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"Philomena"
Gelungene Gefühlsachterbahn

Stephen Frear erzählt die Geschichte einer Mutter, der in einem irischen Kloster das Kind weggenommen wurde. 50 Jahre später sucht sie ihr Kind. Der Film ist nicht nur berührend, sondern nimmt den Begriff Tragikomödie sehr ernst. "Philomena" ist voller tiefgründiger Stellen, die gleichermaßen lustig wie traurig sind.

Von Hartwig Tegeler | 26.02.2014
    Die Schauspieler Steve Coogan (l-r) als Martin Sixsmith, Judi Dench als Philomena und Anna Maxwell Martin als Jane in einer Szene aus "Philomena"
    Die Schauspieler Steve Coogan (l-r) als Martin Sixsmith, Judi Dench als Philomena und Anna Maxwell Martin als Jane in einer Szene aus "Philomena" (picture alliance / dpa)
    Philomena, Anfang 70, hat ihren Sohn verloren, vor 50 Jahren. Martin, einst Auslandskorrespondent bei der BBC, hat gerade seinen Job als Berater in der Regierung von Tony Blair verloren, aber als ihn Philomenas Tochter anspricht, ob er nicht an einer interessanten Geschichte interessiert sei. Nein und nochmals nein, meint Martin:
    "Wovon Sie da reden, das wäre eine sogenannte Human-Interest-Story. So was, so was schreibe ich nicht!"
    Doch dann lässt sich der Zyniker zu einem Treffen mit der netten wie nervenden alten Dame herab, die unlängst eine neue Hüfte bekommen hat:
    "Sie ist viel besser als der Knochen, den ich vorher hatte. - Mmmh! - Sie ist aus Titan, Martin, kann also nicht rosten. - Ah, das ist gut, sonst müsste man sie auch ölen, wie den Blechmann. - Das war nur ein Scherz, Mom! - Oh! - Ja, ja, das war nur ein Scherz."
    Stephen Frears braucht nur wenige Federstriche zu Beginn seines Films "Philomena", um eine ganz unmögliche Beziehung zwischen einem arroganten Kotzbrocken und einer recht naiven alten Dame zu entwerfen. Ein Buddy-Movie der etwas anderen Art, meint Stephan Frears.
    Auf der einen Seite die Tragödie, auf der anderen die Witze. Komödie und Tragödie zur gleichen Zeit. Das fand ich interessant, meint Stephen Frears, weil unter all dem diese grausame Geschichte lauert, die 50 Jahre zuvor passierte.
    Vor 50 Jahren in Irland. Philomena wird schwanger, unehelich. Ihre Familie verstößt sie und steckt sie in ein Kloster.
    "Um die Ordensschwester dafür zu bezahlen, dass sie einen aufnahmen, musste man arbeiten."
    Vier Jahre Zwangsaufenthalt inklusive Zwangsarbeit. Ein Leben voller Grausamkeit und Gewalt.
    "Wir durften unsere Kinder eine Stunde am Tag sehen. Mehr nicht."
    Dann wird Anthony, Philomenas Sohn, …
    "Wissen Sie, ich habe ihn geliebt."
    … zur Adaption freigegeben. Genauer: für 1000 Dollar an ein kinderloses, amerikanisches Ehepaar verkauft. Das ist der Unterton der Tragödie, von der Stephen Frears spricht, der, der dem ganzen Film unterlegt ist. Und die komischen Momente konterkariert, wenn sich Martin und Philomena 50 Jahre später auf die Suche nach Philomenas Sohn begeben. Von London in die USA und zurück nach Irland, zu dem Kloster, wo Anthony geboren und dann Philomena weggenommen wurde. Und wo merkwürdigerweise alle Unterlagen über den Kindesverkauf einem Feuer zum Opfer gefallen sind. Auch, wenn die neue Äbtissin einen anderen Ton anzuschlagen scheint als die Ordensschwestern damals, …
    "Also ich befürchte, ich habe keine Neuigkeiten bezüglich Anthony."
    … trotzdem wird hier diese Art von Religion sichtbar als Lügengebilde - Opium für das Volk -, das die Interessen der Nonnen verschleiert und ebenso ihre Schuld, Philomena und den anderen Frauen solch Grässliches angetan zu haben.
    "Verfluchte Katholiken ... Entschuldigung!"
    Zynismus, der den Zuschauer wütend macht
    Martin glüht vor Wut - wir ebenso -, wenn wir anhören müssen, wie die junge Klosterleiterin Philomenas Leid, das 50 Jahre lang währte, salbungsvoll wegwischt:
    "Ich will nur wissen, ob es ihm gut geht. - Philomena, wir können Ihnen Ihren Schmerz nicht nehmen. Aber wir können Sie hindurch begleiten. Hand in Hand."
    Der Zynismus liegt darin, dass die katholischen Nonnen zu diesem Zeitpunkt sehr genau wissen, was aus Anthony geworden ist. Und mit weiteren Lügen versuchen, alles zu vertuschen.
    Peter Mullan, der britische Schauspieler und Regisseur, hat vor 13 Jahren von der Gewalt erzählt, die jungen irischen Frauen in den katholischen sogenannten Magdalenheimen angetan wurde. Das letzte dieser Heime wurde erst 1996 geschlossen. Mullans Film "Die unbarmherzigen Schwestern" beruht auf wahren Ereignissen. Wie bei Peter Mullan sind auch die Nonnen in "Philomena" 'unbarmherzige Schwestern'. Und auch Stephen Frears Geschichte geht zurück auf einen realen Fall, den der Philomena Lee, die ein Buch über ihr Leben geschrieben hat. Peter Mullans Film ist wütend, "Philomena" hingegen von einer, man könnte sagen, einer gnädigen Wut.
    An der Intensität beider Filme ändert dies nichts; der eine wirkt gegenüber dem anderen nicht schwächer. Doch mit den ungleichen - in ihrer Unterschiedlichkeit eben auch komischen - Gefährten Martin und Philomena, dem Agnostiker und der Gläubigen, kann Frears Zorn und Vergebung als zwei Pole präsentieren, sie verteilen und damit quasi zur Diskussion stellen. Zorn, Wut? Oder Vergebung? Philomena vergibt der grausamen Kirche und ihren Funktionärinnen. Martin bleibt wütend. Und damit stellt sich am Ende dieses großartigen Films "Philomena" eine grundsätzliche, eine ethische wie philosophische Frage: Wie kann eine Frau, der das Kind weggenommen wurde, die solch ein Schicksal erlitten hat, solch ein Grauen, wie kann, wie soll sie mit all dem am Ende damit umgehen? Natürlich kann ein Film, der sich und seine Figuren ernst nimmt, auf diese Frage keine einfache Antwort geben.