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Plädoyer für das Individuum

Magnus Hirschfeld war einer der Wegbereiter für die Sexualwissenschaft. Sein Buch "Weltreise eines Sexualforschers" öffnet den Blick auf einen Wissenschaftler, der sich in einer Zeit der ideologischen Verwirrung und der politischen Verhärtung seine wissenschaftliche Unabhängigkeit und eine moralische Richtschnur bewahrte.

Von Martin Ebel | 21.05.2006
    Über Sex zu reden, ist heute vielleicht nicht einfach, aber jedenfalls nicht riskant. Sexualität ist längst auch ein anerkannter Forschungsgegenstand, von dem die Massenmedien regelmäßig Stoff beziehen. Auflagensteigernde Stories lassen sich gut mit dem Mantel der Wissenschaftlichkeit umhüllen. Eine freie, sachliche und öffentliche Auseinandersetzung mit Themen wie Homosexualität, Geburtenkontrolle oder Transsexualismus ist aber in vielen Ländern der Welt immer noch nicht möglich, und auch bei uns noch nicht sehr lange. Einer der Pioniere einer modernen, vorurteilsfreien und offenen Betrachtungsweise des menschlichen Sexualverhaltens ist Magnus Hirschfeld. "Einstein des Sex" hat ihn Rosa von Praunheim genannt, der einen Film über ihn gedreht hat.
    Hirschfeld lebte von 1868 bis 1935 und war der Gründer des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft, des weltweit ersten seiner Art.

    Seine Lebensdaten und sein Fachgebiet legen eine Parallele zu Sigmund Freud nahe, ebenso wie die jüdisch-großbürgerliche Herkunft, die weitgehend gelungene Assimilation des Elternhauses, der untadelige Humanismus beider Wissenschaftler. Die beiden sind sich begegnet, sie haben sich respektiert, wenn auch ihre Positionen weit auseinander lagen, und sie mussten ähnliche Widerstände bei der Durchsetzung ihrer Ansichten überwinden. Damit endet die Parallele. Freuds Psychoanalyse hat sich durchgesetzt, Hirschfeld dagegen ist nahezu vergessen, jedenfalls über sein eigenes Fachgebiet hinaus.

    Das hat nicht nur damit zu tun, dass Freud dann doch ein Denker von anderem Kaliber ist, ein Schöpfer von Mythen und Theorien, der eine ganze neue Wissenschaft erfand, dazu ein Schriftsteller von hohen Graden. Hirschfeld gehört als Gelehrter eher zu den wackeren Sammlern und Kompilatoren, zu den Popularisierern und Propagandisten. Vor allem aber hat er eine Sache zu der seinen gemacht, mit der man seinerzeit öffentlich besser nicht in Verbindung gebracht wurde: die Homosexualität. Hirschfeld war nicht nur Jude, sondern auch homosexuell, auch wenn er sich selbst nicht outen wollte. Leidenschaftlich stritt er dafür, gleichgeschlechtliche Liebe nicht als Delikt, sondern als natürliche Veranlagung anzuerkennen. Eine Vielzahl seiner Schriften widmet sich dem, wie er es nannte, "Dritten Geschlecht", der Film "Anders als die Anderen", bei dem er mitwirkte, ist der erste Schwulenfilm der Filmgeschichte.

    Hirschfelds Kampf gegen den damaligen Homosexuellenparagrafen 175 begann noch im 19.
    Jahrhundert und wurde auch in der Weimarer Republik nicht gewonnen. Vollends verloren war er mit der Machtergreifung der Nazis, die die so genannten warmen Brüder umso heftiger bekämpften, als sich zahlreiche in ihren eigenen Reihen fanden. Schon im Jahr 1920 wurde Hirschfeld von völkischen Schlägern in München auf offener Straße überfallen und schwer verletzt; vom jungen Hitler ist der anschauliche Kommentar überliefert:

    "Wäre ich in München gewesen, so hätte ich ihm einige Ohrfeigen gegeben, denn das, was dieser Schweinejude feilbietet, bedeutet gemeinste Verhöhnung des Volkes."

