Freitag, 19. April 2024

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Picasso und die Photographie

Wie schön, ein Buch wie dieses ohne Einschränkung anpreisen zu können. Eine kleine Sensation, ja, das ist so, ganz ohne zu übertreiben. Denn wer hätte geglaubt, daß es im Leben und Werk Pablo Picassos noch etwas zu entdecken gibt, etwas, das die Forschung bis jetzt nur unzulänglich erfaßt hat, etwas, worüber sie einfach nicht richtig und nicht sorgfältig genug nachgedacht hatte.

Verena Auffermann | 01.01.1980
    Pablo Picasso ist der Liebling eines ganzen Jahrhunderts und das kreative Monster der Moderne. Durch seine geniale Unersättlichkeit hat er den Künsten und den Wissenschaften gezeigt, was das ist, ein beispielloser Künstler. Picasso, der melancholische Katalane, der im Laufe seines Lebens ein Franzose mit dämonischer Weitsicht wurde, hat viele Leben gelebt und sehr vielen Legenden Stoff gegeben. Nach seinem Tod im Jahr 1973 haben die Sachwalter seines Werkes den Mythos Picasso gemehrt, sie haben Ausstellungen organisiert, Bücher herausgegeben und in Paris das "Musée National Picasso" eröffnet. Man schien sich ziemlich sicher zu sein, daß so gut, wie jedes Geheimnis, das die Figur Picasso, seine Frauen, seine Galeristen, seine Förderin Gertrude Stein umschloß, gebrochen zu haben.

    Aber dann befaßte sich Anne Baldassari, seit 1992 Kuratorin am Pariser Musée Picasso mit den ungefähr 15.000 Photodokumenten aus dem persönlichen Archiv des Künstlers und erkannte, daß sich der von der Forschung durchleuchtete Künstler mit dieser großen eigenen Sammlung selbst und tausendmal sinnfälliger als durch all seine vielen Interpreten erklärt.

    Natürlich respektiert die Nachwelt keine Wünsche, selbst wenn dieser Wunsch ein Wunsch von Pablo Picasso ist. "Ich möchte erreichen", hat Picasso gesagt, "daß man auf keinen Fall erkennen kann, wie mein Bild gemacht ist". Das von Anne Baldassari herausgegebene Buch "Picasso und die Photograpie - Der schwarze Spiegel" belegt anhand von hunderten von Postkarten, Visitenkartenportraits und selbstgemachten Aufnahmen wie der Künstler zu seinen Gemälden, zu den Kompositionen gelangt ist, woher die Antriebe, die Ideen kamen. Die Photos der anderen regten ihn an, die eigenen überraschten ihn. "Ich sehe meine Bilder", sagte er, "anders, als sie sind, mehr als Protokolle". Picasso machte Photos seiner Gemälde, um zu wissen, ob er "fertig" ist, ob er das Werk abschließen - oder vernichten solle. Er machte Photos von unfertigen, aber provisorisch gerahmten Bildern, um sie von ihrem Entstehungsprozeß abgelöst zu erkennen.

    Der Zusammenprall zwischen Wirklichkeit und Bewußtsein beginnt bei Picassos frühesten Zeichnungen im Jahr 1899. Als Vorlage einer Kohlezeichnung benutzte er eine blaugetönte Zyanotypie. Die Einverleibung der Photographie in sein Werk endet mit den erotischen Übermalungen eleganter Vogue-Mannequins und einem Selbstbild des alten Herrn Picasso, der für einen Freund sein Portrait mit schwarzer Tusche am 15. Januar 1972 so übermalt, daß sich sein Gesicht in das Gesicht eines Fauns verwandelt. Die Photagraphie, das zeigt dieser Prachtband, der eine Ausstellung begleitet, die zur Zeit im Museum of Fine Arts in Houston, Texas, zu sehen ist und im Frühjahr 1998 in das Münchner Stadtmuseum kommt, war für Pablo Picasso ein Medium der Selbstkontrolle, der Selbstbespiegelung, des Spiels und der kreativen Unterstützung.

