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PISA, VerA und Co.
Die Fragwürdigkeit der Bildungstests

Wissen, was in Schulen los ist und wie gut der Unterricht funktioniert – das wollen Bildungspolitik und Medien, Eltern und Lehrer gleichermaßen. Die empirische Bildungsforschung soll dafür die Zahlen liefern. Doch nicht alle Erziehungswissenschaftler finden das sinnvoll und befürchten "Risiken und Nebenwirkungen" durch PISA, VerA und Co.

Von Armin Himmelrath | 28.09.2015
    Das Wort PISA steht auf einer Schultafel.
    Hans Brügelmann: "Bildungstests sind hilfreiche Instrumente, solange man ihren Status nicht überschätzt." (picture alliance / dpa / Armin Weigel)
    Wenn Bildungspolitiker über Schule reden und über die Qualität des Unterrichts, dann können sie das seit nunmehr 14 Jahren nur noch tun, wenn sie einen Bezug zum PISA-Schulleistungstest herstellen. Der wurde nämlich 2001 zum ersten Mal veröffentlicht – und hat seither zu einem regelrechten Boom der empirischen Bildungsforschung geführt.
    PISA und VERA, IGLU und TIMSS heißen diese Studien, und erst mit ihnen wird gute Schulpolitik möglich, sagt zum Beispiel Stephan Dorgerloh, Kultusminister in Sachsen-Anhalt:
    "Dazu braucht es eine Gesamtstrategie zum Bildungsmonitoring, die jetzt Früchte trägt. Wir haben ganz klar gemacht, dass wir empirische Bildungsforschung benötigen, um Bildungspolitik vernünftig weiter zu entwickeln. Dafür brauchen wir Studien wie PISA."
    Und dafür geben die Ministerien in Bund und Ländern auch ziemlich viel Geld aus. Aber was bringen solche Tests tatsächlich? Der Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann sieht den Trend zur immer genaueren Vermessung der Schulen und ihrer Schüler höchst kritisch. Schon im Untertitel seines Buchs ist von "Risiken und Nebenwirkungen" dieser Leistungsstudien die Rede, und Hans Brügelmann macht schnell klar, was ihn am meisten stört: die technische Herangehensweise an pädagogische Prozesse.
    "Was für das Gelingen von Lernen wesentlich ist, kann nicht auf dieselbe Art und Weise erfasst werden, wie man das Funktionieren technischer Geräte oder ökonomischen Erfolg misst. Erst recht kann man es nicht planen und mithilfe von Evaluationsverfahren steuern, die aus diesen Subkulturen entlehnt worden sind. Das heißt nicht, Schulen könnten ohne Evaluation auskommen. Aber die Pädagogik braucht andere Formen der Untersuchung und Bewertung von Leistungen, als sie in Technik und Wirtschaft üblich sind."
    Kritik an der Testgläubigkeit
    Brügelmanns Hauptargument: Lernen ist ein Prozess, bei dem es um die Qualität von Beziehungen geht und um die Fähigkeit von Lehrerinnen und Lehrern, situationsbezogen und individuell zu reagieren. Die vermeintliche Objektivierung durch Leistungstests ziele nur auf die Ergebnisse ab, nicht auf die Prozesse des Lernens selbst. Die aber, schreibt der Erziehungswissenschaftler, seien ja gerade der qualitative Kern von Schule und Unterricht. Dem Hang der Bildungspolitik zu den Leistungstests hafte ein großer Irrtum an, sagt Hans Brügelmann. Der Irrtum nämlich.
    "...aus statistischem Wissen könne man Fallwissen für praktisches Handeln im Alltag direkt ableiten. Denn für Pädagogen besteht das eigentliche Problem darin, allgemeine Aussagen – seien es empirische Befunde der Forschung oder normative Vorgaben wie Lehrpläne – auf ihre jeweilige besondere Situation hin auszulegen."
    Hans Brügelmann artikuliert mit seiner Kritik an der Testgläubigkeit ein tief sitzendes Unbehagen, das viele Eltern und Lehrer bei PISA und Co. haben. Er stellt sich mit diesem Buch aber auch klar gegen den Mainstream der Bildungsforschung, wie er etwa von Manfred Prenzel vertreten wird, lange Jahre ein führender Kopf der deutschen PISA-Studien und heute Vorsitzender des einflussreichen Wissenschaftsrats.
    "Wir würden sehr stark dafür argumentieren, dass eine ganze Reihe von Maßnahmen, die in den letzten Jahren ergriffen wurden in Deutschland, wichtige Erfolgsfaktoren waren. Ich nenne vor allem die Einführung von Bildungsstandards, die dazu beigetragen haben, dass das Bewusstsein der Lehrkräfte sich stärker auf die Ergebnisse des Unterrichts gerichtet hat. Die auch dazu beigetragen haben, dass Lehrkräfte eine klarere Vorstellung davon bekommen, was die Schülerinnen und Schüler konkret am Ende eines Schulabschnitts beherrschen sollten."
    Die Illusion der Objektivität
    Falsch, sagt Hans Brügelmann. Es gehe eben nicht um Bildungs-, sondern um Leistungsstandards. Und es gehe bei diesen Tests um eine Objektivitätsillusion, die mit der vielschichtigen und mehrdeutigen Realität in den Klassenzimmern kaum etwas zu tun habe.
    Der Erziehungswissenschaftler hat seine Kritik zu einem spannenden Buch verarbeitet, in dem er einerseits wissenschaftlich argumentiert, andererseits aber auch gut lesbar die beteiligten Akteure am System Schule zu Wort kommen lässt. Wer sein Unbehagen gegenüber der ständigen Vermessung von Schulen und Schülern ein wenig sortieren und fachlich untermauern will, der wird in diesem Buch fündig. Und stößt schließlich noch auf eine Überraschung: Denn obwohl er viele Argumente gegen PISA und Co liefert, will Hans Brügelmann die Leistungstests trotzdem nicht abschaffen.
    "Sie sind hilfreiche Instrumente, solange man ihren Status nicht überschätzt und den Geltungsbereich ihrer Ergebnisse beachtet. Überzogen wird ihr Kredit, wenn man ihre Befunde im Vergleich zur Alltagserfahrung und zum professionellen Urteil als höherwertig betrachtet – und nicht als komplementär, das heißt: als wichtige Ergänzung. Tests können reflektierte Erfahrung und Urteilskraft nicht ersetzen."
    Ein kluges Buch, das sich dem Test-Boom entgegen stellt – und das einfordert, was Schule und Lernen ja eigentlich ausmacht: die Konzentration auf die pädagogischen Prozesse.
    Brügelmann, Hans: "Vermessene Schulen – standardisierte Schüler. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA, Hattie, VerA und Co",
    Verlagsgruppe Beltz, ISBN: 978-3-407-25729-1, 143 Seiten, 19,95 Euro.