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Philosophin Natalie Knapp
Von der Kraft des Umbruchs

Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit sind wertvoll - das findet die Philosophin Natalie Knapp. In Ihrem Buch "Der unendliche Augenblick" legt sie dar, wie Übergänge kreative Freiräume schaffen, in denen alte Regeln nicht mehr gelten und neue noch nicht da sind - und wieso das nicht nur im privaten, sondern auch für die Gesellschaft wichtig ist.

Von Matthias Eckoldt | 28.09.2015
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    "So, wie es sich für mich im Augenblick darstellt, sehe ich keine Möglichkeit, wie diese Logik des Wachstums und des Immer-mehr-Verbrauchens einhergehen soll mit der Zahl der Menschen, die im Augenblick auf diesem Planeten leben", schreibt Natalie Knapp. (Daniel Bockwoldt, dpa)
    "Der unendliche Augenblick" ist eines jener wenigen Bücher, die genau zur rechten Zeit erscheinen. In einer Gegenwart nämlich, in der die großen Krisen immer greifbarer werden und es der Konsumideologie der reichen westlichen Welt immer weniger gelingt, sie zu kaschieren. Die Klimakatastrophe schickt bereits ihre Vorboten in Form von Wetterkapriolen, die ökonomische Krise kündigt sich durch Instabilitäten auf den überhitzten Märkten und durch Bankrotte ganzer Volkswirtschaften an, und die politische Krise zeigt sich in der Ratlosigkeit, die aus Bomben- und Drohneneinsätzen als einzigem Mittel gegen das Vorrücken des sogenannten Islamischen Staates spricht. Die Philosophin Natalie Knapp beschäftigt sich in ihrem Buch jedoch erst im zweiten Schritt mit diesen spektakulären Phänomenen. Zuerst setzt sie bei Krisenerfahrungen in natürlichen und individualgeschichtlichen Prozessen an und legt ihr Augenmerk dabei auf die Übergänge:
    "Übergänge sind kreative Freiräume, die stets Erneuerungen mit sich bringen. Es sind Phasen, in denen das Leben ein Vielfaches seiner üblichen Kraft entfaltet und mit besonderer Intensität spürbar wird."
    Natalie Knapp findet solche Übergänge in den Regionen zwischen Wald und Feld, aber auch bei der Geburt, der Pubertät oder der Trauer über den Verlust eines nahen Menschen - sei es durch Trennung oder Tod. Sehr plastisch und mit vielen persönlichen Beispielen arbeitet sie heraus, was all jenen Übergängen gemeinsam ist: Dass sie einen Raum eröffnen, in dem die alten Regeln nicht mehr gelten und die neuen noch nicht da sind.
    "Zu keinem anderen Zeitpunkt stehen die Tore zum Wesentlichen so weit offen, zu keinem anderen Zeitpunkt ist es leichter zu erkennen, was wirklich zählt."
    Assoziativ statt rational denken
    Dieses Muster gilt für Natalie Knapp nicht nur in der Natur und im privaten Bereich, sondern ebenso in der Gesellschaft. Und hierin besteht die Faszination ihres Denkens. Sie philosophiert auf der Grundlage von Analogien, nicht nach streng kausalem Ursache-Wirkungs-Prinzip. So wird das Buch "Der unendliche Augenblick" zu einer charmanten Einladung an den Leser, selbst ins Offene zu treten. Zu ihrer Methode meint sie:
    "Das ist ja - im Unterschied zum rationalen Denken - eine viel assoziativere Art des Denkens, aber für mich auch eine sehr viel lebensnähere Art des Denkens. Ich glaube, dass es für Menschen, die nicht im Denken geübt sind, sehr viel leichter ist, über Analogien Erkenntnisse zu sammeln, als über rein rationales Denken. Das ist auch die Art, wie ich denke. Ich kann dann zwar hinterher das, was ich über Analogien selbst erfasst habe, in rationale Gründe übertragen, aber der erste Moment ist meistens analog und nicht rational."
    An dieser Art des Denkens lässt Natalie Knapp ihre Leser auf über 300 Seiten teilhaben. Man erfährt von dem japanischen Mikrobiologen Masanobu Fukuoka, der über Nacht seinen Job kündigte und die sogenannte "Nichts-tun-Landwirtschaft" als Gegenmodell zur technifizierten, pestizidbasierten industriellen Landwirtschaft erfand, nachdem er gesehen hatte, dass der Einsatz von Technik nur weitere Technik zur Behebung der angerichteten Schäden nach sich zieht. Auch der Schriftsteller und Maler Wolfgang Herrndorf kommt zu Wort, der drei Jahre lang wusste, dass er eine Krankheit hatte, an der er bald sterben würde:
    "Fünf von sieben Frauen, in die ich in meinem Leben verliebt war, haben es nie erfahren. Ich war fast immer allein. Die letzten drei Jahre waren die besten."