    Bald hatten die Nazis für Hirschfeld und seinesgleichen anderes im Auge als bloß Ohrfeigen. 1933 stürmten und zerstörten sie sein Institut für Sexualwissenschaft, das sein Gründer großenteils mit eigenem Geld aufgebaut hatte und das 14 Jahre lang Aufklärung, Beratung, Hilfestellung geboten hatte. Hirschfeld war da schon im Ausland, er sah die Zerstörung seines Instituts, die Verbrennung seiner Schriften in einem Pariser Kino in der Wochenschau. 1934 siedelte er nach Nizza über, traf sich in Sanary mit anderen Emigranten. Klaus Mann, der mit ihm befreundet war, sieht ihn am Strand spazieren, begleitet von einem "recht anmutigen chinesischen Famulus" und widmet ihm melancholische Sätze, die wie ein Nachruf klingen. Schon ein Jahr später ist Magnus Hirschfeld in Nizza gestorben.

    Sein Werk wird heute von der etablierten Sexualwissenschaft gepflegt und, durchaus kontrovers, diskutiert. Für ein breites Publikum ist es nicht von Interesse, da bleibt Hirschfeld höchstens eine schillernde Figur der Zeitgeschichte. Sogar in die Literatur hat er Eingang gefunden, von Döblin über den Engländer Christopher Isherwood bis zum französischen Surrealisten René Crevel, der ihn in seinem Roman "Etes-vous fous" (zu Deutsch: Seid ihr verrückt?) in grotesker, dämonischer Verzerrung als Dr. Optimus Cerf-Mayer auftreten lässt.

    Die "Weltreise eines Sexualforschers", die Hans Christoph Buch jetzt in der "Anderen Bibliothek" des Eichborn-Verlages herausgegeben hat, ist eine wahre Trouvaille und lohnt die Lektüre unbedingt. Allerdings muss man etwas historischen Sinn und Spaß am Eigentümlichen und Kuriosen mitbringen, dann aber wird man reichlich belohnt. Der Schriftsteller Hans Christoph Buch ist auf Hirschfeld vermutlich über den Afrikaforscher Richard Kandt gestoßen, der die südlichen Nilquellen entdeckt hat und eine zentrale Rolle in Buchs Roman "Kain und Abel in Afrika" spielt. Kandt war ein Jugendfreund Hirschfelds, sie sind zusammen in Kolberg aufgewachsen. Buch würdigt die Arbeit des Sexualforschers in einem klugen Vorwort, stellt ihn als Vorläufer von Alfred Kinsey heraus und nimmt ihn gegen neuerdings geäußerte Vorwürfe in Schutz, er habe als Anhänger der Eugenik selbst Affinitäten zu den Nazis gehabt. Er schätzt ihn als politisch fortschrittlichen Kopf, dessen Beobachtungen in Japan, China, Indien oder Palästina bisweilen prophetische Qualitäten haben. "Trotz seiner Schwächen", schreibt Buch zu Recht,

    "ist die 'Weltreise eines Sexualforschers' ein bewegendes
    Buch: ein Plädoyer für Menschlichkeit, Aufklärung und Toleranz in einer rasch sich verfinsternden Zeit, deren Schatten über den Ozeandampfer fällt, auf dem Magnus Hirschfeld - vergeblich, wie wir heute wissen - dem aufziehenden Sturm zu entfliehen versucht."

    Die Idee zu dieser Weltreise entstand spontan.

    "Bei der Abfahrt von meiner Berliner Wirkungsstätte hatte ich eine Reise um die Welt weder beabsichtigt noch geplant. Dieser Gedanke entstand in mir erst, als ich zu meinem Erstaunen von Ort zu Ort, von Land zu Land wahrnahm, wie weit über Deutschlands und Europas Grenzen hinaus bereits die Kunde der von mir vertretenen Forschung über das menschliche Sexual- und Liebesleben gedrungen war. Überall, wohin ich kam, äusserte sich ein starkes Verlangen nach ernster, wissenschaftlicher Sexualaufklärung."

