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Pikante Geschichten

Das Zeitalter Wilhelm II. war voll von Skandalen, die die nötige Fallhöhe der Betroffenen, die Würze für die Öffentlichkeit und die Sprengkraft für politische Veränderungen bereithielten. Sie sind Gegenstand zweier Bücher, die sich mit der politischen Kulturgeschichte des untergehenden deutschen Kaiserreichs befassen.

Von Paul Stänner | 08.11.2010
    Das Jagdschloss Grunewald ist auch heute – eben wieder restauriert – ein wunderbar lauschiges Plätzchen an einem idyllischen Waldsee. Als es noch nicht öffentlich zugänglich war, hatte hier, wer es sich ohne Zeugen gutgehen lassen wollte, ein abgelegenes Separee gefunden. So auch die Damen und Herren einer Schlittenpartie im Januar 1891. Sie gehörten der Berliner Hofgesellschaft an, ein Schwager des Kaisers war dabei und auch seine älteste Schwester. Die Szenen, die sich dann in dem lauschigen Schlösschen abgespielt haben, seien in ihren Details der Fantasie der Zuhörer überlassen – nur so viel: Männer verkehrten mit Männern, Frauen wurden ebenfalls mit ihresgleichen intim, vor allem der Graf und die Gräfin Hohenau waren vielfältig in erotische Aktivitäten verstrickt. Dann das Nachspiel: Schon am nächsten Morgen gingen einigen der Teilnehmern Schmähbriefe zu. Der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann hat die pikanten Postsendungen jetzt wieder aufgegriffen.

    "Herr Graf! Stadtbekannt ist, dass ihre Frau Schwägerin nicht eher ruht, bis sie mit sämtlichen (!) Prinzen auf du und du und, wenn irgend möglich, in geschlechtliche Berührung gekommen ist. Es ist schier unbegreiflich und eine ganz aparte Art von Tollheit, dass diese sich sonst so zimperlich gebärdende Person sich jedem Prinzen ohne Weiteres an den Hals wirft und, wie diese Herren teils selbst erzählt haben, ganz unaufgefordert die Röcke hebt – schlimmer wie das mannstollste Weib!"

    Bis heute weiß man nicht, wer diese Briefe schrieb, aber die zotigen Zeilen sickerten aus den engen Zirkeln der Hofgesellschaft in die breite Öffentlichkeit. Die Teilnehmer der Winterparty beschuldigten sich gegenseitig, die Briefe verfasst zu haben. Nach einiger Zeit wurde ein Hauptverdächtiger ausgemacht, Leberecht von Kotze, Zeremonienmeister am Hof, der im Ruf stand, weibisch, eitel und

    "mit besonderem Verständnis für Männer und Weiberputz ..."


    … ausgestattet zu sein – in der preußischen Uniformgesellschaft der ideale Verdächtige. Wilhelm II. ließ ihn verhaften, schließlich glaubte er den Ehrenkodex seiner Kreise in Gefahr. Nur – Majestät waren zu einem Haftbefehl gar nicht berechtigt! Damit war aus einer Schmuddelgeschichte ein politischer Skandal geworden. Zeremonienmeister Kotze wurde rehabilitiert, sah aber seine Reputation verloren und forderte nach dem verbotenen, aber immer noch lebendigen Kodex seiner Zeit seinen Verleumder zum Duell. Andere folgten.

    "Wichtiger als diese innere Ehre im Sinne von Moral, Sittlichkeit und Tugend war die äußere Ehre, das heißt die Reputation und das Renommee."

    Wippermann – obwohl Hochschullehrer in Berlin – schreibt mit einer Leichtigkeit und Süffisanz, die sich erkennbar um eine Leserschaft bemüht, die ihre Freizeit nicht mit dem Entschlüsseln akademischer Drechselkunst verbringen möchte.

    Der Skandal um die Schlittenfahrt im Grunewald war noch nicht abgetaut, da tauchte der nächste am Horizont auf. 1906 feuerte der Publizist Maximilian Harden eine Artikelserie gegen Graf Eulenburg ab, der auf seinem Schlösschen Liebenberg einen homosexuellen Freundeskreis gesammelt hatte. Das Pikante in diesem Fall: Unter den Freunden trug der Kaiser den Spitznamen "das Liebchen", was Majestät in eine nebulöse Nähe zu den Intimfreunden rückte.

    Norman Domeier untersucht die Kulturgeschichte dieses Aufregers und vor allem seinen Widerhall in den in- und ausländischen Zeitungen. Ausgangspunkt von Domeiers Publikation ist eine wissenschaftliche Dissertation - und damit beginnen auch die Schwierigkeiten.

    Der Doktorand verzichtet auf die plane Darstellung des Vorfalls und schaufelt stattdessen eine Fülle von Dokumenten und Lesefrüchten aus Archiven und Bibliotheken herbei. Dem nicht im Thema geschulten Leser wird leider erst zum Beispiel mit der Unterstützung von Wikipedia ungefähr folgendes deutlich: Im Jahre 1906 hat die publizistische Großmacht Maximilian Harden (von der Domeier uns nicht erklärt, woher ihre Größe stammt) mit mehreren Artikeln in der Zeitschrift "Zukunft" den Grafen Eulenburg, Kopf einer Kamarilla um den Thron Wilhelms II (von der wir nicht erfahren, wie sie zu Macht und Einfluss kam) bloßgestellt. Domeier zitiert Harden, als es darum geht, ob nicht Eulenburg statt Bernhard von Bülow selbst Kanzler werde wollte:

    "Eulenburg sagte: 'Bernhard muss nach Berlin' – die Herren duzten sich auch. Als sie meinte 'Tun Sie's doch lieber!' sagte Eulenburg: 'Nein, ich will Könige machen, aber nicht König sein!'

    Harden wollte ein männliches, kriegsbereites Kaiserreich, in der verweichlichten, homosexuellen Eulenburg-Kamarilla sah er eine Schwächung Deutschlands.

    Ein Homosexuellen-Skandal direkt im Schatten des Throns war ein gefundenes Fressen für jede Presse. Da war aus den Gerichtsberichten zu lesen, dass es eine Prostitutionsszene mit Angehörigen des Elite-Leibregiments Garde du Corps gab, die in ihren hautengen weißen Hosen mit den hohen Schaftstiefeln im Berliner Tiergarten auf den Strich gingen wie heute die jungen Frauen aus Rumänien. Domeier zitiert den Hofmarschall Zedlitz-Trützschler, der schrieb:

    "... dass wir auf dem Weg zur Katastrophe schon so weit fortgeschritten sind, dass unser an sich gut organisierter Staatsorganismus einem solchen moralischen Zusammenbruch nicht vorbeugen konnte."

    Leider kann man Domeiers Materialsammlung trotz ihrer informativen Schlüsse nur Liebhabern von Dissertationen empfehlen. Wurden die Mächtigen an ihre Sorgfaltspflicht erinnert? Wohl kaum. Eher wurde vor den Augen der staunenden Öffentlichkeit deutlich, dass sich Verhaltens-, Denk- und Empfindensweisen überholt hatten. Und dass die Presse die Aufgabe hat, diese Erosionserscheinungen öffentlich zu machen. So ein Skandal ist doch etwas Feines!


    Norman Domeier: Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs.
    Campus Verlag, 433 Seiten, 29,90 Euro. ISBN: 978-3593392752 und

    Wolfgang Wippermann: Skandal im Jagdschloss. Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich.
    Primus Verlag, 167 Seiten, 19,90 Euro. ISBN 978-3896788108