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Plädoyer für die Lebendigkeit von Kleists Werk

Mit einer Doppelausstellung im Berliner Ephraim Palais und im Kleist Museum Frankfurt (Oder) wurde das Kleist-Jahr 2011 gefeiert. Der Katalog zur Ausstellung bietet Einblicke in die Lebensphasen des Schriftstellers Heinrich von Kleist und eröffnet neue Betrachtungsweisen auf sein Werk und die Wirkungsgeschichte.

Von Anja Kampmann | 21.11.2011
    Als junger Mann entwirft Heinrich von Kleist die Idee eines "Lebensplans", den er wie einen Reiseplan kontrolliert verfolgen will. Aber gerade Ruhe und innere Ordnung sind es, die wir von Kleist am allerwenigsten zu erwarten haben. Das ist es auch, was der Katalog "Krise und Experiment" deutlich vermittelt. Uns begegnet der "Nomade" Kleist, von dem "kein Mobiliar, nicht einmal ein Federkiel" überliefert ist. Günter Blamberger, Kleistforscher und Mitherausgeber des Katalogs, betont die Ausnahmestellung, die Kleist gerade in der Zeit des deutschen Idealismus einnahm.

    "Also in dieser Zeit war er sicher sondergleichen und völlig unzeitgemäß, weil diese Zeit ja eben als Ordnungsphantasie einen Bildungsidealismus hatte, und einen Idealismus, dass man sagte, zumindestens in der Literatur müsste dem beschädigten, chaotischen, krisenhaften Dasein ein Gegenentwurf entgegen gesetzt werden. Denken Sie an Schiller, an die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts, wo es noch heil und geordnet zuging. Und genau dieses hat Kleist systematisch verweigert."

    Neben elf detaillierten Essays greift der Katalog im zweiten Teil die Struktur der Ausstellung selbst auf: In den einzelnen Räumen wird der Leser mit wichtigen Stationen im Leben Kleists konfrontiert, mit Handschriften, Erstausgaben und Exponaten wie Säbeln, Uniformen, und wissenschaftlichen Apparaturen der Zeit um 1800. Diese werden wiederum in ihrer unhintergehbaren Wechselbeziehung mit den politischen Ereignissen der Zeit verbunden. Kleist ist gerade einmal 15 Jahre alt, als er im Potsdamer Regiment Garde in der Pfalz gegen die französischen Revolutionstruppen kämpft. Über diese Zeit als Kindersoldat schreibt der Schriftsteller Wilhelm Genazino:

    "Es ist ein Zeichen von dieser verheimlichten Gewalt, dass Kleist in keinem einzigen seiner vielen Briefe je von seiner Kindheit und Jugend erzählt hat. Es ist, als hätte er die Kindheit und Adoleszenz mit zusammengebissenen Kiefern ausgehalten. Ein Kindersoldat verhält sich zu sich selbst wie ein ranghöherer Militär."

    Obwohl sich Kleist nach "sieben unwiederbringlich verlorenen Jahren" für ein Studium der Wissenschaften entscheidet, und sich also von der Tradition der aristokratischen Soldatenfamilie lossagt, bestehen die Bilder und Erfahrungen des Krieges in seinen Novellen und Stücken fort. Vor allem aber hat er gelernt, nicht mehr auf die Oberfläche seiner Figuren zu vertrauen.

    "Kleists Landschaften sind wie seine biografischen meist Kriegslandschaften, sie sind besiedelt mit Soldaten, Offizieren und Oberbefehlshabern, mit Getöse und Flüchtenden. Sie sind Topografien, in denen panische Fluchtbewegungen und strategische Manöver stattfinden. Generell sind es Un-Orte, die keine Sicherheit bieten, sondern jederzeit zum Ort des Verderbens mutieren können. Utopien sehen anders aus, ebenso Heteropien. Vor allem erlauben die Orte nicht mehr, Identität qua Heimat zu konstruieren."

    Der Kölner Literaturwissenschaftler Ingo Breuer betrachtet den "Nomaden" Kleist, der nach dem abgebrochenen Studium an der Viadrina in Frankfurt, nach seiner Verlobung mit Wilhelmine von Zenge im Frühjahr 1801, eine Vielzahl von Reisen unternimmt, und beschreibt eine "existenzielle Unruhe", die ihn treibt. Für Kleist wird das Reisen zu einem "ästhetischen Laboratorium", zu einem Weg in die Kunst. Zugleich verfolgt er ein Ideal, das er nicht erreichen kann.

    "Freiheit blieb Fluchtpunkt und Ideal seines Reisens, aber stets Illusion und als solche bewusst."
    Deutlich wird diese Zerrissenheit auch in einem Brief, den Kleist im Juli 1801 an die Freundin Adolphine von Werdeck schreibt:

    "Ach, es ist meine angeborne Unart, nie den Augenblick ergreifen zu können, u immer an einem Orte zu leben, an welchem ich nicht bin, und in einer Zeit, die vorbei, oder noch nicht da ist."