    Und dieses Verlangen stillt Hirschfeld erst in den USA, dann - und hier setzt der Reisebericht ein - in Japan, China, auf den Philippinen, im damals holländisch kolonisierten Indonesien, in Ceylon und Indien, in Ägypten und Palästina. Überall wird er von Universitätslehrern empfangen, wird weitergereicht und weiterempfohlen, auf nahezu jeder Station erreichen ihn Anfragen aus anderen Orten, seine Vorträge doch bitte auch dort zu halten. Er spricht in Hochschulen und vor Frauenvereinen, in Klubs und während der Schiffsreise, vor Fachleuten, Studenten und der breiten Öffentlichkeit, in Sälen und im Freien.

    "Von den 176 Vorträgen, die ich auf meiner Weltreise in rund 500 Tagen hielt - ausser in Amerika, Japan und China auf den Philippinen, Java, Indien, Ägypten, Palästina und Syrien - waren viele so stark besucht, dass sie auf freiem Gelände wiederholt werden mussten."

    An die Vorträge schließen sich häufig Diskussionen an, gefolgt von ausführlichen Banketten, auf denen weiter debattiert wird. Hirschfeld wird von zahlreichen Zuhörern aufgesucht und um Rat gefragt. Sexuelle Probleme aller Art werden an ihn herangetragen, schriftlich und mündlich. Umgekehrt informiert sich Hirschfeld über alles, was die besuchten Länder an einschlägigen Sehenswürdigkeiten zu bieten haben, und lässt sich zeigen, was immer man ihm zeigen will. Nicht nur Männlein und Weiblein und alle Formen ihrer Beziehungen interessieren ihn, sondern auch homosexuelle Seidenwurmmotten, die ihm ein amerikanischer Forscher in Kanton vorführt. Hirschfeld fasziniert hier besonders ein statistischer Wert: Genau drei Prozent der Seidenfalter neigen dem eigenen Geschlecht zu, erfährt er. Das ist genau der Wert, den seine Umfragen beim Menschen ergeben haben.

    Natürlich besucht und bewundert er auch das Taj Mahal, aber über eine Haschischkneipe weiß er sich plastischer zu äußern, und die Bordellstrassen lässt er nirgendwo aus - natürlich aus rein fachlichem Interesse. Wohin er nicht selbst dringt, davon lässt er sich erzählen: vom Matriarchat auf Formosa oder den Kopfjägern im Innern Sumatras. Im Interesse der Wissenschaft scheut er keine Anstrengung. Es ist immerhin ein 62-jähriger Mann, der die Strapazen dieser Weltreise absolviert, und Strapazen sind es, nicht nur durch die unentwegte Vortrags- und Aufklärungstätigkeit. In Japan holt er sich eine tropische Hautkrankheit, den Ringwurm, in Indonesien quälende Hitzepickel, in Indien schließlich die Malaria, die ihn immer wieder mit hohem Fieber außer Gefecht setzt.

    Die Fotos, die dem Band beigegeben sind, zeigen einen gesetzten älteren Herrn, der noch deutlich älter wirkt, als er ist, mit Anzug, Weste und Fliege, Gelehrtenbrille und mächtigem Schnauz - ein bisschen wie Professor Unrat. Nur eben kein Stubengelehrter, sondern ein Welt- und Menschenhungriger, ein Wissensdurstiger, der auf seinen Körper keine Rücksicht nahm. In Benares bewundert er die Szenerie an den Ufertreppen des Ganges, den berühmten Gaths, und erklärt sie zu den eindrucksvollsten Stätten der Erde. Er beobachtet die Pilger in ihren weißen Gewändern, die Priester, die aus den heiligen Schriften vorlesen, die Scheiterhaufen, auf denen Leichen verbrannt werden, weil hier der Weg zum Himmel am kürzesten sein soll, und die vielen Badenden im hygienisch gewiss nicht einwandfreien Wasser. Dann wird er aktiv:

    "Als gewissenhafter Forscher begnügte ich mich nicht nur mit dem Schauen, sondern nahm selbst ein Bad im Ganges. Ein älterer Rechtsanwalt aus Kalkutta, bei dem die für Indien so bezeichnende Mischung von Weisheit und Mystik, Klugheit und Aberglauben besonders stark ausgeprägt war, nahm mich eines Morgens aus seinem Hause, in dem ich nach meinem Vortrag übernachtet hatte, zur Morgenandacht im heiligen Strom mit. Da stand ich nun zwischen zahllosen Wallfahrern, die unter Ausführung der vorgeschriebenen Bewegungen ihre Gebete murmelten, die Arme zum Himmel streckten und die Messingschalen füllten und leerten. Gekostet habe ich allerdings das heilige Wasser nicht."

