Freitag, 29. März 2024

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Philosoph über Gier
Wenn das Falsche zu wichtig ist

Geiz sei eine übersteigerte Sehnsucht nach Dingen, die man besitzen kann, sagte der christliche Anthropologen Gerhard Kruip im Dlf - und damit zerstörerisch. Der Nutzen werde dabei überschätzt, denn die Bereitschaft, etwas abzugeben, könne das eigene Wohl viel mehr befördern.

Gerhard Kruip im Gespräch mit Michael Köhler | 25.12.2019
Leonardo DiCaprio steht neben einer US-Flagge auf einem Schiff und hält einen Drink hoch
Sinnbild für Gier - Leonardo di Caprio als gieriger und größenwahnsinniger Börsenmakler in "The Wolf of Wall Street". Sozialethiker Gerhard Kruip glaubt: Geben ist schöner als Nehmen. (dpa / picture alliance / Mary Cybulski - Universal)
Michael Köhler: Was ist Geiz? Eine Form der übersteigerten Bindung an eigenen Besitz mit der Voraussetzung, ihn verdammt noch mal eben nicht teilen zu wollen oder ihn anderen zu verweigern? Wie würden Sie Geiz jemand erklären, der sagt, was ist das für ein komisches deutsches Wort, was ist das?
Gerhard Kruip: Na ja, im Grunde haben Sie es erklärt. Geiz ist eben die übersteigerte Sehnsucht nach Dingen, die man besitzen kann, die man für sich benutzen kann, meistens verbunden mit der Weigerung, das zu teilen mit anderen. Allerdings wird dabei häufig der Nutzen, den das eigentlich hat, überschätzt oder falsch eingeschätzt, denn viele Menschen, die geizig sind oder gierig sind, die haben eben ein übersteigertes Begehren nach diesen Dingen und fragen sich gar nicht wirklich, tut ihnen das gut, hilft ihnen das weiter, fühlen sie sich dadurch wirklich besser. Insofern ist es eine Fehlform der Sehnsucht nach Erfüllung oder Glück.
Köhler: Wenn man sich die Comics mit Dagobert Duck anguckt, dann lernt man schnell, Geiz macht unbeliebt, macht streckenweise vielleicht sogar auch krank. Ich sprechen mit Ihnen als Anthropologe, als christlichem Anthropologen und Philosophen. Geiz ist immer auch ein Stück weit gottlos, weil er uneinfühlsam, hartherzig macht?
Kruip: Ja, er macht hartherzig, und es findet eine Verkehrung des richtigen Verhältnisses statt, denn das, was eigentlich ein Ding ist, eine Sache ist, die Menschen gemacht haben, bekommt göttliche Qualitäten, wird überhöht zu etwas Heiligem und deswegen besonders Erstrebenswertem. Während das, was eigentlich das Heilige ist, das Göttliche ist, das wir in der menschlichen Begegnung finden, dann vernachlässigt wird.
Der Sozialethiker Gerhard Kruip
Der Sozialethiker Gerhard Kruip (dpa / picture alliance / Oliver Berg)
Entdecken, worauf es im Leben wirklich ankommt
Köhler: Als ich hörte, dass ich mit Ihnen verabredet bin zu so einem Gespräch, musste ich spontan an eine der beliebten Geschichten aus dem Neuen Testament denken, die in der Kirche, beim Kindergottesdienst oder im Kindergarten oft gelesen werden. Das ist natürlich die Geschichte vom Zöllner Zachäus, der auf einem Baum sitzt, einsam, will Jesus sehen, er ist irgendwie kleinwüchsig, und Jesus kehrt dann bei ihm ein. Und da passiert was Interessantes: Er wendet sich ihm zu. Und plötzlich wird aus diesem ungeliebten Zöllner, aus dem Kleinen wird ein Großer, und aus dem Gierigen wird ein Gerechter. Das heißt, es gibt aber immer auch die Chance zur Umkehr?
Kruip: Ja, es gibt immer die Chance zur Umkehr, wenn man entdeckt, worauf es eigentlich im Leben ankommt: Nicht darauf, besonders viel zu haben, besonders viel zu besitzen, sondern das, was uns eigentlich im Leben trägt, sind erfüllende Beziehungen zu anderen Menschen, sind die Zuwendungen, die wir von anderen Menschen bekommen. Und das ist ja genau das, was in dieser Geschichte mit dem Zöllner passiert ist: Jesus wendet sich ihm zu, und das ist eine so beglückende Erfahrung, dass auf einmal alles andere an Wert verliert.