    So scheint Kleist sein Leben immer wieder neu bestimmen zu müssen, auch wenn sein "ewig bewegtes Herz" wie er an seine Verlobte schreibt, ihn nichts als "Ruhe!" wünschen lässt. Dennoch ist seine Reise in die Schweiz auch die Suche nach einem Ideal, das er zumindest für eine Zeit in der Philosophie Rousseaus zu finden scheint. Der Kölner Germanist Martin Roussell beschreibt den Einfluss des Philosophen:

    "Hatte er in Paris seine eigenen Erlebnisse rousseauistisch ausgestaltet, so wählt er nun ein Leben frei nach Rousseau. Bauer will er werden und ein Landgut kaufen, also der städtischen Zivilisation, der politischen und zivilisatorischen Depraviertheit entgehen, indem er ein Leben in naturbestimmter Umgebung wählt."

    Aber auch die Schweiz wird kein Ort des Ankommens für ihn werden. Die Schwester Ulrike holt den Bruder ab, er steckt tief in einer Schaffenskrise, über mehrere Monate ist er in medizinischer Behandlung. 1804 reist er nach Königsberg, um sich zu einem "tüchtigen Geschäftsmann" ausbilden zu lassen. Er äußert sich abfällig über seine "inconsequent verlebte Jugend" und ergreift doch 1806 die Chance, dem Beamtendasein zu entfliehen: Die napoleonischen Truppen haben das preußische Militär bei Jena und Auerstedt geschlagen. Auch dies wird zur prägenden Erfahrung, so Günter Blamberger:

    "Kleist wird zum Krisenspezialisten, weil Napoleon, einer Naturkatastrophe gleich, die europäischen Länder erschüttert und alle Lebensläufe ohne Rücksicht auf ständische Gewissheiten entsichert. Kleist spielt im Novellenmodell nur nach, was in der Wirklichkeit der Fall war."

    Und gerade diese Umbruchszeit schlägt sich nieder in den Figuren, die Kleist erschafft, und auch in seiner Sprache, die in Syntax und Semantik bisweilen ganz zersplittert und zerrissen ist.

    "Er hat die Zerrissenheit der Zeit, die Zerrissenheit aller Lebensläufe, die Zerrissenheit aller Menschen, die ja völlig unberechenbar waren, weil sie immer zwischen den preußischen und den französischen Allianzen hin und her schwankten, schonungslos offen dargestellt wie kein anderer."

    In der Rezeptionsgeschichte wurde Kleist immer wieder missbraucht, ideologisch ein- und zugeordnet. So ist es ein großer Verdienst des Katalogs, Lesarten, wie etwa zur "Hermannsschlacht" zu liefern. Günter Blamberger:

    "Von der Reichsgründung bis zur Nazizeit wurde sie als Aufruf zum totalen Krieg verstanden. Übersehen wird dabei, dass Kleist am Ende der 'Hermannsschlacht' den moralischen Abgrund hinter dem Triumph des Cheruskerfürstens aufreißt."

    Über einen anderen Strang, die Kleist-Rezeption in der DDR, schreibt der Journalist und Autor Jens Bisky, und zeigt damit ein anderes Extrem, denn "Kleist" wird hier (beispielsweise) zu einem Signalwort für "die Kraft und den Eigensinn des modernen Künstlers."

    So wird Kleists "Fallen" aus allen Ordnungen zu einem Motiv, das sich, wie die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter zeigt, auch als produktives Moment moderner Tanzchoreografien auszeichnet. Neben zahlreichen Abbildungen, Zeittafeln und Hintergrundinformationen eröffnet der Katalog vor allem Perspektiven, heute wieder über Kleist nachzudenken. So werden nicht nur Analogien zwischen Michael Kohlhaas und terroristischen Attacken gezogen. Immer wieder wird auch die Gefahr der Eindimensionalität unserer Zeit beschworen - So etwa der Literaturwissenschaftler und Philosoph Hans Ulrich Gumbrecht:

    "Wir glauben zu wissen, dass wir unserer Welt eine Form geben müssen, eine Form, die das Asymetrische und Singuläre ausklammert, wenn wir uns zurechtfinden wollen. Der Preis für die geschaffene Ordnung mag eine Welt sein, in der uns nichts mehr überraschen und bewegen kann."

    So wird der Katalog zu einem Plädoyer für die Lebendigkeit von Kleists Werk bis heute. Dem Leser wird es gestattet, in die Umbruchszeit von 1800 zu reisen, und vielleicht mit einem veränderten Blick in unsere Zeit zurückzukehren.