    Das dann doch nicht. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, sich vorzustellen, wie der Herr Doktor sich seiner Kleidung entledigt und zum Wohl der Wissenschaft in die Fluten steigt. So wie er mit japanischen Straßenmädchen oder chinesischen Puffmüttern spricht, mit Frauenrechtlerinnen, einem Sultan, der auf eine 64-köpfige Kinderschar herabsieht, oder sich an den kurzbehosten Israelis am Strand von Tel Aviv erfreut. Innerlich behält er Schlips und Kragen nämlich immer an, und so klingt seine Prosa dann auch. Hirschfeld lässt es sich nicht einmal entgehen, die zahlreichen Stammbucheinträge seiner Gastgeber im Wortlaut wiederzugeben, und die klingen alle etwa so:

    "Es war besonders erfreulich, dass es Herrn Dr. Magnus Hirschfeld möglich war, seine Reise in Patna zu unterbrechen und uns Gelegenheit zu geben, seinen gelehrten und anregenden Vortrag zu hören, zu dem sich eine Zuhörerschaft eingefunden hatte, die der Saal unserer Hochschule bei weitem nicht fassen konnte. Das gemeinsame Essen bei Herrn Aziz war ein wundervolles Erlebnis; wir hatten da nochmals Gelegenheit, mit dem Doktor zusammen zu sein und mit ihm zu sprechen.
    Möge ihm ein langes Leben beschieden sein, damit er seinen Mitmenschen dienen kann, wie er es bisher getan hat."

    Oder auch, noch deutlicher:

    "Meine Begegnung mit Dr. Magnus Hirschfeld betrachte ich als das grösste Ereignis meines Lebens."

    Diese etwas penetrante Form der Selbstbeweihräucherung in Zitatform erklärt sich nicht nur aus unschuldigem Gelehrtenstolz und der Überzeugung, wirklich nützliche Arbeit zu tun, sondern auch als Kompensation unendlicher, zermürbender Anfeindungen im heimischen Deutschland. Es ist ein ganz anderes Deutschland, das ihm auf seiner Reise entgegentritt: das Deutschland der Gelehrsamkeit. Und dieses Deutschland - es ist längst verschwunden - hat in der Welt einen glänzenden Ruf. Viele seiner Gastgeber haben in Deutschland studiert, viele sprechen ausgezeichnetes Deutsch und können seine Vorträge dolmetschen; andere Kollegen sind selbst Deutsche, lehren seit Jahren in der Fremde und haben eigene Schulen herangebildet. Diese Gelehrtenkultur gibt es nur noch in historischen Dokumenten wie dieser "Weltreise eines Sexualforschers". Sie ist eine Wurzel der enormen Zuneigung, die Deutschland in Übersee entgegengebracht wurde - natürlich vor der Machtergreifung Hitlers. Eine andere Wurzel ist das Gefühl der Leidensgenossenschaft: Immer wieder trifft Hirschfeld auf Einheimische, die ihre Situation als Kolonisierte mit der des im Ersten Weltkrieg besiegten und gedemütigten Deutschland vergleichen.

    Die Zuneigung ist gegenseitig: Hirschfeld ist nicht nur auf seinem eigenen Fachgebiet ein fortschrittlicher Geist, sondern auch politisch. Den Kolonialismus empfindet er als ein Grundübel, und er zweifelt überhaupt nicht daran, dass die unterdrückten Völker nie aufhören werden, nach Freiheit zu streben, und dass sie diese Freiheit nach blutigen Kämpfen auch erringen werden.

