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Platon
„Der Staat“

Ob es die Lehre von Volkssouveränität und Gewaltenteilung ist oder die Forderung, wer Macht habe, müsse gerecht herrschen – all diese politischen Theorien der letzten beiden Jahrtausende stehen auf den Schultern eines Philosophen, der vor 2.400 Jahren seine Ideen auf den Punkt brachte: Platon.

Von Michael Kuhlmann | 18.11.2019
Buchcover /Hintergrund Platon
Platon legte den Grundstein für politische Theorien (Buchcover reclam/ Hintergrund Platon / Imago/ Heinz-Dieter Falkenstein)
Er war zu unbequem gewesen: Sokrates hatte die Athener gewarnt, sie sollten die Herrschaft nicht leichtfertig Adligen überlassen oder gar populistischen Rattenfängern, sondern nur kompetenten Leuten. Das war den Athener Machthabern zu viel: Sokrates wurde zum Tode verurteilt. Zum Schrecken seines Schülers Platon, dem die Ereignisse keine Ruhe ließen: Was sollte man tun, damit ein Staat künftig nicht mehr seine besten Köpfe umbrachte? Damit er also gerechter wurde?
"Gerechtigkeit ist die Sache des einzelnen Menschen – sie ist aber auch Sache des ganzen Staates."
Der ideale Staat: von Philosophen gelenkt
Mit diesen Worten ging Platon in seiner "Politeia" also vom Individuum aus: Der Mensch sei gerecht, wenn die drei Teile seiner Seele – die Vernunft, der Tatendrang und die Begierden – im Gleichgewicht lebten; allerdings müsse die Vernunft führen. Auf den Staat übertragen hieß das: "Solange nicht der Stand der Philosophen Herr über den Staat wird, wird es weder für den Staat noch für die Bürger ein Ende des Elends geben." Schon Platon selbst bekannte, dass die Herrschaft der Philosophen ein unerreichbares Ideal bleiben würde. So nahm er die Realität des Staates, der Gesellschaft in den Blick.
Der gerechte Staat: im Zeichen allseitiger Tugend
Analog zu den drei Seiten der Seele teilte Platon die Menschen ein in Regierende, Wächter – also Polizei und Militär – und Arbeitende. Zu denen gehörten Bauern ebenso wie reiche Kaufleute und arme Tagelöhner. An alle stellte Platon nun seine Anforderungen: "Wenn der Stand des Geschäftsmannes, des Gehilfen und des Wächters das Seine tut und ein jeder von ihnen seine Aufgabe im Staat erfüllt, dann wäre das Gerechtigkeit und würde den Staat gerecht machen."
Jeder Bevölkerungsstand sollte gemäß einer bestimmten Tugend leben: Die Regierenden sollten weise, die Wächter tapfer agieren. Und die Arbeitenden sollten sich besonnen verhalten. Platon definierte das lebenspraktisch: "Für die breite Masse besteht doch Besonnenheit vor allem darin, dass man den Herrschenden untertan ist, sich selbst aber bei den Freuden des Trinkens, der Liebe und des Essens beherrscht."
Von Pessimismus geprägt: Platons Lehre der Staatsformen
Untertan sein konnte man natürlich nur einer gerechten Herrschaft. Die sollte Platon zufolge eine Aristokratie sein, also die Herrschaft einer Geisteselite. Platon hielt diese Aristokratie allerdings nicht für sehr langlebig. Denn er dachte daran, wie eitel die Mächtigen agierten; und so sah er voraus, dass die Aristokratie herabsinken werde zu einer Timokratie: Dort zählte nicht mehr Weisheit, sondern das gesellschaftliche Image – ein Eldorado der Blender und Schaumschläger. Daraus dann werde sich eine Oligarchie entwickeln – die Herrschaft der materiell Reichen.
Es gehe dort nur noch ums Geld – und die gute Erziehung der Jugend werde vernachlässigt. So wachse eine Gesellschaft heran, die von Verschwendungssucht und Müßiggang geprägt sei. Daraufhin aber werde die breite Bevölkerung materiell verarmen. Früher oder später werde sich die Unzufriedenheit dieser Menschen in einer Revolution entladen; und aus der gehe eine Demokratie hervor. Von der allerdings hielt Platon erkennbar wenig:
"Wird sich nicht in einem solchen Staat der Freiheitsdrang zwangsläufig auf alles erstrecken? Der Lehrer fürchtet sich in einer solchen Situation vor den Schülern und schmeichelt ihnen; die Schüler schätzen ihre Lehrer gering und ebenso auch die Knabenaufseher; und überhaupt stellen sich die Jungen den Älteren gleich und wetteifern mit ihnen in Wort und Tat; die Alten lassen sich zu den Jungen herab, geben sich voll Witz und Scherz und ahmen die Jungen nach, um nur ja nicht mürrisch und herrisch zu erscheinen."
Hier freilich hatte der Philosoph die athenische Demokratie seiner Zeit vor Augen. Auf heutige Verhältnisse übertragen könnte man sagen: eine Demokratie ohne wertebewusste und politisch wache Staatsbürger. Paradoxerweise aber, so Platon, sehnten sich die Menschen nach geordneten Verhältnissen, nach einem Anführer. Deshalb würden sie zur leichten Beute von Demagogen – und damit nehme der Staat die letzte und verachtenswerteste Form an: die der Tyrannei.
Platons "Politeia": Munition für den Totalitarismus?
Wie man dort wieder herauskommen konnte, beschrieb der Philosoph in seinem Buch nicht ausdrücklich. Doch gab sein grundsätzliches Wertefundament den Kurs vor: Platon ging es offenkundig darum, dass die Menschen ihre Interessen dem Gemeinwohl unterordneten. Das lief allerdings auch darauf hinaus, dass er eine staatskonforme Jugenderziehung forderte und sogar die Künstler politisch gefügig machen wollte. Überdies skizzierte er Ideen zu einer regelrechten Euthanasie. Deshalb warfen ihm etwa Hannah Arendt und Karl R. Popper vor, dem Totalitarismus das Wort geredet zu haben. Ganz abstreiten kann man das nicht. Doch Platon wollte keinen Staat der Willkür; über allem sollte das Ideal einer naturgegebenen Gerechtigkeit stehen. Mit seiner gedanklichen Schärfe jedenfalls und auch mit seinen literarischen Qualitäten stand Platons Buch am Beginn von zweieinhalb Jahrtausenden westlicher politischer Theorie. Und sei es, dass spätere Philosophen sich nur an ihm rieben.
Platon: Der Staat. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger,
Reclam 2017, 579 Seiten, 12 €.