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Pia Klemp "Lass uns mit den Toten tanzen"
Über das Sterben im Mittelmeer

Pia Klemp und ihre Crew haben auf dem Mittelmeer tausende schiffbrüchige Flüchtlinge aus Seenot gerettet. In ihrem Roman erzählt die Kapitänin in direkter, fast sachlicher Sprache von ihren Erfahrungen - was darin Fiktion ist und was tatsächlich erlebt, lässt sie weitgehend offen.

Von Ralph Gerstenberg | 17.01.2020
Pia Klemp und ihr Buch „Lass uns mit den Toten tanzen“
Pia Klemp zeichnet von sich das Bild einer Frau, die sich gelegentlich selbst widerspricht und das Ziel hat, die Welt zu verändern (Foto: Paul Lonis Wagner Sea-Watch, Buchcover: Maro Verlag)
"Lass uns mit den Toten tanzen" ist bereits Pia Klemps zweiter Roman. Ja, ein Roman ist dieses Buch, kein Erlebnisbericht, kein Sachbuch wie es ihre Kollegin Carola Rackete ebenfalls im Herbst vorgelegt hat. Das sei nun mal ihre Art zu schreiben, erklärt Pia Klemp und nennt dafür Gründe:
"Bei dieser Geschichte hat es auch viel mit Integrität den Gästen gegenüber und auch dem Schutz der Crews gegenüber zu tun, was sich dann gut eingereiht hat in die Art, wie ich Dinge gerne erzähle, um sie halt aus meiner Warte auf den Punkt zu bringen bzw. in der Lage zu sein, die wichtigen Dinge und auch die emotionalen Seiten ein bisschen mehr herauszukristallisieren als das ein Tatsachenbericht könnte."
"Crew love is true love"
Als Gäste werden die Geflüchteten bezeichnet, die nichts als ihr Leben an Bord des Schiffes gerettet haben, das von der Ich-Erzählerin gesteuert wird - einer in jeder Hinsicht konsequenten und kompromisslosen Veganerin, Anarchistin und Aktivistin. Wie Pia Klemp selbst hat sie zuvor mit der Meeresschutzorganisation Sea Shepherd Wale gerettet. Und nun also Menschen an der europäischen Außengrenze, im Mittelmeer. Mit an Bord: ein verschworener Haufen von Leuten, die tun, was ihrer Meinung nach getan werden muss. "Gute Leute", findet die Kapitänin.
"Wo trifft man die sonst und was macht man ohne die? Viele nehmen ihren Jahresurlaub für die Chose, manche leben von Stütze, damit sie die Zeit haben, etwas Anständiges zu machen, ein paar haben sich krankschreiben lassen. Nur die wenigsten haben ein normales Leben, von dem sie sich entschuldigen müssen, um in die Such- und Rettungszone zu fahren. Ein Klecks der Crème de la Crème der Menschheit, hier auf diesen schlampig gemalerten Decks und in meinem Herzen. Crew love is true love. Und selbst die schaffen es, mir auf den Sack zu gehen."
Kein großer Menschenfan
Reine Menschenliebe ist es nicht, die die Ich-Erzählerin als Seenotretterin hinaus aufs Meer treibt, eher ein Nichtabfindenkönnen und -wollen mit Leid und Ungerechtigkeit. Auch das hat sie mit Pia Klemp gemein.
"Die Menschheit als solche, die hat mich bis jetzt nicht besonders überzeugt von ihren herausragenden Fähigkeiten. Wenn wir uns anschauen, was wir untereinander, vor allem aber auch mit diesem Planeten anstellen."
"Verwirrt und beleidigt, weil ich mich nicht zur Liebe zur Menschheit bekenne, wendet sie sich von mir ab ... Ich habe keinen Schimmer, wo diese sauertöpfische Verwunderung herkommt. Es steht mir doch auf der Stirn geschrieben, dass ich mit dieser Mischpoke nichts anfangen kann. Ich verstehe sie einfach nicht, und sie mich ja offensichtlich auch nicht. Wozu behaupten es sei anders? Es ist ja nicht so, dass ich Menschen deswegen etwas Böses will. Was mach ich hier denn bitte?"
