Donnerstag, 28. März 2024

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Phasen der Coronakrise
"Das Virus eint alle, vor dem Virus sind alle gleich"

In der Coronakrise leisten alle den gleichen Verzicht, sagte Psychologe Stephan Grünewald im Dlf. Das führe einerseits zu großer Solidarität, andererseits zur Sehnsucht, aus diesem Gleichheitsprinzip wieder auszuscheren. Bei Maßnahmenlockerungen müsse man aufpassen, dass keine Rivalitäten erwachsen.

Stephan Grünewald im Gespräch mit Christiane Florin | 09.04.2020
Kunden eines Baumarktes stehen vor dem Eingang mit Abstand in einer Schlange. Zur Eindämmung des Coronavirus hat NRW alle Ansammlungen ab drei Personen in der Öffentlichkeit verboten.
"Die große Chance der Polarisierungs- oder der Zweifelsphase ist ja, dass wir jetzt neue sinnvolle Lösungen finden", sagte Grünewald im Dlf. (dpa/ Bernd Thissen)
"Deutschland auf der Couch" heißt das bekannteste Buch von Stephan Grünewald. Er ist Psychologe, Marktforscher und gehört dem Corona-Expertenrat des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet an. Den bisherigen Verlauf der Krise hat er kürzlich in einem Krisen-Newsletter analysiert. Er schreibt von einer Phase der Ohnmacht angesichts einer Bedrohung, dann folgte eine Phase der Aktivität, das heißt, es wurden Entscheidungen getroffen, um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren. Und jetzt, ausgerechnet an Ostern, sieht er die Phase der Zweifler gekommen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird bald bröckeln, sagt er voraus.