    "Weniger besitzen - aber nicht weniger glücklich sein"
    Daran, dass man in der Fülle verschiedenartiger Beispiele niemals die Orientierung verliert, zeigt sich die Klugheit des Buches und seiner Autorin. Denn Natalie Knapp steuert schließlich auf einen entscheidenden Punkt zu: Menschen leben - wie alles Lebendige - in und aus dem Ur-Widerspruch zwischen Bewahren und Verwandeln heraus. Krisen deuten auf die Notwendigkeit zur Verwandlung und eröffnen damit eine gewaltige Möglichkeit. Versucht man jedoch in so einer Situation am Althergebrachten festzuhalten und es zu bewahren, vertut man nicht nur die Chance, die sich bietet, sondern läuft sogar Gefahr unterzugehen. Das macht Natalie Knapp sehr eindringlich am Beispiel der Wikinger klar. Während die Volksgemeinschaft der Inuit in Zeiten des Klimawandels die alten Ernährungsgewohnheiten ablegte und von Fleisch auf Fisch umstellte, lehnten die Wikinger Fisch als Nahrungsgrundlage ab. Die Inuit überlebten, die Wikinger starben aus. In einer ähnlich prekären Lage sieht Natalie Knapp die gegenwärtige Weltgesellschaft als Ganzes:
    "So wie es sich für mich im Augenblick darstellt, sehe ich keine Möglichkeit, wie diese Logik des Wachstums und des Immer-mehr-Verbrauchens einhergehen soll mit der Zahl der Menschen, die im Augenblick auf diesem Planeten leben. Und ich sehe auch nicht, dass wir das alles mit noch mehr Technologie einfangen können, die ja wiederum Ressource verbraucht, um entwickelt zu werden. Das heißt, ich glaube wirklich, dass wir uns mit einer Logik des Weniger anfreunden müssen - des weniger Besitzens, aber nicht des weniger Glücklichseins."
    "Es droht der Untergang der gesamten Weltgesellschaft"
    Natalie Knapp gelingt es mit ihrem leicht zugänglichen Buch "Der unendliche Augenblick", die Sicht des Lesers nach und nach zu verwandeln. Gestützt auf die Theorie des polnischen Philosophen Jean Gebser macht sie die Historizität von Bewusstseinsepochen begreiflich. Demnach herrscht seit Beginn der Neuzeit das rationale Bewusstsein vor, das den Raum entdeckte, die Technik und die Naturwissenschaft entfesselte. Diese auf Expansion und Wachstum geeichte Perspektive auf die Welt gelangt in der Gegenwart an ihr Ende, was sich deutlich daran zeigt, dass sich die Anzahl der Menschen in den letzten 50 Jahren mehr als verdreifacht hat, während sich die Fülle der Tierarten halbierte. In den eingangs genannten ökologischen, ökonomischen und politischen Krisen unserer Tage sieht Natalie Knapp Symptome dafür, dass sich die durch die Rationalität erreichten Errungenschaften in ihr Gegenteil verwandeln und kommt damit in ihren Überlegungen zu ähnlichen Resultaten wie die Autoren Harald Welzer oder Gerald Hüther - wenn auch auf anderen Wegen. Sie schreibt:
    "Sieben Milliarden Menschen brauchen zu essen, müssen sich kleiden und Behausung suchen, verbrauchen Ressourcen und Energie, während die Umwelt zerstört wird, der Boden immer weniger hergibt und die Müllberge wachsen. Flüchtlingsströme, politische Konflikte oder der Kampf um Rohstoffe. Es droht nicht der Zusammenbruch einer Kultur, sondern der Untergang der gesamten Weltgesellschaft."
    "Wir sind auf solche Situationen angewiesen"
    Die Coda des Gedankengangs von Natalie Knapp ist evident: Wollen wir als Weltgemeinschaft nicht untergehen wie die Wikinger, müssen wir uns für eine neue Bewusstseinsform öffnen, die den aus der Entdeckung des Individuums herausgewachsenen Egoismus besänftigt und um ein Wir-Bewusstsein erweitert. Nicht nur, aber auch durch diese Pointe ist "Der unendliche Augenblick" ein im Grunde optimistisches Buch - zumindest für all jene, die sich von Natalie Knapp die Augen öffnen lassen. Die Zeit ist reif dafür, und die ersten Zeichen, dass sich Menschen nicht mehr nur für ihren eigenen Wohlstand und ihr Fortkommen, sondern für höhere menschliche Werte engagieren, sind unübersehbar:
    "Der Augenblick macht etwas mit uns. Und ich glaube tatsächlich, dass das diese Übergangssituationen, diese Krisensituationen sind, wo wir den Überblick verloren haben. Und die machen was mit uns. Und das sieht man deutlich jetzt in dieser Flüchtlingskrise: Menschen wollen Kleider spenden, weil sie wissen, es ist notwendig und sehen dort, dass so viel Hilfe gebraucht wird, dass sie gleich dort bleiben. Und dann bleiben sie ein paar Tage dort und das verändert sie. Und aus dieser veränderten Grundsituation geht dann ein verändertes Bewusstsein hervor. Und ich glaube, wir sind auf solche Situationen angewiesen."
    Natalie Knapp: "Der unendliche Augenblick"
    Rowohlt Verlag, 320 Seiten, 19,95 Euro.