Freitag, 29. März 2024

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Philosophieren beim Gehen
Spaziergang im Hamburger Haynspark

Aristoteles war dafür bekannt, dass er im Gehen dachte und lehrte. In Zeiten von Corona mag es umso wichtiger sein, bei einem Frühlingsspaziergang den Kopf freizukriegen. Um dann umso gestärkter in die Abgeschiedenheit - an den heimischen Schreibtisch - zurückzukehren.

Von Ursula Menzer | 03.05.2020
Im Haynspark an der Alster
Im Haynspark an der Alster (Hafen-Fotos.de)
Meine einsamen Spaziergänge führen mich frühmorgens in den kleinen Haynspark in der Nähe meiner Wohnung. In den Bäumen, nahezu unsichtbar, zwitschern die Vögel, laut, fast schrill, wie mit einem Megaphon.
Morgens um sieben oder acht Uhr ist der Park weitgehend leer. Nur ein paar Radfahrer und Jogger sind unterwegs. Kein Problem also, Abstand zu halten - ich bin nicht zu größeren Ausweichbewegungen genötigt. Entspanntes Gehen. Fuß vor Fuß, abrollen, Ferse auf den Boden, abrollen. So gehe ich - so gehen Menschen schon immer, kommt es mir in den Sinn.
Gelöst aus der Sicherheit
Schauen wir zurück auf unsere Geschichte, auf die Jahrmillionen der Entwicklung des Homo sapiens, schauen wir auf seine evolutionäre Grundausstattung und auf sein Verhalten, so wird offensichtlich: Menschen sind Lebewesen, die laufen. Fuß vor Fuß, abrollen, Ferse auf den Boden, abrollen. Laufen, gehen. Und sich umsehen und die Umgebung betrachten.
Gelöst aus der Sicherheit der vier Beine auf dem Boden, richten sich Menschen auf, indem sie vorwärts stürzen, sich abfangen, stürzen, sich abfangen und allmählich den aufrechten Gang finden und in einer anmutig kontrollierten Balance durchs Leben gehen. In der Geschichte der Menschheit als auch in der Geschichte eines jeden Einzelnen. Kopf hoch, Kopf nach oben, mythisch und planetarisch und erkenntnisstrebend den Kopf dem Kosmos, den Göttern, dem Himmel des Wissens entgegen. Mit den Füßen unten auf dem Boden.
Eurphorisierendes Grün
Wege winden sich durch Rasenflächen, am Ufer des Alsterflusses entlang oder um den baumbestandenen Mühlenteich herum. Der inzwischen schon milde Wind fährt in die Baumkronen, sie schwanken. Im Gebüsch treibt spitzes Grün hervor - Lindgrün, Gelbgrün, Grellgrün -, das uns jedes Frühjahr euphorisiert. Pulsiert es nicht das archaische Bewußtsein unseres zyklischen Seins?
Im Sommer werden an einigen Ecken das Parks dichte Felder orangefarbener Taglilien erglühen. Aber das ist noch einige Monate hin. Wie werden wir bis dahin den aktuellen Ausnahmezustand bewältigen?
Der historische Alsterdampfer "St. Georg" auf der Alster am Hayns Park in Hamburg
Der historische Alsterdampfer "St. Georg" auf der Alster am Hayns Park in Hamburg (Christian Charisius / dpa)
Menschen sind Tiere, die laufen
Von ihrem Ursprungsort, der sogenannten Wiege der Menschheit, die Forscher in Ostafrika, an den Rändern des Regenwaldes vermuten, nahmen einige von ihnen einst Abschied, zogen unerschrocken und neugierig los ins Unbekannte, ins Offene; durchquerten, durchstreiften die menschenleere Welt, pausierten da und dort, blieben oder zogen weiter. Sie scheiterten an unvorstellbaren Hindernissen oder sie überwanden sie:
Gebirge, Flüsse, Meere, Wälder, Klimazonen, Krankheiten. Völlig unberührte Natur. Keine Straßen, Brücken, Wegweiser, Parkstrukturen, Wanderpfade, Erste-Hilfe-Stationen. Alles andere als ein Spaziergang. Menschen sind Tiere, die laufen. Sie laufen unglaublich viel und weit. Aber nicht nur. Sie siedeln auch, wenn ihnen die Umgebung Schutz bietet, wenn sich etwas eröffnet, das sie ernährt oder spirituell belebt. Sie imaginieren ihre Vorstellungen und Wünsche, bringen ihre Zeichnungen auf den Wänden der Höhlen an. Sie laufen wilden Tieren hinterher, sie jagen und hetzen sie, um sie zu ermüden und schließlich zu erlegen. Sie erfinden das Feuer und kochen. Sie verbessern ihre Ernährung und steigern ihre kognitiven Fähigkeiten.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
In Sitzlandschaften träge geworden
Seit Millionen von Jahren hat sich der Bewegungs-Charakter der Menschen, anthropologisch gesehen, wenig verändert. Nach wie vor laufen und gehen sie. Obwohl sie in den Städten, mit Berufen auf Sitzen und Freizeit in Sesseln und Sitzlandschaften träger geworden sind. Zum Ausgleich erfinden sie Sport. Und wenn sie nicht kraulend oder joggend durch die Gegend zirkulieren, so gehen sie doch immerhin spazieren.
In eigens dafür eingerichteten Arealen, in sogenannten Parks, erinnern sie sich in lichten Momenten an ihre ferne Herkunft: an die Savanne mit ihren weiten Grasflächen, kleinen Hügeln, mit Baumgruppen, Wasserstellen. Eine klassische Projektion, die ihnen Wohlgefühl bereitet und sie geistig erfrischt. Sie nennen es Spazierengehen.
Rückkehr in die fast lautose Schreib-Quarantäne
Mein Spaziergangs-Park - ein gestuftes und leicht gewelltes Gelände - war im 19. Jahrhundert in Privatbesitz. Anfang der 1930er Jahre wurde er als Volkspark der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Hochgemauerte Uferbefestigungen mit Balustraden, Pavillon und Natursteinmauern, auf deren Abdeckung mächtige Steinkugeln ruhen, sowie breite Treppen hinunter zum Wasser verleihen dem Park einen besonderen Charme.
Wenn ich meine Runden gedreht, meine größeren oder kleineren Umwege gegangen bin, sitze ich gerne einige Zeit auf der unteren Stufe. Das Wasser schlägt an die steinerne Plattform. Ich höre den streitenden Enten zu, den Blesshühnern, die piepsen und vorwärtsrudernd mit dem Kopf nicken. Die Vögel in den Bäumen sind inzwischen ruhiger, fast still geworden. Dann kehre ich in meine Wohnung zurück, an meinen Schreibtisch, in meine abgeschirmte, fast lautlose Schreib-Quarantäne.