: 2017 tritt ein neues Bewertungssystem für die 2,8 Millionen Pflegebedürftigen in Kraft. An der Universität Münster haben sich Forscher mit den ethischen Aspekten der Pflegepolitik beschäftigt. Darüber wollen wir gleich sprechen und dazu begrüße ich meinen Kollegen Klemens Kindermann im Studio. Zunächst vielleicht noch einmal: Was ändert sich jetzt für die Pflegebedürftigen?
    Klemens Kindermann: Insgesamt kann man sagen: Das Leistungsangebot für Pflegebedürftige und Angehörige wird mit dieser zweiten Stufe des Pflegestärkungsgesetzes II ausgebaut. Kern der Neuregelung ist ein neuer Begriff der Pflegebedürftigkeit: Der berücksichtigt mehr den Grad der Selbstständigkeit des Betroffenen und nicht mehr so sehr den Zeitaufwand für die Hilfe. Also das berühmte Abrechnen nach Minuten. Um diese neue Beurteilung besser abbilden zu können, werden die bisher drei Pflegestufen auf fünf sogenannte Pflegegrade ausgeweitet.
    Ganz wichtig, und das ist wirklich eine Wende in der Pflegepolitik: Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und schwindender geistiger Kraft wie Demenzkranken wird Anspruch auf die gleichen Leistungen eingeräumt wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen.
    Ebenfalls ganz wichtig der Hinweis für unsere Hörer: Weder Angehörige noch die Betroffenen selbst müssen sich Sorgen machen. Nach dem 1. Januar soll niemand schlechter gestellt werden als bisher. Es gilt auf jeden Fall Bestandsschutz.
    "Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sollten Anfang 2017 einen Antrag stellen"
    Hetzke: Müssen Pflegebedürftige oder deren Angehörige denn jetzt zum Januar konkret etwas tun, müssen sie sich bei der Pflegekasse melden?
    Kindermann: Nein, das müssen sie nicht. Wer heute Leistungen bezieht, muss keinen neuen Antrag stellen. Die Überleitung wird automatisch vorgenommen. Darüber gibt es einen Bescheid. Sollte jemand bis heute, 27. Dezember, noch keinen entsprechenden Bescheid bekommen haben und in dieser letzten Woche des Jahres auch keinen bekommen, nur in diesem Fall sollte man sich bei der Pflegekasse melden.
    Hetzke: Wer könnte jetzt im Januar einen Antrag neu stellen?
    Kindermann: Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen wie Demenzkranke oder ihre Angehörigen, die sollten jetzt gleich Anfang des neuen Jahres einen Antrag stellen. Denn die könnten dann in den Pflegegrad 1 kommen, auch wenn der Unterstützungsbedarf vielleicht noch nicht ganz so groß ist. Es wird damit gerechnet, dass alleine nächstes Jahr rund 200.000 Bedürftige erstmals Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten.
    "Je älter wir als Gesellschaft werden, desto mehr Pflege für den Einzelnen"
    Hetzke: Was bedeutet denn diese Pflegereform jetzt – sind damit die Weichen für die alternde Gesellschaft in Deutschland gestellt?
    Kindermann: Ich wage mal die Prognose, dass das nicht die letzte Reform der Pflegeversicherung sein wird. An der Universität Münster hat das Institut für Christliche Sozialwissenschaften jetzt einen sehr guten Sammelband veröffentlicht, in dem die Herausforderungen für die Pflege der Zukunft benannt werden. Eine ganz zentrale Schwierigkeit wird das zunehmende Lebensalter der Pflegebedürftigen sein. Denn dadurch steigt der Pflegeaufwand pro Person erheblich.
    Jetzt zitiere ich aktuelle Zahlen aus dem Band: Beläuft sich die Pflegequote der 75- bis unter 85-Jährigen noch auf knapp 14 Prozent, steigt sie bei den 85- bis unter 90-Jährigen auf fast 40 Prozent und bei den über 90-Jährigen auf fast 65 Prozent. Also: Je älter wir als Gesellschaft werden, desto mehr Pflege für den Einzelnen und dann auch in der Gesamtheit ist nötig. Eingangs, Herr Hetzke, nannten Sie ja bereits die Zahl: Gegenwärtig haben wir 2,8 Millionen Pflegebedürftige. Für das Jahr 2050 wird mit 4,5 Millionen gerechnet.
    "Wir brauchen sehr viel mehr Nachwuchs in den Pflegeberufen"
    Hetzke: Welche Probleme kommen in der Pflege in den nächsten Jahren auf uns zu?
    Kindermann: In erster Linie brauchen wir sehr viel mehr Personal. Vor allem auch examiniertes. Und sehr viel mehr Nachwuchs in den Pflegeberufen. Die Pflegekräfte müssen oft hohe psycho-soziale Belastungen aushalten und sie altern selber ja auch. Und es gibt noch ganz viele andere Probleme. Um ein Beispiel zu nennen, das der Sammelband aus Münster beschreibt: die Arbeitsverhältnisse von Pflegekräften aus Mittel- und Osteuropa, die in der Wohnung des Pflegebedürftigen mitwohnen.
    Das sind 24-Stunden-Jobs, wo sich ganz viele Fragen stellen, zum Beispiel die nach den Arbeitszeiten. Oder überhaupt nach der Vertragsgrundlage: Viele werden von Vermittlungsagenturen als "Selbstständige" geschickt, aber wenn man bedenkt, dass sie keine anderen Aufträge annehmen können, die Arbeitsmittel gestellt kriegen, nach Weisung von Angehörigen arbeiten und die Arbeitszeit nicht frei wählen können, dann ist das eine abhängige Beschäftigung und keine Selbstständigkeit. Mit den entsprechenden arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Also im Bereich Pflege gibt es in den nächsten Jahren noch viel zu regeln.