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Plädoyer für die innere Freiheit

Ralph Dohrmann erzählt in seinem Debüt-Roman "Kronhardt" die Geschichte der alten und der jungen Bundesrepublik bis in die Gegenwart. Der Protagonist des Buches, Willem Kronhardt, ist dabei auf der Suche nach sich selbst und seiner inneren Freiheit.

Von Jörg Plath | 11.03.2013
    Ralph Dohrmann erzählt in seinem Roman "Kronhardt" die Geschichte der alten und der jungen Bundesrepublik bis in die Gegenwart nicht noch einmal nach, um zu verdoppeln, was schon bekannt ist. Vielmehr tritt Willem Kronhardt geradezu gegen die Zeitgeschichte an, um seine innere Freiheit zu erlangen, bevor er die Historie hinter sich lässt, durch Zeit und Raum geschleudert wird und erfährt, wie eng sein Schicksal mit den Nationalsozialisten verknüpft ist. Ralph Dohrmann hat einiges unternommen, um ausgetretene Pfade zu vermeiden.

    "Willem ist ja von mir auch in der Zeit, in der er während des Schreibens gewachsen ist, nie als Held konzipiert worden, er ist eher ein Antiheld. Ich habe ja öfter mal die 'entscheidende Metabolie' geschrieben, die Willem ja tatsächlich nicht hinkriegt. Die Wünsche oder das, was seine Eigenschaften und Fähigkeiten ausmacht, das tatsächlich umzusetzen gelingt ihm nicht. Es ist eine halbherzige Lösung."

    Willem Kronhardt ist nur wenig älter als die Bundesrepublik. Er wird erzogen von einer harten, lieblosen Mutter und einem Stiefvater, die beide ihre nationalsozialistische Überzeugung kaum verbergen und den Kampf der Rassen, als es geboten scheint, einfach in den der Nationalwirtschaften überführen. Gegen die Naziideologie wird Willem allerdings früh imprägniert durch die Bekanntschaft mit zwei eindrucksvollen Menschen, die unter Hitler körperlich und seelisch versehrt wurden. Willem erfüllt die Wünsche der Eltern und schafft sich Freiräume. Distanz wird zu einem Teil von ihm. Mit ihr besieht er sich die APO, mit ihr wirkt er als freundlicher Halbtagspatriarch in der ererbten Bremer Maschinenstickerei, die seine tatkräftige Frau führt. Willems angenehmes Dasein ist kultiviert, reich an guten Getränken, Gesprächen und Genüssen jeglicher Art – es ist ein kompletives Dasein, das Ralph Dohrmann in seinem umfangreichen Roman "Kronhardt" ohne erkennbare Ironie als beste aller wohlgestandsgestützten Möglichkeiten zeichnet.

    "Es ist aber immerhin das, was diesen Charakter, die Hauptfigur Willem, auszeichnet, dass er die Fähigkeit hat, sich mit sich selber zu beschäftigen, Reflexion zu betreiben und mit sich in der Stille zufrieden zu sein – etwas, was meiner Beobachtung nach heutzutage vielen Menschen schwerfällt und was aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen möglicherweise, das wird im Roman auch angesprochen, gar nicht so gewünscht ist, weil dann die Gefahr bestehen könnte, dass das System so, wie es ist und wie es die Einzelnen einbindet, hinterfragt werden könnte."

    Die "entscheidende Metabolie", die entscheidende Veränderung muss von außen kommen: Als die Geschichte der alten Bundesrepublik mit der Wende endet, erfährt Willem, dass sein Vater nach der Rückkehr aus der Emigration möglicherweise umgebracht wurde. Der Verdacht erschüttert das ruhige Dasein: Kronhardt beauftragt zwei Detektive mit Ermittlungen, und alle drei wirbelt Dohrmann durch Zeit und Raum. Ein Bremer Küstenmotorschiff bringt sie in ein gespenstisch menschenleeres Mexiko, dann in das Jura, die Kreide und die Jungsteinzeit, bevor sie schließlich unbeschadet wieder in der Hansestadt anlegen, wo den Zurückgebliebenen die Zeit nicht lang wurde und der Kai nicht schwankte. Willem aber, nach der Odyssee zurück an den Bremer Gestaden seiner Kindheit, weiß nun, dass sein in die Schweiz emigrierter Vater von dem eigenen Bruder und der eigenen Ehefrau umgebracht wurde. Willem wuchs bei Mördern auf.

    Spätestens mit der surrealen, etwas verwegen quantenphysikalisch begründeten Wende wird deutlich, dass Willem Kronhardt, der in den Künsten wie den Naturwissenschaften, der Rhetorik wie der Kulturkritik und auch der Menschenkenntnis beschlagene Erbe, keine realistische Figur, sondern eine Allegorie ist. Sein Vorname verknüpft ihn mit Goethes Wilhelm Meister, die Heimat- und Hansestadt erinnert an Thomas Manns "Buddenbrooks". Doch Willems Bildungsroman zielt nicht auf Eingliederung in die Gesellschaft. Er kämpft um seine geistige Freiheit und verhindert, dass sich, wie es im Roman immer wieder heißt, das "System", die Nazi-Mutter, der Nazi-Stiefvater oder auch die APO-Studenten "einfleischen" in seinen Kopf. Der Roman schildert die Selbstverfertigung eines skeptischen Individualisten.