    "Was die Sklaverei von Mensch zu Mensch war, ist die Kolonialpolitik von Volk zu Volk. Auch der reiche Sklavenhalter sorgte für das Wohlsein seiner Leibeigenen (wie für seine Pferde und Hunde); sie fühlten sich bei ihrem Herrn versorgter, gesicherter, geschützter als im selbständigen Lebenskampf, und doch bäumte sich etwas in ihrer Seele auf. Es findet den markantesten Ausdruck in dem wohl aus Schleswig stammenden Satz: ‚Lewer dot als slav!’ Genauso ist es mit den Kolonialvölkern. Selbst wenn sie innerlich davon überzeugt sind, dass sie äusserlich bei Gewinnung ihrer Unabhängigkeit mehr verlieren als gewinnen werden, erscheint ihnen der ideelle Gewinn kostbare als der materielle Verlust. Für den unbefangenen Menschenforscher, insbesondere auch für den Sexualforscher, sind diese psychologischen Untergründe äusserst beachtenswert; er zieht Analogien und sieht, auf welcher Seite das psychologisch verwurzelte Naturrecht der Selbstbestimmung und auf welcher Seite der Eingriff in die freie Persönlichkeit liegt. Es ist nach allem nicht zweifelhaft: Wie wir jetzt über das Halten von Sklaven, werden spätere Generationen über das Halten von Kolonien denken."

    Bestätigung für seine Ansicht findet Hirschfeld in Indonesien, wo die Holländer herrschen, wie in Britisch-Indien und in Ägypten. Scharf kritisiert er, dass der Bevölkerung jegliche Bildung vorenthalten wird, was zu hohen Analphabetenraten führt; dass sich die Kolonialherren als Herrenvölker begreifen und auch so aufführen, und dass den heimischen Eliten die "Reife" abgesprochen wird, das Land selbst zu führen. Allerdings zögert er auch nicht, Kritik zu üben - am Kastenwesen in Indien, an der Beschneidung von Mädchen in Ägypten, am Opiumhandel. Wo es möglich ist, trifft sich Hirschfeld mit hervorragenden Persönlichkeiten der Opposition, in Ägypten etwa mit Nahas Pascha, dem Vorsitzenden der Wafd-Partei, und in Indien mit Jawaharlal Nehru, dem späteren Ministerpräsidenten, in dessen Haus er der schönen Ehefrau und einer anmutigen 15-jährigen Tochter begegnet - der späteren Indira Gandhi.

    Für Hirschfeld, den Verfechter der sexuellen Selbstbestimmung und der Befreiung von Bevormundung und Gängelung auf diesem allerpersönlichsten Feld, ist es nur natürlich, dass auch Völker ihr Geschick selbst in die Hand nehmen wollen. Sie alle finden ihn immer auf ihrer Seite. "Ägypten den Ägyptern", heißt eine Kapitelüberschrift, und nach einer Debatte mit Universitätslehrern in Kalkutta bemerkt er:

    "Je länger ich mit den Herren beisammen war, um so stärker fühlte ich: Ein Land, das eine solche Schicht geistiger Potenzen besitzt, kann sein Geschick getrost in die Hände eingeborener Führerpersönlichkeiten legen. Ihr die Regelung der Angelegenheit des eigenen Volkes und Landes vorzuenthalten ist biologisch ein Unding und muss notgedrungen zu Auflehnungen und Aufständen führen."

    Als Biologe lehnt er jede Behauptung rassischer Überlegenheit ab. Überhaupt ist er durch seine Sexualforschung zu dem Schluss gelangt, dass es lediglich die sozialen Konventionen sind, die das Verhalten prägen, nicht eine biologische Bestimmung. Diese Überzeugung setzt ihn in scharfen Gegensatz zu dem grassierenden pseudowissenschaftlichen Rassismus, und Hirschfeld ist geradezu glücklich, auf seinen Reisen immer wieder Beobachtungen zu machen, die seine Position bestätigen. Wo er auch hinkommt, interessiert er sich besonders für Mischehen, aus denen ja, nach Meinung der Rassisten, nichts Gutes entspringen könnte. Das Gegenteil ist wahr, findet Hirschfeld. In Tel Aviv wiederum, der ersten ganz jüdischen Stadt der Welt, beobachtet er eine fast verwirrende Vielzahl rassischer Merkmale. Von der so genannten jüdischen Rasse, von der die Antisemiten schwafeln, also keine Spur:

    "Auch die sogenannte "Judennase", die eine aramäisch-arabische Sonderheit sein soll, ist kaum häufiger zu sehen als eine Stupsnase. Man sieht sogar, namentlich unter den Kindern, auffallend viele blonde und blauäugige; in einem Kindergarten zählte ich 32 hellhaarige unter 54, also mehr als 50 Prozent. Nicht reine, sondern gemischte Rassen sind eine biologische Selbstverständlichkeit."

