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Philharmonie Moskau
Die "Andere Dimension" des Wladimir Jurowski

"Andere Dimension" heißt ein Festival in der Moskauer Philharmonie, ein fünftägiger Marathon aus Konzerten, Diskussionen und Vorträgen rund um die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Der Name ist Programm in einem Land, das zunehmend von politischem Einzelgängertum und kultureller Abschottung geprägt ist. Das Forum endet - was ist nun anders?

Von Anastassia Boutsko | 07.11.2016
    Ein schwarzhaariger Mann in schwarz/weiß gestreiftem Hemd hält einen Taktstock in der rechten Hand.
    Möchte eine "andere kulturelle Realität" schaffen: Der russische Dirgent Wladimir Jurowski während einer Probe. (picture alliance / dpa / Sergey Pyatakov)
    Wenn es so etwas wie einen Komponistenhimmel gibt, dann hat Karlheinz Stockhausen an diesem Sonnabend, dem 5. November, einen besonders guten Tag: Schon an der U-Bahn-Station Majakowskaja im Herzen Moskaus fragt man nach einer Karte, das Konzert in der Philharmonie ist restlos ausverkauft. Auf dem Programm des Abends: Symphonie für acht Stimmen und Orchester von Luciano Berio und – "Gruppen" von Karlheinz Stockhausen. Das ikonenhafte, avantgardistische Werk, vor mehr als einem halben Jahrhundert vollendet, erlebt seine Russland-Premiere – und ganz Moskau will dabei sein.
    "Man will dieses Werk einmal live hören! Denn sonst kennt man es nur von Aufnahmen. Ja, die "Gruppen" hätte hier vor 60 Jahren erklingen müssen. Aber lieber spät, als nie!"
    "Drugoje Prostranstvo" – was sich mit "Andere Dimension” oder auch "Andere Realität" übersetzen lässt, ist ein fünftägiger Marathon aus Konzerten, Diskussionen und Vorträgen rund um die Musik des 20. und 21.Jahrhunderts. Für viele in Moskau ist es vor allem das "Jurowski-Festival”.
    Russische Musikgeschichte endet bei Debussy
    Wladimir Jurowski, Spross einer Dirigentendynastie in dritter Generation, übernahm vor fünf Jahren das amtliche "Hauptorchester” Russlands – das Staatlich-Akademische "Swetlanow”-Orchester der Moskauer Philharmonie - ohne sich dabei von seinem Job als Chef des London Philharmonic Orchestra und seinem Berliner Wohnsitz zu trennen. Seitdem ist er dabei, fehlende Querverbindungen zwischen der russischen Musikkultur, die auch 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs weitgehend autark bleibt, und dem Rest der Welt wiederherzustellen. Denn in den Lehrbüchern russischer Schulen endet die Musikgeschichte immer noch bei Debussy.
    "Das ist ein Missstand, den muss man berichtigen. Wir können nicht ins 21. Jahrhundert hinein, musikalisch gesehen, ohne die Lehren aus dem 20. Jahrhundert gezogen zu haben."
    Mit seinen klug zusammengestellten Programmen, vor allem aber mit Charme und Charisma, erlang Jurowski Kultstatus bei Alt – und vor allem bei Jung. Man folgt einfach gern einer starken Persönlichkeit, nicht nur in Russland. Zwischen Probe und Konzert in der Philharmonie hält Maestro Jurowski Hof im hauseigenen Restaurant "Tschaikowski":
    "Ich habe das seltsame Gefühl, dass das Publikum trotz der Missstände im Land offener für Neues geworden ist, als es je war. Die Krise, auch die Vertrauenskrise gegenüber der Regierung, die totale Spaltung der Gesellschaft seit einigen Jahren, führt dazu, dass Menschen, die nicht vom Brot alleine leben, sondern eben auch geistige Nahrung brauchen, sich zu Hause mit ihrem Laptop verbarrikadieren. Oder sie kommen in solche Konzertveranstaltungen!"
    Junge Komponisten gut vernetzt
    Letzteres gilt auch für die jüngere Generation russicher Komponisten: die sind extreme gut informiert, international vernetzt und kaum gefordert von der offiziellen russischen Kultur. Mit Alexander Hubeev, Nikolaj Popov, Anton Safronov oder Oleg Pajberdind holte "Drugoje Prtostranstvo” wenigstens einige ans Tageslicht.
    "Um die Situation mit einem Wort zu beschreiben: Das ist Hunger!", analysiert der Komponist Vladimir Tarnopolski, der am Moskauer Konservatorium das Studio für Neue Musik leitet, die soziale Großwetterlage. Denn wir existieren im Spannungsfeld verlogener Quasi-Kulturen, ob es die Pop-Kultur ist oder eben die offizielle Kultur, die Ideologie, die von oben kommt. Das ist eine ziemlich widersprüchliche Situation: Einerseits haben wir hier zwar keine Diktatur, sondern ein, sagen wir mal, ziemlich autoritäres Regime. Andererseits: Die junge Generation ist regelrecht infiziert von der Suche nach Freiheit!"
    Moskau strotzt von Bespassungs-Angeboten
    Fünf ausverkaufte Abende mit zeitgenössischer Musik. Und das in Moskau, das nur so strotzt von Bespassungs-Angeboten jeglicher Couleur. Ein Wunder? Eher ein soziales Phänomen, bestätigt Wladimir Jurowski:
    "Das gibt mir Anlass zu denken, dass sich hier gerade eine Art geistiger Revolution vollzieht. Etwas geht hier vor sich. Vielleicht ist es eine apokalyptische Vorahnung der nächsten Jahre, die ja extrem unklar sind im Sinne: wohin geht das Land, wie wird sich die gegenwärtige Situation verändern? Das weiß kein Mensch. Und gerade jetzt ist es so wichtig, die vitalen Kräfte der Gesellschaft beisammen zu halten."
    2017 übernimmt Wladimir Jurowski das Rundfunk-Sinfonie Orchester Berlin und hat versprochen, viel unbekannte russische Musik aufzuführen. Ob er noch länger in Moskau Chef bleibt, steht auf einem anderen Blatt. Schön wäre es.