Christiane Florin: Warum bröckelt der Zusammenhalt?
Stephan Grünewald: Wir sind ja gemeinsam jetzt lange Zeit durch die Krise gegangen, und die Menschen haben erlebt, dass angesichts dieser unsichtbaren Bedrohung es ganz, ganz wichtig ist, einen Schulterschluss zwischen Politik, Medien und Bürgern zu vollziehen. Alle waren bereit, Verzicht zu leisten, ihren Alltag runterzuschrauben, und alle haben gemerkt, dass die Politik in so eine Bremsspirale geraten ist. Es wurde Tag für Tag erlebt, wie neue Beschränkungen und Restriktionen ausgesprochen worden sind. Das haben die Menschen aber bereitwillig mitgetragen, weil das ein Weg aus dieser Ohnmacht war. Man hatte das Gefühl, man kann irgendwas machen, um dem Virus zu begegnen.
Diese Entwicklung ist aber vor knapp drei Wochen zum Erliegen gekommen sozusagen, neue Restriktionen waren nicht mehr notwendig und auch eigentlich nicht mehr sinnvoll und möglich. Dadurch waren die Menschen wieder mit dieser Ohnmacht konfrontiert. Es galt jetzt auszuhalten, diese soziale Fastenzeit zu durchleben. Dieser Zustand führt natürlich zu größeren Spannungen, das ist jetzt so der Zustand – die Zeit der Zweifler, die Zeit der Polarisierungen. Das heißt, viele Menschen erheben jetzt ihre Stimme und fragen sich, ist das überhaupt angemessen, was wir machen, die Gefahr wächst, dass alte Polarisierungen und neue Polarisierungen aufbrechen – Wirtschaft versus Gesundheit, Jung versus Alt, Krisengewinner gegen Krisenverlierer, Staatsgläubige gegen Freiheitsapostel.
"... wieder ins Licht und farbige Leben einsteigen"
Florin: Sie sprechen von sozialer Fastenzeit. Die christliche Fastenzeit währt bekanntermaßen 40 Tage – von Aschermittwoch bis Ostern –, aber dieses Kontaktverbot, also das, was Sie als das Aushaltenmüssen beschrieben haben, das währt ja noch keine 40 Tage. Woher die Ungeduld?
Grünewald: Die Ungeduld ist jetzt noch gar nicht da, es sind jetzt erste Zweifel spürbar. Ich glaube, dass die Ungeduld nach diesen 40 Tagen wachsen wird. Das hängt natürlich auch mit der Ostersymbolik zusammen: Ostern ist das Fest der Wiederauferstehung, und viele Menschen haben die Hoffnung, dass sie danach auch sozusagen die Gruft verlassen können, dass sie wieder ins Licht und farbige Leben einsteigen müssen.
Coronavirus
Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Florin: Sie haben vorhin von den Polarisierungen gesprochen und einige Gruppen beschrieben – Virologen versus Wirtschaft, Freiheitsliebende versus Autoritätsgläubige, Junge versus Alte, Krisengewinnler versus Krisenverlierer. Kann es nicht sein, dass man durch diese Beschreibung die Polarisierung erst erzeugt, vor der man warnt?
Grünewald: Die Alternative wäre, die Dinge, die man als Psychologe in Titelinterviews beobachtet, nicht zu beschreiben und nicht zu benennen. Diese Debatte bezieht sich ja nicht auf Gruppierungen, sondern wir sind ja im Moment auch in sinnvollen Fragen: Wie viel Gesundheitseindämmung ist notwendig und sinnvoll, wie können wir letztendlich gleichzeitig die Wirtschaft wieder in Gang bringen, was müssen wir tun an Alltagsöffnungen, damit die Menschen nicht in einen seelischen Alltagskollaps geraten. Die große Chance der Polarisierungs- oder der Zweifelsphase ist ja, dass wir jetzt neue sinnvolle Lösungen finden, dass wir nicht mehr dieses kollektive, restriktive Momentum wie mit einem Rasenmäher fahren, sondern, dass wir jetzt dezidierte, differenzierte und sehr kluge Maßnahmen finden, die gleichzeitig der Gesundheit und der Eindämmung des Virus nutzen, die aber schrittweise wieder das gesellschaftliche Leben eröffnen.
Derzeit haben die Menschen vier Ängste
Florin: Wie denn, wie lässt sich diese Polarisierung verhindern, und wie lässt sich das gesellschaftliche Leben wieder öffnen, ohne zu viel zu riskieren?
Grünewald: Das ist ja unter anderem auch die Aufgabe des Expertenrats, dass man im Grunde genommen unterschiedliche Perspektiven aufeinander bezieht, und wir erleben im Moment, dass die Menschen unterschiedliche Ängste haben. Die Hauptangst ist sicherlich die Angst vor Erkrankung, gleichzeitig wächst aber auch die Angst vor einer wirtschaftlichen Rezession, vor dem persönlichen Bankrott. Die dritte Angst: Wie lange halte ich meinen Alltag aus, wann droht der Alltagskollaps. Und eine vierte Angst: Wie einig bleibt und ist die Gesellschaft, geraten wir nicht auf lange Sicht wieder in die alten Muster, in die alten Risse und Spaltungen rein. All das muss natürlich gemonitort und klug moderiert werden.
Ein Gitarrist steht auf einem Balkon in Mailand, Italien, und spielt für seine Nachbarschaft.
Corona-Pandemie - Soziologe: Solidarität verändert keine Strukturen
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer beobachtet in der Coronakrise viel Gesellschaftsromantik. Die Hoffnung, dass Solidarität zu weitreichenden Neuentwicklungen in der gesamten Gesellschaft führe, sei aber naiv und problematisch, sagte er im Dlf. In einem kapitalistischen Staat sei das kaum möglich.
Florin: Zum Beispiel jetzt Sie als Psychologe, was ist da Ihr Rat?
Grünewald: Ein ganz wichtiger Rat ist – Menschen haben das Gefühl, angesichts der Bedrohung sind Unterschiede gar nicht mehr so wichtig. Das Virus eint alle, vor dem Virus sind alle gleich, und wir leisten im Moment auch alle den gleichen Verzicht, da gibt es kaum Ausnahmen. Das führt einerseits zu einer großen Solidarität, andererseits ist es zwar eine Sehnsucht, dass wir aus diesem Gleichheitsprinzip wieder ausscheren, aber es muss dann ganz klug vermittelt werden, warum die eine Gruppierung, die andere Gruppierung Freiheiten genießen kann, die die andere noch nicht da hat. Sonst läuft die Gesellschaft Gefahr, dass aus dieser großen Solidarität, die wir erleben, dass da neue Rivalitäten, neue Eifersüchteleien erwachsen. Von daher: Öffnung schrittweise mit Maß ist wichtig, aber sie muss klug kommuniziert werden, dass jeder weiß, dass das gut für das Ganze ist.
"Es ist wichtig, in der Krise den Schulterschluss zu pflegen"
Florin: Aber meinen Sie, wenn zum Beispiel die Schulen wieder geöffnet werden sollten – das ist ja immer so eine ganz besondere Baustelle, die Schulen –, meinen Sie, das empfinden andere als ein Übermaß an Freiheit, dass die Kinder oder Jugendlichen wieder zur Schule gehen dürfen, dass die Lehrerinnen und Lehrer wieder zur Arbeit gehen dürfen oder müssen?
Grünewald: Nein, ich glaube, beim Thema Schule sind sich alle einig, wenn das aus gesundheitlicher Perspektive geboten ist, dass das ein ganz wichtiger Schritt ist, um die Familien zu entlasten, um die Pflegeberufe sozusagen auch wieder in ihrer Arbeit zu stützen, dass die Kinder wieder eine feste Struktur, einen Alltagsrahmen haben. Die Frage ist eher, welche Branchen, welche Art von Läden dürfen jetzt wieder aufmachen. Da muss natürlich klug kommuniziert werden, warum zum Beispiel der Friseurladen schon aufmachen kann, aber der andere Laden nicht.
Florin: Armin Laschet, der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, in dessen Corona-Rat Sie ja sitzen, wird am Sonntagabend, am Ostersonntagabend zu seinen Bürgerinnen und Bürgern sprechen. Haben Sie ihm zu diesem hoheitlichen oder landesväterlichen Gestus geraten?
Grünewald: Nicht explizit. Ich finde es aber sinnvoll, und – das ist sicherlich auch Meinung des Expertenrates – es ist gerade wichtig, in der Krise den Schulterschluss zu pflegen. Wir erleben im Moment doch eine sehr große fast Demut, eine sehr große Akzeptanz gegenüber der Politik. Die Politiker wurden lange Zeit als entrückt, abgehoben, als unnahbar erlebt. Jetzt merken die Menschen, wir sind in einer Schicksalsgemeinschaft, und die Politiker versuchen wirklich, obwohl es keine klaren Direktiven gibt, wichtige Entscheidungen zu treffen. Viele Menschen sind froh, dass sie diese Verantwortung nicht tragen müssen, und die Menschen sehnen sich nach Zuspruch, weil sie ja gerade Verzicht leisten. Es ist von daher ermutigend, wenn der Landesvater sich an die Bürger wendet und sich für das bisherige Engagement bedankt, aber auch dezente Perspektiven eröffnet, wie das Leben in der Zukunft nach Ostern schrittweise weitergehen kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.