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Pionierin der Medizin-Geschichte

Im 18. und 19. Jahrhundert galt es als wissenschaftlich erwiesen, dass Frauen unfähig waren zu studieren. Josepha von Siebold ließ sich von Vorurteilen aber nicht aufhalten und wurde Hebamme. 1815 erhielt sie als erste Frau die Ehrendoktorwürde. Noch fast 100 Jahre nach diesem Datum blieben die Universitäten für Frauen verschlossen.

Von Vanessa Loewel | 06.09.2005
    Für eine 1771 geborene Beamtentochter genießt Josepha Henning eine ungewöhnlich freie Kindheit: Sie trägt Jungenkleidung und lernt für höhere Töchter so ungewöhnliche Dinge wie Reiten und Kutschfahren. Doch mit zehn Jahren muss Josepha die geliebten Hosen gegen Mädchenkleidung eintauschen: In einem Ursulinenkloster wird sie entsprechend des Bildungsideals des 18. Jahrhunderts erzogen - zu einer:

    "nützlichen, freundlichen, gehorsamen, gottesfürchtigen und uneigensinnigen Hausmutter."

    Das Bildungsziel scheint erreicht, als Josepha kurz vor ihrem 16. Geburtstag Frau eines Regierungsrates wird. Doch nur wenige Jahre nach der Heirat stirbt ihr Mann. Die junge Witwe verliebt sich in ihren Arzt, Damian von Siebold, und heiratet ein zweites Mal.

    Als Josepha von Siebold gehört sie nun einer bedeutenden Ärztefamilie an. Vater und Brüder ihres Ehemannes sind allesamt angesehene Professoren der Medizin. Nur Damian von Siebold ist ein einfacher Landphysikus und als Amtsarzt und Geburtshelfer reicht sein Lohn kaum aus, um die bald siebenköpfige Familie zu ernähren. Um das Familieneinkommen aufzubessern, beschließt Josepha von Siebold selbst Geburtshilfe zu studieren - ein erstaunlich modernes und wagemutiges Vorhaben zu einer Zeit, in der Frauen jeder Zugang zu höherer Bildung verschlossen ist. Die weibliche Unfähigkeit zum Studium gilt sogar als wissenschaftlich erwiesen.

    "Es fehlt dem weiblichen Geschlechte nach göttlicher und natürlicher Anordnung die Befähigung zur Pflege und Ausübung der Wissenschaften."

    Doch Josepha von Siebold lässt sich von Vorurteilen nicht aufhalten: Mit einer Ausnahmegenehmigung darf sie bei ihrem Schwager, Professor Elias von Siebold, in Würzburg studieren. Hinter einem Vorhang vor den Blicken ihrer Mitstudenten verborgen, hört sie dessen Vorlesungen über Geburtshilfe - die Teilnahme an praktischen Übungen wird ihr jedoch verwehrt. Auch ihr Schwager ist davon überzeugt, dass die Unterweisung von Frauen in der Arztkunst nur dazu führe, "dass medizinische Pfuscherinnen gebildet würden."

    So setzt Josepha von Siebold ihre Ausbildung in der Praxis ihres Ehemanns fort, der anders als sein Bruder, das Talent seiner Frau nicht nur erkannt hat, sondern auch umfassend fördern will. Im November 1807 bittet sie schließlich um Zulassung zur Staatsprüfung:

    "Da ich mich oft zu überzeugen Gelegenheit hatte, dass eine widernatürliche Sterblichkeit des Menschengeschlechts durch Unwissenheit von Hebammen zu sehr befördert wird fasste ich, berücksichtigend, dass es hier zu Lande allgemein herrschende Gewohnheit ist, sich des weiblichen Geschlechts zur Hülfe bei Geburten zu bedienen, den Entschluss mich der Geburtshilfe zu widmen. Ich bitte demnach: Höchstdieselben wollen gnädigst verordnen, dass das Großherz. Medizinal-Kollegium meine Kenntnisse als Accoucheuse prüfen und mir nach Befund freie Ausübung meiner gründlich erlernten Kunst gestattet werde."


    Der Antrag hat Erfolg. Allerdings wird das Kollegium dazu angehalten, die Kandidatin - da es sich um eine Frau handelt - besonders streng zu prüfen. Vier Stunden lang muss die angehende Frauenärztin ihr Wissen in Theorie und Praxis unter Beweis stellen.

    "So lange das Collegium medicum existiert, erinnert es sich nicht, einen Kandidaten oder Doctor geprüft zu haben, der so fürtrefflich bestanden wäre."

    ...schreibt Damian von Siebold stolz über den Erfolg seiner Frau, die nun endlich praktizieren darf. Die geschickte Ärztin wird bald über die Grenzen Darmstadts hinaus zu Geburten gerufen: Viele Schwangere vertrauen sich ihr als Frau sehr viel lieber an als ihren männlichen Kollegen.
    Josepha von Siebolds Arbeit findet große Anerkennung: Am 6. September 1815 verleiht ihr die Universität Gießen die Ehrendoktorwürde. In der Geschichte der Medizin ist sie damit eine Pionierin - und eine Ausnahme, denn noch fast hundert Jahre lang schließen deutsche Universitäten Frauen vom Studium aus.

    Doch zumindest einer Frau bereitet sie den Weg: ihrer Tochter Charlotte, die zwei Jahre nach ihr promoviert. Gemeinsam arbeiten sie in Darmstadt und haben fürstliche Kundschaft. 1819 verhilft Charlotte von Siebold einer kleinen Victoria auf die Welt - der späteren Königin von England.