    Pablo Picasso hat dem Photo viele Aufgaben zugewiesen. Er benutzte es, um festzustellen, ob eine Arbeit "fertig" ist, er "durchleuchtete" mit Hilfe des Photos seine Gemälde, das Photo war für ihn eine Art "ursprüngliche Vision". Oder anders gesagt, die Photographie setzte er als "Sehinstrument" ein und lernte von ihr viel über die Farbe, über die Valeurs von grau zu schwarz. Wir wissen jetzt, daß Picasos Tendenz zur farblichen Monotonie, zum Blau und zum Rosa mit der farblichen Monotonie der frühen photographischen Vorlagen in Verbindung steht. Über das Privatarchiv sind wir also endlich an einer Quelle, nicht nur die Bilder der Rosa- und Blauen-Periode bis zu den kubistischen Kompositionen erschließen sich neu.

    Der junge Picasso aber gewöhnt sich erst einmal selbst eine ganz eigenwillige Art zu photographieren an. Er hält die Kamera in Kniehöhe und schwenkt sie nach oben, die Perspektiven verändern sich. Der Mensch und der Hintergrund, vor dem er sich befindet, rücken näher und magisch zusammen. Der Kubismus kündigt sich an. Und wer sich schon oft über die seltsame, künstlich-gestellte Armbewegung der "Frau mit Fächer", ein Bild, während der blauen Periode entstanden, gewundert hat, entdeckt jetzt, daß Picasso die Aufnahmen des Ägyptenforschers Zangaki als Vorlagen benutzt hat. Denn ägyptische Schwestern und Mütter mit Kindern, Wilhelm von Plüschkows 1897 in Kaarnak aufgenommene "Knabenakte", all das ist Picassos Kreativ-Material. Das Exotische reizte ihn, wir wissen das längst durch sein Interesse für die Präkolumbianische Kunst, und so begeisterte er sich auch für die Photographien der westafrikanischen Malinke-Frauen, für ihre Körperfülle, ihre Körperhaltung, für die Majestät ihres Leibes.

    Selbst die "Desmoiselles d'Avignon", diese Musterfrauen des Kubismus, Grazien mit Dämonenköpfen und verrenkten Körpern, haben als Vorbild die Postkarte einer Gruppe westafrikanischer Frauen. 40 Postkarten mit Frauenstudien verschiedener Volksgruppen aus dem Jahr 1906 wurden in Picassos Archiv gefunden. "Wir sind die zwei größten Künstler der Epoche", hat der Zöllner Rousseau in freundlicher Selbstüberschätzung zu Pablo Picasso gesagt, "Du im "ägyptischen" Genre, und ich im modernen".

    Picasso hatte keine Scheu vor optischen Zitaten und Verschiebungen. "Man muß", so war seine Meinung, "immer mit irgend etwas anfangen. Danach kann man den Anschein der Realität aufheben. Es besteht keine Gefahr mehr, denn die Idee des Gegenständs hat eine unauslöschliche Spur hinterlassen." Den Schock, der hinter seinem um 1910 notierten Ausspruch steht: "Ich habe die Photographie entdeckt. Jetzt kann ich mich umbringen. Es gibt nichts mehr, was ich noch lernen könnte", hat der Künstler produktiv umgedreht. Er hat die Photographie ausgebeutet - denn, der Künstler ist ein Transformator, ein Teufelsaustreiber und ein Fährmann zwischen den Welten. 1937 hatte der geniale Fotograf Man Ray in den "Cahiers d’Art" über Picasso geschrieben: "Da kommt jemand daher und setzt sich an die Stelle des Auges, mit allen Risiken, die das mit sich bringt. Haben Sie noch nie eine lebende Kamera gesehen?"

    Das große Buch mit den Forschungsergebnissen Anne Baldassaris enthält nicht nur die intelligenten Texte über die Monochromie als Paradigma, über die Strategien des neuen Sehens und ihre Metamorphosen, das Buch belegt jede These mit einer Abbildunge. Ursprünglich, sagt Picasso, sei die Photographie der reine Abdruck des Lichts, und das, betont er, ist mehr, als bloß eine Abbildung der Welt. Und so hat das Buch nach 263 Seiten den einzigen Nachteil, daß es zu Ende ist.