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Philosophie des Subjekts

Dieter Henrich, Assistent bei Hans-Georg Gadamer, aber im Gegensatz zu diesem und dessen Lehrer Martin Heidegger ein erklärter Verteidiger des Subjekts, lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Heute ist er 81-jährig einer der großen Alten der Zunft. In seinem neuen Buch "Denken und Selbstsein" bemüht er sich um eine Erweiterung seiner Konzeption einer Philosophie des Subjekts.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 31.03.2008
    Ist der Mensch frei? Die berühmten Libet-Experimente in der Hirnforschung führen vor, dass der Entscheidung, den Arm zu bewegen, die Bewegung des Armes vorausgeht, das Gehirn die Bewegung sozusagen nur noch absegnet. Daraus schließt Libet, dass der menschliche Wille nicht frei ist, sondern dass der Mensch in determinierten Umständen lebt, die ihm keinen Spielraum für freie Entscheidungen lassen.

    Von vielen Sozial- und Geisteswissenschaftlern wurde dem widersprochen. Jetzt erhalten sie zusätzliche Unterstützung von Dieter Henrich, dessen neues Buch Denken und Selbstsein in einer Verteidigung der Freiheit kulminiert, was nicht verwundert, wenn man ihn sagen hört:

    "Ich finde, dass jeder Philosoph, der etwas von Gewicht lehrt und mitteilt, eine innere Orientierung hat, eine philosophische Orientierung, an der er sich misst. Dafür kommen ja nur sehr wenige wirklich große Philosophen in Frage. Für mich ist diese Orientierung Kant, für Heidegger ist sie Aristoteles gewesen, für meinen Lehrer Gadamer Platon. Noch eine weitere Orientierungsposition nimmt für mich Max Weber ein, das heißt ich bemühe mich nichts zu sagen, von dem ich nicht denken könnte, dass es, wenn ich mich bemühe, es plausibel zu machen, die Billigung dieser Personen finden könnte."

    Kant tritt für die Freiheit des Menschen ein, sich moralisch und nicht unmoralisch verhalten zu können. Max Weber fordert vom führenden Politiker ein verantwortliches Handelns, das heißt wer die Befugnis zur Entscheidung hat, also eine Art Freiheit besitzt, muss dafür auch die Verantwortung übernehmen. Aber Dieter Henrich orientiert sich an Kant und Max Weber nicht nur weil sie die menschliche Freiheit schätzen, sondern weil beide Vertreter einer Philosophie des Subjekts beziehungsweise der Subjektivität sind, Henrichs lebenswährendes großes Thema. Damit stand Henrich lange Jahrzehnte weitgehend im Abseits der großen philosophischen Debatten. Henrich bemerkt:

    "In einer philosophischen Situation, in der eigentlich alle einflussreichen Positionen, von der Vergangenheit dieser Fragestellung, von dem Obsoletsein dieses Nachdenkens ausgingen, vom Marxismus bis zum Heideggerianismus gab es nur Streit, aber einen Konsens: die Subjekt-Philosophie ist tot. Ich hatte mir also die Aufgabe gestellt - aber nicht deshalb, sondern weil ich meine, dass es ein zentrales Thema ist, diesem Thema zu neuem Leben zu verhelfen."

    Wie aber kann man die Freiheit aus dem Subjekt ableiten? Das erscheint zunächst einfach. Denn das Subjekt stellt die Grundlage und die Grenze jeglicher Erkenntnis und des Handelns dar. Der Mensch erkennt nur soweit, wie er dazu Anlagen besitzt, einen Wahrnehmungsapparat beispielsweise. Das Subjekt wurde von Descartes der Neuzeit in die Wiege gelegt. Kant erhob es zur Grundlage seines Philosophierens und Fichte verabsolutierte es schließlich. Es avanciert dadurch zu jener mächtigen Gestalt, die mittels Naturwissenschaft und Technik die Natur endlich nach Belieben beherrschen möchte. Haben indes die Kritiker des Subjekts - allen voran Nietzsche und Heidegger -, die darin eine illusionäre Vorstellung von Freiheit erblicken und das Subjekt daher verabschieden wollen, deshalb nicht recht?

    Henrich seinerseits möchte das Subjekt nicht als absolut, sondern als endlich begreifen, als eine Bedingung des Menschseins, wie sie jedes Individuum prägt und nicht nur eine allgemeine abstrakte Grundlage für Wissenschaft, Technik oder Ethik:

    "Die Art von Subjektphilosophie, die ich entfalte, unterscheidet sich von den Positionen, dass alles Erkennen und Handeln seinen Ursprung und seine Grenzen nicht etwa in der äußerlichen Natur hat, sondern vom Menschen selbst bedingt wird, dadurch, dass sie die Tiefe der Endlichkeit, auch der eigentlichen Unbegreiflichkeit der Subjektivität immer auch verdeutlicht. Subjekte sind per definitionem endlich."