Geiz - eine zerstörerische Eigenschaft
Köhler: Der Geizige kann auch komisch sein, das wissen wir – es gibt eine Komödie von Molière, die so heißt. Ich erinnere mich an die 70er-Jahre, da gab es ein Modebuch, kennen Sie auch noch, Erich Fromm "Haben oder Sein". Damit kommen wir so ein bisschen zum politischen Glutkern unseres Gespräch, nämlich Geiz oder Gier, englisch greed, ist natürlich auch der Antrieb auch der Finanzkrise vielleicht gewesen. Sie haben selber mal gesagt, Geiz ist geil, mit der Finanzkrise kam so was in die Welt wie die Erlaubnis oder die Lizenz, Gier vielleicht gut zu finden. Dabei ist das eine zerstörerische Eigenschaft, oder?
Kruip: Ja, das ist eine zerstörerische Eigenschaft. Unser Wirtschaftssystem muss ja deshalb auch unter bestimmte Rahmenbedingungen gestellt werden, damit eben diese Antriebskraft der Gier oder des Geizes sich nicht zerstörerisch auf das gesamte Wirtschaftsleben auswirkt. Grundsätzlich ist es ja schon so, dass unsere Marktwirtschaft darauf angewiesen ist, dass die Marktteilnehmer rational handeln, also schon ihren Nutzen maximieren wollen, aber der Nutzen besteht eben nicht nur im Ständig-mehr-haben-Wollen, sondern es geht auch um das rechte Maß. Man optimiert seinen Nutzen, indem man das Gesetz von den abnehmenden Grenzkosten ernst nimmt und sich klar macht, immer noch mehr bringt eigentlich nicht immer mehr Nutzen. Insofern ist dieses Bild vom Homo oeconomicus dann nicht verkehrt, wenn man sich dahinter einen klugen Menschen vorstellt, der eben nicht immer nur noch mehr will, sondern der tatsächlich seinen wohlverstandenen Nutzen optimieren möchte.
Wenn das Falsche zu wichtig ist
Köhler: Gier ist eine merkwürdige Sache. Ich glaube, der Gierige weiß von sich selber gar nicht, dass er gierig ist, womit ich sagen will, das ist eine Form der sozialen Zuschreibung. Ich glaube, es würde nicht schwerfallen, dass ich Sie gierig nenne, wenn Sie vielleicht beim Essen ein bisschen schnell essen. Oder wenn mir der Wein besonders gut schmeckt und ich ein bisschen zu schnell und zu viel trinke, würden Sie vielleicht sagen, sei doch nicht so gierig. Also will sagen: Der Gierige empfindet sich selber gar nicht als gierig, das ist eine Form der sozialen Zuschreibung und auch des Maßes, was als legitim empfunden wird und was nicht. Oder sehen Sie es anders?
Kruip: Ich glaube, dass beides zusammenkommt. Es ist natürlich eine Form der sozialen Zuschreibung. Wahrscheinlich werden unterschiedliche Verhaltensweisen in unterschiedlichen Kontexten oder Kulturen auch unterschiedlich bewertet. Ich habe sehr viele Bücher zu Hause, das mögen andere vielleicht auch als Gier interpretieren. Aber es muss schon auch irgendwie was dahinterstecken, nämlich den Eindruck, den man von Menschen hat, dass ihnen sozusagen das Falsche zu wichtig ist, dass sie sich an Dinge hängen, die eigentlich nur eine relative Bedeutung haben. Ich glaube, dafür muss es schon auch in der Person selber, die man als gierig bezeichnet, einen Anhaltspunkt geben, sonst funktioniert auch die Zuschreibung nicht.
Kritische Haltung gegenüber der Werbung entwickeln
Köhler: Das Falsche ist ihnen zu wichtig, sagen Sie. Gier ist eine Form auch des übertriebenen Begehrens – meine Mutter hätte gesagt, das verdirbt den Charakter. Ist es auch eine Form vielleicht des Unbeherrschtseins, des Unersättlichseins, also Form der Disziplinlosigkeit? Kinder werden ja ermahnt, sei nicht so gierig bei Tisch oder benimm dich. Ist es eine Form, wo der Mensch vielleicht ein bisschen aus der Form gerät?
Kruip: Ich glaube, man kann das so beschreiben. Deswegen ist es auch so wichtig, dass man Prozesse in Gang setzt, in denen Menschen dann über sich nachdenken, versuchen, aus Erfahrungen zu lernen, klug zu werden. Die Erfahrung sagt uns ja tatsächlich, dass dieses Übertreiben des Habenwollens letzten Endes eben nicht dazu führt, dass man sich besser fühlt, sondern dass man eher sozial isoliert wird, dass man vereinsamt, dass das, was man hat, einem dann gar nicht mehr so viel gibt. Und in dem Zusammenhang müssen wir insbesondere natürlich auch eine kritische Haltung gegenüber der Werbung ausbilden. Die Werbung setzt ja darauf, unsere Gier anzustacheln, aber ich glaube, wir sind in der Lage, uns dagegen auch zu wehren und die Werbung kritisch zu betrachten, uns frei zu machen von diesen Versuchungen, die ja genau darin bestehen, immer wieder etwas zu verkaufen und das dann mit etwas zu verbinden, was sich gar nicht durch Kauf erwerben lässt – wie eben zum Beispiel menschliche Zuwendung.
