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Plädoyer für das eigene Gewissen

Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: "Nichts erfordert mehr Mut und Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!" Dabei bezog er sich auf den größten Fürsprecher persönlicher Zivilcourage, den amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau. Von diesem stammt eine weltberühmte Schrift mit dem Titel "Civil Disobedience", die "Bibel der Helden der Widersetzlichkeit".

Von Xaver Frühbeis | 23.07.2006
    Was zeichnet einen aufrechten Menschen aus? Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau wusste es. Es ist die Fähigkeit zur Unabhängigkeit: im Leben, im Denken und vor allem vor dem Gesetz.

    "Das Gesetz hat die Menschen kein bisschen gerechter gemacht. Im Gegenteil: Durch den Respekt vor dem Gesetz werden auch die Wohlgesinnten tagtäglich zu Handlangern des Unrechts."

    Es sei falsch, sagt Thoreau, zu glauben, dass das, was die Regierenden und die Gesetzgeber ihrem Volk auferlegen, automatisch gut und gerecht sei. Denn was, wenn die, die gerade an der Macht sind, eigennützig sind oder unfähig oder verblendet? Deshalb, sagt Thoreau, ist die einzige Instanz, die einem aufrechten Menschen den Weg vorgibt, die ihm sagt, was er zu tun und zu lassen hat: sein eigenes Gewissen.

    "Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist: jederzeit zu tun, was mir recht erscheint."

    Gewissensprüfung also anstelle von Obrigkeitshörigkeit, Zivilcourage statt Duckmäusertum. Thoreau ist hier ganz romantischer Utopist, er glaubt an einen aufgeklärten, mitfühlenden, moralisch und ethisch hoch stehenden Menschen, dessen Gewissenshandlungen die Welt nicht in die Anarchie geleiten, sondern zu der einzig menschenwürdigen Art des Zusammenlebens.

    Selbstverständlich war sich Thoreau darüber klar, dass es die Obrigkeit gemeinhin nur ungern sieht, wenn ihre Schäflein eigenen, womöglich gar konträren Gewissensstimmen folgen. Und so gibt uns Thoreau einen radikalen Rat:

    "Wenn man von dir verlangt, das Instrument für ein Unrecht am Anderen zu werden, dann sage ich dir: brich das Gesetz!"

    Auch Thoreau brach das Gesetz. Obwohl finanziell unabhängig, weigerte er sich jahrelang, eine mit dem Wahlrecht verbundene Bagatellsteuer zu bezahlen. Mit diesem Geld wurden seiner Meinung nach Sklavenhandel und Eroberungskriege unterstützt. Am 23. Juli 1846 steckte man Henry Thoreau ins Gefängnis, um diese Zahlung zu erzwingen. Ihm war es eine Ehre.

    "Der rechte Platz, der einzige Platz, den der Staat Massachusetts heutzutage für seine freieren und weniger verzagten Geister vorgesehen hat, sind seine Gefängnisse. Unter einer Regierung, die jemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen gerechten Menschen."

    Allzu lange musste Thoreau, "der Gerechte", nicht hinter Gittern ausharren. Am nächsten Tag war er schon wieder auf freiem Fuß, seine Tante hatte den fälligen Betrag für ihn bezahlt. Aus dieser einen Gefängnisnacht jedoch erwuchs jene Schrift, die Thoreau weltberühmt machen sollte. Eine Aufforderung an jeden einzelnen, die Zusammenarbeit mit einem moralisch und ethisch unrechtmäßigen Herrschaftssystem zu verweigern: "Civil Disobedience - bürgerlicher Ungehorsam". Die deutsche Übersetzung trägt den noch provokativeren Titel "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber der Staatsgewalt".

    "Ich mache mir das Vergnügen, mir einen Staat vorzustellen, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein."

    Thoreaus Traum und Thoreaus Problem. "Gerechtigkeit für alle", so etwas gibt es nicht. Auch das so genannte "Gute" wird immer eine Sache des Standpunkts sein. Und heiligt der lautere Zweck nicht oft auch die unlauteren Mittel? Das wusste auch Thoreau, er hatte beim Schreiben seines Aufsatzes die Wirklichkeit zuweilen unverblümt zurechtgebogen.

    Der Krieg mit Mexiko etwa, dessentwegen er die Steuer jahrelang boykottiert haben wollte, hatte in Wahrheit erst kurz vor seiner Inhaftierung begonnen. Doch wer möchte solches schon auf die Goldwaage legen angesichts der enormen Breitenwirkung, die der Schrift zuteil wurde.

    Mahatma Gandhi hatte Thoreaus Aufforderung zum Protest in der Tasche, als er gewaltfrei für ein unabhängiges Indien kämpfte. Martin Luther King verbreitete das Buch in der amerikanischen Bürgerrechts-bewegung. Und auch die demonstrierenden "Flower Power"-Mädchen, die den Uniformierten Blüten in den Gewehrlauf steckten, hatten ihren Thoreau gelesen.

    Das war es, was die Welt aus Thoreaus Aufsatz an Hoffnung mitnahm: Dass Veränderungen im Staatswesen aus einer Minderheit heraus - ohne Gewalt und auf Dauer - möglich sind. Nur: Tun muss man es!

    "Machtlos ist eine Minderheit, wenn sie sich der Mehrheit anpasst. Dann ist sie noch nicht einmal eine Minderheit. Sobald sie aber ihr ganzes Gewicht einsetzt, ist sie unwiderstehlich."