Dienstag, 23. April 2024

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Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert

In seinem berühmten Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" schreibt Walter Benjamin, dass sich mit der Geschichte der menschlichen Gesellschaften auch die "Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung" nachhaltig verändere. Ausgehend von den Neuerungen in Photographie und Film setzte Benjamin damit für Medientheorie und -geschichte einen hohen Maßstab. Bernd Stiegler nimmt diesen Anspruch mit seiner intermedialen Studie Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert sehr ernst. Mit der Photographie, so seine These, verändert sich im 19. Jahrhundert nicht nur die Wahrnehmung bestimmter Gegenstände, sondern auch die Selbstwahrnehmung des Menschen. Bernd Stiegler rückt die Photographie daher ins Zentrum einer umfassenden Diskursanalyse, die von medizinischen und physikalischen Diskursen, über allgemeine ästhetische und kunstpolitische Debatten bis in die Strukturen der literarischen Produktion hinein reicht. Ihm geht es darum,

Johann Hartle | 20.05.2002
    die Photographie oder genauer gesagt: das Sprechen über die Photographie irnniei auch als Sprechen über den menschlichen Blick zu interpretieren [...] In diesem Sinne stellt sich die Photographie in der Tat als eine Art Reflexionsmedium dar - im doppelten Sinne, dass es nicht nur reflektiert, sondern dass es eben auch eine Reflexion über den Blick beinhaltet.

    Seine Analyse des photographischen Diskurses des 19. Jahrhunderts benennt dabei drei Phasen und Übergänge. Zunächst beeindruckt die Photographie durch Wirklichkeitsnähe, gilt als objektive Wiedergabe der Welt, bevor dann die Konstruktionsleistung des sehenden Subjekts ins Zentrum tritt. Zuletzt wird die Stärke der Photographie darin begriffen, gerade das zu fixieren, was dem menschlichen Auge allein nicht zugänglich ist. So verschiebt sich der Akzent des photographischen Diskurses

    von einer vermeintlich objektiven Perspektive hin zum subjektiven Sehen und am Ende eben auch zu einer Dimension, die man als Photographie des Unsichtbaren oder Wahrnehmung des Unsichtbaren bezeichnen könnte, die jeweils mit eingeschlossen werden in die Beschreibungen, die von der Photographie gegeben werden.

    Röntgenstrahlen und Momentphotographie lassen die Kamera als das bessere Auge erscheinen, dem verborgene Sphären zugänglich sind. Der Photoapparat ist ein Faszinosum ersten Ranges. Im ästhetischen Feld zieht die Faszination für das photographische Sehen weite Kreise nicht nur der visuellen Künstler in den Bann, sondern bestimmt zunehmend auch die literarische Produktion. Während ein visuelles Paradigma durch die Photographie dominant wird, werden auch Texte und literarische Formen gleichsam photographisch. Es zählt zu den Hauptverdiensten Bernd Stieglers zu zeigen, wie Texte, etwa die Guy de Maupassants, Adalbert Stifters, Emile Zolas und vieler anderer ein Neues Sehen aufgreifen und erzeugen. In zahlreichen Exkursen und Analysen zeigt der Autor auf, wie sich der Blick des Schriftstellers dem des Photographen und wie sich die Rede über Literatur der Rede über die mechanische Reproduktion der visuellen Welt angleicht.

    Das enge Verhältnis von Literatur und Photographie im 19. Jahrhundert zeigt sich auch in einzelnen Lebensgeschichten. Stieglers Diskursgeschichte ist zusammengesetzt aus vielen Einzelgeschichten. Durch eine besonders markante Biographie tritt der schwedische Autor August Strindberg hervor, der auch und vor allem im Bereich der Photographie mit großer Experimentierfreude tätig war. Naturwissenschaftlich-technische und ästhetische Experimente vermischen sich im jenes Schriftstellers, der sogar einmal als Photograph seinen Unterhalt verdienen wollte. Für Bernd Stiegler zählt Strindberg aus einer Vielzahl von Gründen zu den Pionieren der Photographie und des photographischen Diskurses seiner Zeit:

    Er hat da eine ganze Reihe von Versuchen unternommen, wie beispielsweise kristallo-graphische Photographien oder auch seine berühmten Celestographien - das sind photographische Platten, die er einfach dem Sternenhimmel ausgesetzt hat - und auf denen er plötzlich so kleine kristalline oder astrale Figurenkonstellationen vorfand, die er eben als Abbildungen des Sternenhimmels interpretierte, und zur gleichen Zeit dann auch damit zeigen wollte, dass eine Photographie ohne Kamera in dem Fall möglich sei - das ist also eine Antizipation der revolutionären Techniken, die später erst bei Moholy-Nagy oder anderen Theoretikern und großen Photographen in der Avantgarde in den 20er und 30er Jahren eingesetzt wurden - eben ohne Kamera, die ihm jetzt dazu dienten, eine bestimmte spirituelle Dimension in der Photographie deutlich zu machen.

