Donnerstag, 18. April 2024

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phil.cologne
Philosophie streitet über politische Fragen

Was ist Gerechtigkeit? Was ist die Kehrseite des Kapitalismus? Sind offene Grenzen wirklich eine gute Idee? Die lebhaften Diskussionen auf der fünften phil.cologne haben gezeigt, dass es sich die Philosophie nicht nehmen lässt, auch über aktuelle politische Themen zu streiten.

12.06.2017
    Der Literaturwissenschschaftler Christoph Jamme und der Philosoph und Autor Richard David Precht im Gespräch auf der Philcologne 2017.
    Heftige Wortgefechte waren auch in diesem Jahr typisch für die phil.cologne. Hier diskutieren der Literaturwissenschschaftler Christoph Jamme und der Philosoph und Autor Richard David Precht (imago )
    "Wenn die Welt ein Dorf von hundert Einwohnern wäre, hätten 1820 94 Bewohner in extremer Armut gelebt. Heute leben gerade noch zehn in extremer Armut."

    Der Wirtschaftsjournalist Rainer Hank erzählt eine Geschichte. Es ist die klassische Erzählung vom Fortschritt, ermöglicht durch Kapitalismus. Der Soziologe Stephan Lessenich hält eine andere Geschichte dagegen:

    "Antibiotikaproduktion in Indien. Hyderabad. Draußen, außerhalb dieser sauberen Produktionsstätte für Antibiotika herrschen quasi apokalyptische Zustände. "

    Es ist die Geschichte vom Preis unseres Wohlstands, den Menschen in anderen Teilen der Welt bezahlen. "Was kostet der Kapitalismus?", diese Frage bildete die Überschrift der Diskussion. Und die konträren Ansichten prallten mitunter recht lautstark aufeinander.
    Philosophie als Orientierungshilfe in einer krisengeschüttelten Zeit
    Heftige Wortgefechte waren auch in diesem Jahr typisch für die phil.cologne, die sich in ihrem Programm immer wieder mit politischen Themen beschäftigt hat. Svenja Flaßpöhler ist Redakteurin für Philosophie beim Deutschlandfunk Kultur und Mitveranstalterin der phil.cologne. Sie sagt:
    "Das liegt natürlich vor allem an dieser enorm krisengeschüttelten Zeit. Und die Philosophie ist natürlich die Disziplin, die versucht, innerhalb dieser Orientierungslosigkeit wieder Orientierung zu geben, und zwar jenseits von vorgefertigten Meinungen und Positionen, sondern tatsächlich zu versuchen auch, ja möglicherweise dann eben im ganz dialektisch, im schönsten Sinne den anderen vom genauen Gegenteil zu überzeugen."
    Heftige Wortgefechte über Migration und Integration
    Zum Beispiel beim Thema Migration und Integration. "Offene Grenzen – eine gute Idee?" Die Frage diskutierten zwei sehr unterschiedliche Philosophen. Zum einen Julian Nida-Rümelin, Professor an der Ludwig-Maximillians-Universität München und ehemaliger Kulturstaatsminister. Dem arrivierten Intellektuellen gegenüber saß Andreas Cassee von der Universität Bern, frisch promoviert, mit Pferdeschwanz und lockerem Sprachgestus:

    "Was ich finde, als Linker, ist, zu sagen: Hey, es gibt verschiedene Arten von ungerechten Privilegien, die Leute haben können. Ein ungerechtes Privileg ist, dass Leute Kapital erben und dann deshalb ein besseres Leben haben, weil sie geerbt haben. Ne andere Form von ebenso ungerechter Privilegierung ist, mit der richtigen Staatsangehörigkeit geboren zu sein, n massiv besseres Leben zu führen, weil man da irgendwie n Privileg geerbt hat."

    Weshalb Cassee für ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit plädiert. Nida-Rümelin sieht das anders. Auch er könne sich unter idealen Bedingungen eine Welt ohne Grenzen gut vorstellen:
    "Ich sage nur: Vorsicht. Wir haben gegenwärtig eine Phase, in der die Staatlichkeit ohnehin sehr labil und fragil geworden ist. Eine Öffnung der Grenzen unter diesen Bedingungen würde Staatlichkeit als Ganzes zerstören und Sozialstaatlichkeit speziell. Was waren denn die Zielländer der Migration Ende 2015? Österreich, Deutschland, Schweden. Das heißt, drei Länder, die eine relativ anständige Integrationspolitik betreiben, die einen relativ ausgebauten Sozialstaat haben. Wie lange, glauben Sie wohl, würde bei offenen Grenzen diese Sozialstaatlichkeit dieser Länder überleben?"
    Liebe, Gott, Konsum: Schüler diskutieren mit Philosophen
    Szenenwechsel. In einem Konferenzraum des Comedia-Theaters in der Kölner Südstadt sitzen fünfzehn Schüler einer Abiturklasse. "Klasse denken", so heißt das Jugendprogramm der phil.cologne, bei dem Schüler mit Philosophen über Themen wie Liebe, Gott oder das Böse diskutieren. Oder über Konsum und Identität. Der Publizist Robert Misik ist für die Veranstaltung von Wien angereist. Mit jungen Menschen über diese Themen zu diskutieren, sei für ihn besonders ergiebig, sagt er:

    "Ich mag das auch deswegen weil, seien wir uns ehrlich: bei Veranstaltungen dieser Art, wer kommt denn? Sagen wir mal, das linksliberale, urbane...fast Theaterpublikum, ja? Das hat natürlich schon eine bestimmte Routine und so weiter und so fort. Schulklassen sind da ganz anders, weil sie zumindest die Routine nicht haben. Da sind bestimmte Dinge noch nicht so in festen Bahnen."

    Aber vielleicht hat auch der ein oder andere erwachsene Besucher seine festen Bahnen in der vergangenen Woche verlassen. Anlass dazu gab es zumindest auf der phil.cologne reichlich.