Wenn aus Gier soziale Ungleichheit entsteht
Köhler: Wir haben zu Beginn schon erwähnt die soziale Dimension. Die Gier ist ein Stück weit gewissenlos, sie ist ein Stück weit unsozial, ich weiß, dass Sie sich sehr auch für Fragen der lateinamerikanischen Bevölkerung oder der Staaten interessieren, wir haben gerade große Unruhen, Proteste gewaltbereiter Demonstranten auch in Chile und Bolivien. Wenn die Gier auf der einen Seite zu groß wird und das Leiden auf der anderen Seite ebenfalls, dann treibt es die Menschen zu gewaltsamem Protest. Das heißt, die Gier erzeugt irgendwann auch mal Unruhe, wenn sie nicht im Zaum gehalten wird.
Kruip: Ja, vor allen dann, wenn sie als ungerecht erscheint, also wenn das, was Menschen sich aneignen, auf Kosten anderer Menschen geht. Wenn es zu extremen Ungleichheiten kommt, die mit Fairness und Chancengerechtigkeit nichts mehr zu tun haben, dann empören sich Menschen und wollen sozusagen von dem Kuchen, den sich die einen fast ganz angeeignet haben, auch etwas ab haben. Insofern sind die Demonstranten, die ihr Recht einfordern, nicht die Gierigen, sondern die Gierigen sind in der Regel die, gegen die sich die Demonstranten richten, weil sie der Meinung sind, dass hier soziale Ungleichheit entstanden ist, die so nicht mehr zu rechtfertigen ist. Soziale Ungleichheit setzt ja voraus, dass es irgendeine Rechtfertigung dafür gibt, zum Beispiel dadurch, dass eben einige Menschen vielleicht mehr leisten als andere und dann deswegen auch mehr verdienen können sollen. Aber grundsätzlich haben wir ja so die Tendenz, zu sagen, wir streben eher Gleichheit an, und wir streben vor allen Dingen auch Chancengerechtigkeit an, dass eben Menschen aus unteren Schichten auch im Leben die gleichen Chancen bekommen sollen wie Menschen, die vom Elternhaus her besser ausgestattet sind. Das ist ja dann auch genau der Punkt, der in Chile so viel Empörung hervorruft, weil das Bildungssystem auch so ungerecht ist und es so teuer ist, die eigenen Kinder mit guter Bildung zu versorgen.
Geschenke als Ausdruck der Zuwendung verstehen
Köhler: Eine herzergreifende Geschichte ist nicht nur zu Weihnachten die von Ebenezer Scrooge aus der Weihnachtsgeschichte, Sie kennen es vielleicht, wie dann dem vereinsamten, alten, gierigen Mann sozusagen das Gewissen peinigt und er am Ende dann doch freigiebig wird. Vielleicht liegt der gute Sinn der Gier darin, zu zeigen, dass sie eben einsam macht, und wir haben begonnen damit zu sagen, hartherzig, und ihr Gegenteil eigentlich erstrebenswert ist, oder?
Kruip: Ja, das Gegenteil wäre ja die Mildtätigkeit, die Bereitschaft, etwas abzugeben, zu teilen, und Menschen, die sich dazu bereit finden, machen eigentlich die Erfahrung, dass tatsächlich Geben schöner ist als Nehmen. Man fühlt sich gut, wenn man etwas Gutes tut. Das ist auch durchaus nicht zu verurteilen oder nicht zu kritisieren, sondern das ist eben eine positive Ausstattung des Menschen, die sicher auch mit seiner soziobiologischen Evolutionsgeschichte zu tun hat, dass wir eigentlich unser eigenes Wohl nicht nur dadurch befördern, dass wir immer nur an uns denken, sondern dass wir eben auch an andere denken, dass wir auf andere zugehen, dass wir mit anderen teilen. Nicht um die reich zu machen eigentlich, sondern um eben eine gute menschliche Beziehung zu entwickeln und uns wechselseitig anzuerkennen. Wenn wir zum Beispiel an die Geschichte von den drei Weisen im Morgenland denken aus der Weihnachtserzählung, die bringen ja dem Jesuskind Weihrauch, Gold und Myrrhe als Geschenke, aber es wird nicht berichtet, dass Maria und Josef diese Gaben dann verkauft haben, um irgendwie ein tolles Leben zu führen. Die sind eben nicht dazu da, das Jesuskind und seine Familie reich zu machen, sie sind Ausdruck von Anerkennung und Wertschätzung. Und ich glaube, dass wir von der Gier, gerade auch an Weihnachten, wegkommen, wenn wir unsere Geschenke eben so verstehen: nicht um uns und andere reicher zu machen, sondern um unsere Beziehungen zu verbessern, unseren wechselseitigen Zuwendungen einen Ausdruck zu geben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.