    Nicht nur Strindberg versucht an der neuartig dokumentierbaren Oberfläche der Welt Geheimnisse über ihr Wesen abzulesen. Metaphysische, magische und spiritistische Lesarten der Photographie prägen ihren Diskurs nachhaltig. Was im 19. Jahrhundert durchaus ernst gemeint ist - wenn der Photographie eine Schlüsselfunktion dabei zugeschrieben wird, die Pforte zum Übersinnlichen aufzustoßen, die Zeit still zu stellen und die Toten aufzuwecken -hat darüber hinaus noch eine andere Bedeutung. Stiegler hebt mit Blick auf die spiritistische Deutung der Photographie hervor,

    dass die spiritistische Photographie im 19. Jahrhundert im Bereich der Metaphorik zentral ist. Im Bereich der Metaphorik zentral heißt, dass die Metaphern der spiritistischen Photographie auch in den anderen Diskursen plötzlich erscheinen. D.h. beispielsweise, wenn es darum geht, dass die Photographie Todeskunst ist und nicht nur Todeskunst ist, sondern Überlebenskunst, d.h. dass die Photographie ein totes Bild kommuniziert, das Bild eines Toten kommuniziert oder ein Toter plötzlich im Bild erscheint, dann ist es das, was metaphorisch gesprochen für den kompletten photographischen Diskurs des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus - man denke an Roland Barthes, der über die Photographie mit seiner toten Mutter kommuniziert, die plötzlich material im Bild wieder aufersteht, und auch in der Erinnerung wieder aufersteht - seine Konsequenzen hat.

    Noch im 20. Jahrhundert ist die Theorie der Photographie bei jenem Roland Barthes aber auch bei Susan Sontag oder Vilem Flusser von magischen oder spiritistischen Metaphern durchzogen - Metaphern, die im 19. Jahrhundert einmal buchstäblich gemeint waren. Indem Stiegler diese und andere Wurzeln der prominenten Photographie aufzeigt, ist sein Buch auch eine Urgeschichte der Photographietheorie des 20. Jahrhunderts. Gleichsam intertextuell stellt er die Voraussetzungen noch der heutigen Rede über Photographie zusammen.

    Neben spiritistischen Sprechweisen zählen vor allem nüchterne Sehweisen, eine strukturelle Wahrnehmung lebendiger Oberflächen zu den fortdauernden Aspekten des Photogra-phiediskurses. Zunächst als reines Handwerk verbannt, wird die Photographie zunehmend zur kanonischen Kunst und ihre Art der Wirklichkeitsbeschreibung zur dominanten ästhetischen Strategie. Der Skandal des Realismus in Malerei und Literatur, der photographische Sehweisen selbstbewußt adaptierte, wird zum guten Ton und das photographische Sehen im ästhetischen Feld gleichsam hegemonial. Stieglers Thesen lassen eine durchaus neue Sicht auf den gesamten ästhetischen Diskurs seit dem 19. Jahrhundert entstehen, indem sie diese Übergänge plastisch und umfangreich heraus arbeiten. Es selbst charakterisiert die Herausforderung der Photographie für bildende Kunst und Literatur seit dem 19. Jahrhundert folgendermaßen:

    Ich denke, dass man die Photographie als Herausforderung für den ästhetischen Diskurs im 19. Jahrhundert insgesamt ansehen muß und das in doppelter Hinsicht. Auf der einen Seite deshalb, weil die Photographie eine neue Profilierung des Mimesis-Konzepts erforderlich macht - was heißt Wiedergabe, was heißt Darstellung, wie kann Wirklichkeit wiedergegeben werden? - wenn wir es zu tun haben mit so einem Medium, das offenbar oder vermeintlich Wirklichkeit so objektiv wiedergeben kann, wie sie eben ist. Auf der zweiten Seite, auch mit der Profilierung dieser neuen subjektiven Form von Wahrnehmung, einer Reflexion auf der einen Seite über den Betrachter aber auch über die Gegenstände, die eine neue Bedeutung gewinnen. [...] der Blick tastete die Dinge ab und die Oberfläche, die Kategorie der Oberfläche, die ästhetische Bedeutung der Oberfläche wurde nun zentral. [./] Das, was vorher in die Tiefe verbannt war, fand man plötzlich auf der Oberfläche wieder. Und das sind Phänomene, die dann bis weit in das 20. Jahrhundert hinein reichen.

    Was im photographischen Diskurs beginnt - die Fokussierung von Oberflächen - wird für den gesamten poetologischen Diskurs entscheidend. Die Photographie ist die beispielhafte Kunst für eine neue nüchterne und strukturelle Betrachtung der Welt. Strukturbeziehungen der visuellen Oberflächen werden zum Zentralthema nicht nur der photographischen Avantgarde.

    Die Folgewirkungen des Neuen Sehens der Photographie für die Kunstproduktion des zwanzigsten Jahrhunderts lassen sich leicht benennen. Karl Blossfeldt zählt für Bernd Stiegler zu seinen Protagonisten:

    Man kann beispielsweise beobachten, dass die Photographien von Blossfeldt von Pflanzenaufnahmen ihr Korrelat finden in architektonischen Projekten der gleichen Zeit, was nichts anderes bedeutet, als dass zwischen der künstlerischen Produktion und der natürlichen Welt ein Pendant hergestellt werden kann, also zwischen der belebten und der unbelebten Welt wird plötzlich eine Korrespondenz hergestellt.

    Wie Bernd Stiegler dieses Neue Sehen einer reflexiven Betrachtung zugänglich macht, so erscheint seine "Philologie des Auges" insgesamt als eine gestochen scharfe Photographie der Photographie, als eine hervorragende Reflexion ihrer gesamtkulturellen Bedeutung. Und wie die mediale Revolution der Bildmedien ihrer Natur nach irreversibel ist, so sollte auch das Nachdenken und Schreiben über die Photographie nicht mehr hinter das philologische und theoretische Niveau dieser Studie zurückgehen.