Dramatische Rettungsaktion
Was an ihrem Roman "Lass uns mit den Toten tanzen" Fiktion ist und was tatsächlich erlebt, lässt Pia Klemp weitgehend offen. Die Beschlagnahmung der "Iuventa" durch italienische Behörden, die das Schiff zuvor verwanzt und die Handygespräche der Besatzungsmitglieder aufgezeichnet haben, ist jedenfalls ebenso wahr wie die Rettungsaktion mit der Seawatch 3, bei der ein heranpreschendes Schiff der libyschen Küstenwache Panik auf dem überfüllten Schlauchboot auslöste. Von der Kapitänsbrücke aus sieht die Ich-Erzählerin, wie ein Mann ertrinkt, während andere an Deck des Küstenwachschiffs geschlagen werden. Rund vierzig Menschen werden nach Libyen verschleppt, mindestens dreißig ertrinken, unter den Geborgenen an Bord des NGO-Schiffes, das im Roman nicht näher benannt wird, befindet sich ein zweijähriger Junge.
"Der Junge ist tot", sagt er mit bebender Stimme.
"Welcher Junge?"
Er erzählt, dass sie einen kleinen Jungen aus dem Wasser gezogen haben, der nicht mehr geatmet hat. Eine halbe Stunde lang haben er und Julia versucht, ihn wiederzubeleben. Dann hat Julia ihn für tot erklärt. Felix schnäuzt sich die Nase und richtet sich wacker auf: "Ey, sorry, das musste gerade mal raus."
"Natürlich muss das raus!", wehre ich die Entschuldigung ab und denke darüber nach, was ich jetzt mit der Kinderleiche an Bord mache und wie gerne ich Felix seinen Schmerz nehmen würde."
"Die Leiche muss gekühlt werden", lässt Julia mich wissen.
Wut, Liebe und Revolution
Niemandem an Bord schmeckt später das Eis, das es plötzlich im Überfluss gibt. Jeder weiß: In der Tiefkühltrühe liegt jetzt ein toter Junge. Auch das ist nicht erfunden. Es ist die Art der Erzählung, der Verknappung und Zuspitzung, die Subjektivität der Erzählerinnenstimme, ihre intimen Gedanken und Gefühle, die dieses Buch tatsächlich zu einem Roman machen. Die Schilderungen der Ereignisse auf dem Mittelmeer wirken nicht rührselig oder dramatisiert. Pia Klemp erzählt solche Passagen fast sachlich, aus der Sicht einer Frau, die funktionieren, ihren Job erledigen muss, egal was um sie herum passiert. Die Wut, die sie empfindet, wenn sie und ihre Crew dafür von italienischen Hafenbehörden schikaniert und kriminalisiert werden, überträgt sich mit voranschreitender Handlung auch auf den Leser. Neben dieser Wut, die Pia Klemp ebenfalls mit ihrer Ich-Erzählerin teilt, gibt es zwei weitere Motive, die sie antreiben: Liebe und Revolution.
"Eine Gesellschaft, wie ich sie mir vorstelle, hat unglaublich viel mit Liebe zu tun. Das muss sich ja nicht auf die Liebe zwischen zwei Menschen oder in einer Beziehung beschränken. Und ja, ganz klar ist Revolution das Thema. Ich möchte mich nicht damit begnügen, "nur" in Anführungszeichen ein paar Menschen aus Seenot zu retten, sondern ich möchte das Problem radikal angehen, dass wir überhaupt gar nicht mehr in einer Situation sind, wo Menschen eine solche Reise überhaupt antreten müssen. Ob im Kleinen oder Großen ist Liebe und Revolution immer ein Thema bei mir."
"Let’s make love and revolution, baby" lässt sich ihre Ich-Erzählerin am Ende aufs Bein tätowieren. Ob Pia Klemp ebenfalls ein solches Tattoo hat – wer weiß? Und wie passen Liebe und Misanthropie eigentlich zusammen? In ihrem Roman zeichnet sie das Bild einer jungen Frau, die sich gelegentlich selbst widerspricht und nichts Geringeres zum Ziel gesetzt hat als die Welt zu verändern. Das klingt an manchen Stellen etwas pathetisch. Ihre ansonsten sehr direkte und unverblümte Sprache bekommt dann eine radikal-romantische Attitüde. Irgendwie passt das aber auch zu ihrer Protagonistin, die sich nicht darum schert, was andere von ihr denken. Wenn sie von Leuten als Zumutung empfunden wird, die sie selbst als Zumutung empfindet, weil sie zu bequem oder zu inkonsequent sind, dann ist ihr das nur recht. Pia Klemps Roman ist keine Zumutung, sondern das aufrüttelnde Buch einer Autorin, die mit ausgestrecktem Mittelfinger auf eine EU-Politik weist, die für das Sterben im Mittelmeer mitverantwortlich ist.
Pia Klemp "Lass uns mit den Toten tanzen".
Maro Verlag, Augsburg.
224 Seiten, 20 Euro.