    Aber steht damit die Freiheit eines Subjekts nicht eher in Frage, das sich selbst gar nicht recht durchschaut? Henrichs neues Buch skizziert zunächst das Subjekt als eine anthropologische Bestimmung. Das Subjekt tritt in seiner Endlichkeit der Umwelt entgegen, von der als Ganzes es sich ein Weltbild macht. Zwar weiß es darum, dass es selbst dieses Weltbild erzeugt und bestimmt sich selbst in Abgrenzung zur umgebenden Welt. Doch daraus ergibt sich indes keine Abkapselung von der Welt. Vielmehr entsteht ob der Subjektivität ein Zwang der Zuordnung zur äußeren Welt. Steht damit nicht die Freiheit ein weiteres Mal in Frage? Allemal handelt es sich um eine schwierige Suche nach der eigenen Identität, die das Subjekt nach Dieter Henrich zu leisten hat:
    "Weshalb ich nämlich der Meinung bin, dass der Mensch unausgesetzt in einem Prozess begriffen ist, sich selbst zu positionieren und also von Selbstzweifeln getrieben und von einer Suite von sich eröffnenden Perspektiven beängstigt und zugleich inspiriert. Das würde ich sagen ist Teil der menschlichen Existenz."

    Im Hauptteil des Buches fragt Henrich danach, wie sich der Mensch in der Welt situiert, wie er sich selbst versteht. Dieter Henrich grenzt sich dabei vom großen französischen Existentialisten Albert Camus ab, für den der Sinn der Existenz nicht anders als aussichtslos beziehungsweise absurd erscheinen kann. Zwar erweisen sich die letzten Gründe der Existenz auch für Henrich als dunkel. Doch in der Ethik wie im Miteinanderleben der Menschen eröffnen sich Perspektiven, die nach Henrich darüber hinaus weisen:

    "Aber ich behaupte ja, dass die Selbstverständigung des Lebens letztlich nicht durch demonstrable Gründe erfolgt, sondern durch Evidenzen anderer Art und ich biete im Gang dieser Vorlesungen auch einige Evidenzen auf. Eine davon ist das sittliche Bewusstsein, dann also das, was ich das wesentliche Mitsein nenne, also Erfahrungen, in der Tiefe gelingenden Miteinanderseins, die durch die Instabilität des Lebens und seine Hinfälligkeit nicht dementiert werden, die wir aber deuten müssen. Und das dritte ist die Freiheit."

    Wie ist das möglich? Erfährt im Mitsein mit anderen Menschen das Individuum nicht seine Grenzen und erheblich weniger seine Freiheit! Folgt dann Henrich Kant, bei dem die Moral den Menschen von seinen egoistischen Neigungen befreit, die Sinnlichkeit des Individuums aber keine tragende Rolle mehr spielt? Nein, Henrich beunruhigte immer schon die gängige Alternative, dass Moral entweder eine Anlage des Subjekts sei oder sich aus den vorgegebenen Sitten und Gebräuchen herleiten würde. Für Henrich dagegen dient die Moral zur individuellen Selbstvergewisserung im Alltag. Damit will Henrich die kantische Perspektive mit der existentialistischen verbinden, die gerade bei Jean-Paul Sartre in die Freiheit mündet. Wie ist das nach den Libet-Experimenten in der Neurologie noch möglich, wenn eine vermeintliche Entscheidung doch immer schon vorbestimmt erscheint? Darauf antwortet Dieter Henrich:

    "Dem gegenüber entwickle ich das Argument, dass Freiheit niemals in einzelnen Wahlakten, sich so oder zu entscheiden, bestehen kann, sondern dass, wenn man Freiheit sucht, man suchen muss in der Entwicklung einer Grundeinstellung. Das ist ein Prozess, der sich auf der Ebene Knopfdrücken oder Nichtknopfdrücken gar nicht thematisieren lässt. Und die Frage ist nicht, ob er sich überhaupt durch solche Experimente erreichen lässt, sondern eine Frage an die Neurologen, welche Experimente sie denn da vorschlagen würden, die die gleiche Evidenz haben. Also ich manövriere den Freiheitssinn weg von der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Handlung hier und jetzt, zu der Freiheit, einen Lebensentwurf zu akzeptieren und ihm zu folgen."

    Freiheit ist für Henrich nicht die willkürliche augenblickliche Entscheidung, sozusagen ein Entschluss, für den man keinen Grund angeben könnte. Nein, alles auf der Welt hat seine Ursache. Insofern überraschen die Libet-Experimente nicht. Aber seine Subjektivität ermöglicht dem Menschen für Henrich ähnlich wie für Sartre, sein Leben zu wählen, zu entwerfen und dann diesem Entwurf zu folgen. Diese Verfolgung läuft dann nach Gründen ab. Aber die Wahlmöglichkeit liegt für Henrich in der Struktur der Subjektivität, was sich für Sartre in der immer gegebenen Möglichkeit der Auflehnung gegenüber der Umwelt zeigte. Man darf in der Tat gespannt sein, mit welcher Experimentanordnung die Neurologen Henrichs These versuchen werden zu widerlegen!


    Dieter Henrich, Denken und Selbstsein - Vorlesungen über Subjektivität,
    Suhrkamp Verlag, gebunden,