Pianist Lennie Tristano

Stilbildend für den Cool Jazz

Ein Jazzpianist spielt auf einem Klavier.
"Jazz ist ein Feeling", sagte Lennie Tristano, der schon als Kleinkind am Klavier saß. © dpa / picture alliance / Lev Radin / Pacific Press
Von Karl Lippegaus · 19.03.2019
Die Musik ist schon in deinem Kopf - du reproduzierst sie nur! Das war das Credo des blinden Jazz-Pianisten Lennie Tristano. Er widerlegte das Vorurteil, nur Schwarze könnten jazzig improvisieren. Vor 100 Jahren wurde Tristano geboren.
"Jazz ist kein Stil. Jazz ist ein Feeling."
Mit diesem Satz vermittelte Lennie Tristano der jungen Pianistin Connie Crothers seine Konzeption von Musik. Quer durch Amerika war Connie per Anhalter gereist, von Palo Alto/Kalifornien nach Manhattan, um bei dem mysteriösen Tristano zu studieren.
"Es ist kein Komponieren aus dem Stegreif. Es ist kein Folgen irgendeiner Formel. Du hörst lediglich Musik in deinem Kopf und gibst sie wieder."
Am 19. März 1919 wurde Leonard Joseph Tristano in Chicago in eine italienische Familie hineingeboren. Mit zwei oder drei Jahren schon fing er an, Klavier zu spielen, er bekam kurz Unterricht und konnte schon als Zehnjähriger Songs aus dem Stegreif nachspielen. Bereits damals ließ seine Sehkraft stark nach, bis er schließlich ganz erblindete.

Nachts zog er durch die Jazz-Clubs

Von 1938 bis 1943 studierte Tristano in Chicago Klavier und Komposition, Psychologie und Pädagogik. In einer halben Stunde löste er musiktheoretische Probleme, für die andere eine Woche brauchten. Abends zog Lennie ins schwarze Ghetto, mit 15 saß er die ganze Nacht in Jazz-Clubs und lauschte dem großen Lester Young. Mit Anfang 20 begann er zu unterrichten. Seinem ausgezeichneten Gehör entging kein Detail. Seine Frau Judith erinnerte sich:
"Er war immer sehr daran interessiert, wie Leute aussahen. Er tastete über ein Gesicht und erklärte, er habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie jemand aussehe, durch die Präsenz der Person und den Klang der Stimme."
Chicago und New York waren Schmelztiegel der verschiedensten Kulturen. Tristano, dessen Schüler überwiegend Weiße waren, widerlegte das Vorurteil, nur Schwarze könnten jazzmäßig improvisieren.
Charmant und humorvoll konnte er sein, befand sich aber stets auf dem Rückzug in die Einsamkeit. Ein Solitär und Bohemien, mit einem starken Interesse an der Psyche der vielen Studenten, die zu ihm pilgerten.
Die endlosen Attacken gegen seine Musik verletzten den New Yorker Künstler tief. Zum Guru der Jazz-Avantgarde wurde er trotzdem. Seinen Ruhm begründeten zwei frühe Beispiele für das, was man zehn Jahre später Free Jazz nannte: An drei Tagen im März und Mai 1949 für Capitol Records entstanden zwei freie Improvisationen ohne Schlagzeuger.
"Als ich sieben war, bekamen wir einen Phonographen. Ich lauschte den alten Jazzplatten, setzte mich ans Klavier und spielte irgendwas dazu – kein spezielles Stück. Man könnte sagen, es war der Ursprung dieser Platten, die intuitive Musik waren."

Von den Produzenten verkannt

Der Tontechniker riss die Arme hoch und verließ den Regieraum. Der Produzent fand, Lennie sei ein Idiot und weigerte sich, ihm die beiden Free-Stücke zu bezahlen. Miles Davis war für Tristano der einzige bekannte Musiker, der schwarz auf weiß die wahre Natur dieser Musik auf diesen frühen Platten erkannte.
"Die Musik ist schon in deinem Kopf. Du lässt deine Hände auf dem jeweiligen Instrument nur reproduzieren, was du hörst, während du es hörst. Was du damit erreichst, ist etwas völlig Spontanes."
März 1955: Die Aufnahme von "Requiem" artikulierte seine tiefe Trauer über den frühen Tod seines Freundes Charlie Parker. Nachts spielte er, an Bird denkend drei, vier Stunden lang einen Blues. Er wählte dann für die Schnittfassung die stärksten Passagen aus.
Ein Kult bildete sich um den von Bach und der Kunst des Kontrapunkts faszinierten blinden Pianisten.
Es waren bis heute vor allem die Musiker, die auf ihn verwiesen. Doch es verging viel Zeit, bis zumindest einige in der Jazzwelt erkannten, dass der "blinde Bach" des Cool Jazz neue Wege gefunden hatte. Lennie Tristano starb am 18. November 1978 mit 59 Jahren in New York.
"All you do is hear music in your head and reproduce it."
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