    Das Palästina-Kapitel am Ende dieses Reiseberichtes gehört zu den faszinierendsten des ganzen Buches. Hirschfeld, der naturgemäß von Zweitem Weltkrieg und Holocaust noch nichts ahnen kann, spürt dennoch genau, welcher Konflikt sich um das umstrittene "Heilige Land" anbahnt. Dem zionistischen Experiment steht er mit gemischten Gefühlen gegenüber. Er bewundert die Aufbauleistung, zeigt sich begeistert vom sozialen Experiment des Kibbuz mit gemeinschaftlicher Kindererziehung und freier Liebes- und Ehewahl. Ganz abwegig erscheint ihm dagegen die Entscheidung für das Hebräische als Sprache der neuen Gemeinschaft. Leidet die Menschheit nicht ohnehin unter der babylonischen Sprachverwirrung, muss man diese durch die Einführung einer neuen Sprache noch verschlimmern?

    Englisch, die am meisten verbreitete Kultursprache, wäre die richtige Wahl gewesen, meint Hirschfeld. Außerdem nährt jede eigene Sprache den Nationalismus, den er auch unter den jüdischen Siedlern schon grassieren sieht. Er befasst sich auch mit der arabischen Sicht der Dinge und kommt - es sind bereits Terrorakte und Massaker geschehen - zu einem überaus skeptischen Ergebnis: Die Verbitterung sei auf beiden Seiten bereits so groß, dass das Land einem Vulkan ähnele, der vor dem Ausbruch steht.

    "Dieses Kernproblem friedlich zu meistern erfordert mehr als guten Willen, es erfordert höchste Geschicklichkeit."

    Dem kann man, 70 Jahre, etliche Kriege und zigtausende Tote später, mit Bitterkeit zustimmen. Die Assimilation, auf die Hirschfeld als Alternative verweist, ist zumindest in Europa nach dem Holocaust keine mehr. Davon konnte der Weltreisende allerdings nichts ahnen, zumal er lieber über das "Spezialproblem" der Juden hinausblickt, in die goldene Zukunft einer höheren Assimilationsform:

    "Ich meine die Menschheitsassimilation, die zwischen den Völkern nicht den geringsten Wertunterschied macht, sondern nur zwischen einzelnen Menschen solche Unterschiede anerkennt und mit Forel an die Vereinigten Staaten der Erde glaubt. Nur Mensch sein, dieser scheinbare Rückschritt wäre der grösste Fortschritt. Die vorhandenen Gegensätze von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk, von Land zu Land zu überwinden, vermag aber nur eine Brücke: Menschenliebe, welcher Art auch immer, gegenseitige, aufbauende Liebe. Nur sie kann das verlorene Paradies, das goldene Zeitalter wiederbringen, nur sie kann den Menschheitsorganismus schaffen, erschaffen auf dem Boden der Hoffnungsworte Freiligraths: 'Trotz alledem, trotz alledem - es kommt die Zeit trotz alledem, / Da rings der Mensch die Bruderhand dem Menschen reicht trotz alledem!'"

    Mit diesem utopischen Ausblick schließt das Buch eines sympathischen, respektablen Gelehrten, der bei manchen anachronistischen und skurrilen Zügen durch seinen scharfen Blick und sein klares Urteil beeindruckt. In einer Zeit der ideologischen Verwirrung und der politischen Verhärtung bewahrte er sich seine wissenschaftliche Unabhängigkeit und eine moralische Richtschnur, die auch heute taugt, wenn die westliche Toleranzidee in der Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Weltanschauungen manchmal alt aussieht: Die Selbstbestimmung des Individuums ist der höchste Wert, nichts darf sie unterjochen - weder im Namen der Ehre noch der Religion, weder für Sippe noch Staat.