    "Man steckt ganz allein in sich drin. Und man ahnt das Universum. Manchmal kann man eine ausgleichende Wechselwirkung hinkriegen, die bescheiden macht und relativiert und die hilft, aus einem zufriedenen Dasein heraus die richtigen Entscheidungen zu treffen."

    Auf irritierende Weise tritt in "Kronhardt" das Individuum ohne weitere Vermittlung dem Universum gegenüber und "wechselwirkt" – so ein häufiger Begriff im Roman – mit ihm. Ebenso irritierend ist es, dass Willem keinen Zweifel an der Möglichkeit verspürt, seine Individualität gegen das Allgemeine, sein Inneres gegen das Äußere zu verteidigen und zu schützen. Die letzten Jahrzehnte mögen betont haben, dass das Individuelle unterworfen und kolonisiert wird, sei es nun von Medien, Dispositiven oder Diskursen – Ralph Dohrmann hält an ihm fest.

    "Es ist für mich ein interessantes Thema: Wo steh‘ ich als Mensch, wo steht unsere Gesellschaft, und welches sind die Ursachen dafür, dass es so ist, wie es ist. Und gibt es möglicherweise auch andere Richtungen oder hätte es andere Richtungen geben können. Und das ist natürlich sehr eng gekoppelt an Wahrnehmung und Wirklichkeit, eines der großen und interessanten Themen des Buches, was für mich auch als Mensch privat immer wieder interessant ist.
    Jeder hat seine eigene Wahrnehmung. Ich bekomme noch differenzierte Abstufungen mit in meinem Beruf, bedingt dadurch, dass ich mit Menschen arbeite, die mit Behinderungen leben müssen und entsprechend andere Wahrnehmungen haben und daraus auch unterschiedliche Wirklichkeiten entwickeln."

    Tatsächlich präsentieren die drei Teile des Romans "Kronhardt" unterschiedliche Wahrnehmungen und Wirklichkeiten: Auf die des Teilzeit-Fabrikpatriarchen folgt die quantenphysikalisch erschütterte, durch die Verunsicherung über den Mordverdacht begründete Irrfahrt durch Zeit und Raum, dann schließlich die mit historischen Data gesättigte Aufklärung über den Mörder von Willems Vater. Dichte Stofflichkeit und Bildlichkeit besitzen alle drei Teile, und immer wieder bietet die großartig eingefangene Natur Freiheits- und Rückzugsräume. Zu den stärksten Partien des Buches gehören große Teile des ersten, 530 Seiten langen Romanteils, die Willems Heranwachsen gelten; insbesondere die Szenen mit dem sperrig-knorrigen Freund Schlosser überzeugen durch Kraft und Rhythmik. Gegen Ende des ersten Teils droht das kontemplative Dasein allerdings den leisen Langeweile-Tod zu sterben: Allzu oft beginnen die Kapitel mit einer Naturschilderung, und Willem vermerkt etwas zu häufig die angenehmen Körpergerüche der in seiner Firma fast ausschließlich angestellten Frauen.

    Der zweite, halluzinatorische Teil überzeugt durch die von Willem beauftragten Detektive Ramow & Ramow, deren Name an Diderots Roman "Rameaus Neffe", deren Slapstickwitz jedoch an die Detektive Schulz und Schulz in "Tim und Struppi" denken lässt. Über den fantastischen Ermittlungskünsten und -ergebnissen der Ramows vernachlässigt Dohrmann allerdings das ohnehin farblos gewordene Leben des Fabrikpatriarchen sträflich.

    Der dritte Romanteil, der den Mörder von Willems Vater durch die nationalsozialistische und die deutsch-demokratische Geschichte verfolgt, tritt dann als östlicher Spiegel der bisher erzählten Westgeschichte gegenüber. Auf die individuelle Freiheit folgt die vorauseilende Linientreue. Leider presst Dohrmann diese faszinierende, an Hans-Joachim Schädlichs Roman über den Geheimdienstspitzel "Tallhover" erinnernde Parallelbiografie des Mörders in 100 Seiten, was zu einer recht erschöpfenden Schieberei historischer Kulissen führt.

    So sehr der Roman auch am Ende vom mitgeschleppten Ereignismaterial aufgerieben wird – den rhythmischen Erzählton, die erlesene, manchmal altväterliche Sprache mit Wörtern wie "Ausspann" oder "Glühspirale", die beeindruckenden Naturschilderungen, die vielfältigen Anklänge an die literarische Tradition und den wie aus der Zeit gefallenen Antihelden Willem Kronhardt vergisst man so schnell nicht. Hier hat einer sein Lebensthema gestaltet. Ein rundes, vollkommenes Buch ist daraus nicht geworden. Ralph Dohrmann, der 14 Jahre an seinem Roman gearbeitet hat, bietet sympathischerweise keine Lösung an. Das hält ihn nicht davon ab, unablässig aufs große Ganze zu zielen. Diese romantische Spannung und mancher dazu passende Anachronismus machen "Kronhardt" zu einem über weite Strecken faszinierenden Roman.

    Ralph Dohrmann: Kronhardt Roman
    Ullstein, Berlin 2012
    921 Seiten, 24,90 Euro