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Plausibel wie nie zuvor

Giacomo Meyerbeer, der Berliner, der nach Paris ging, prägte das Musiktheater des 19. Jahrhunderts. Am erfolgreichsten war seine Oper "Die Hugenotten", die nun zum ersten Mal unter Verwendung von Material aufgeführt wird, das vor der Uraufführung 1836 der Zensur zum Opfer fiel.

Von Frieder Reininghaus | 12.06.2011
    Der Luther-Choral "Ein feste Burg ist unser Gott" zieht sich wie ein Leitmotiv durch die "Hugenotten"-Oper des aus Berlin stammenden Komponisten, Dirigenten und Regisseurs Giacomo Meyerbeer. Zu den als Ouverture dienenden freien Variationen über den Bekenntnis-Choral tritt ein Tänzer mit nacktem Oberkörper vors Publikum und hält diesem herausfordernd eines jener Holz-Kreuze vor Augen, die später in der Duell-Szene und bei den Massakern auch als Schwerter fungieren. Das Kreuz zerbricht und der stumme Darsteller hält zwei dieser theologisch genutzten Marterinstrumente in die Höhe - ein klares Sinnbild für die Entzweiung der beiden Konfessionen, die seit den 1520er-Jahren blutig aufeinanderprallten.

    Mit der Grand Opéra von 1836 geht es um den Bruch des großen Versprechens französischer Politik, die katholische Mehrheit mit den Protestanten zu versöhnen, konkret um die Bartholomäusnacht 1572 und deren Vorgeschichte. Die wurde von Eugène Scribe und Meyerbeer in drei prächtige Tableaus gefasst. Das erste: Die Fest- und Trinkszene auf dem Landgut des Grafen von Nevers, zu der demonstrativ auch der protestantische Adlige Raoul geladen wurde und bei der dessen raubeiniger Diener Marcel auftaucht, dem Jérôme Varnier starkes Stimmgewicht verleiht. Da bahnt sich die Rivalität um die junge Valentine an.
    Das zweite Tableau: Château Chenauceaux, von dem aus die schöne Prinzessin Margot, die durch ihre Heirat mit Henri IV am Tag vor der Bartholomäus-Nacht zur Titularkönigin von Navarra avancierte - die legendäre Skandal-Szene, bei der Margot den inkognito herangeschafften Raoul vernascht, und mit dem Bad der Hofdamen. Der Regisseur Olivier Py lässt drei von ihnen ins Wasser steigen, wie Gott sie geschaffen hat. Eric Cutler erscheint als gut gebauter Raoul und völlig glaubhaft in seiner Rolle, zunächst noch etwas unsicher in der Intonation und auf Schonung der Stimme bedacht, die er dann in den letzten beiden Akten mit voller Wucht und hoher Pracht zum Einsatz gelangen lässt. Rundum makellos agiert und singt Marlis Petersen - ihre Marguerite de Valois dürfte gerade auch für Stimmfetischisten eine mittlere Sensation sein.
    Olivier Py nimmt den religiösen und religionskritischen Aspekt der Tragödie ernst. Auch die historischen und sozialen Komponenten. Die Kostüme von Pierre-André Weitz changieren zwischen der Mode des späten 16. Jahrhunderts und des frühen 19. Jahrhunderts, deuten ebenso wie seine flexiblen Bauteile, die Fassaden der Loire-Schlösser, des Louvre, der Hugenotten-Häuser an der Place des Vosges und im Pariser Marais zitieren, die Historizität an, ohne diese zu banalisieren.

    Eugène Scribe hatte im Lauf der Entstehung dieser gewaltig großen Oper auf Veranlassung Meyerbeers die Handlung von einer Liebesintrige im historischen Gewand zu einer "Historien-Oper" promoviert, in deren Gestaltung sehr präzise Ergebnisse der damaligen historischen Forschung Eingang fanden. Gerade aber die waren der 1835 in Paris wieder eingeführten Zensur ein Dorn im Auge.

    In die neue Brüsseler Fassung der "Hugenotten" wurden Passagen wieder eingefügt, die bereits vor der Uraufführung gestrichen werden mussten. Unter anderem, weil keine einst regierenden Herrscher von Frankreich kritisch gezeigt werden durften - später wurde die Handlung dieser Oper in den verschiedensten Städten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Am Théatre de la Monnaie tritt sie jetzt wieder auf - wenigstens als stumme Rolle: die Königsmutter, Intrigantin und Giftmischerin Catherine de' Medici, die in Kollaboration mit einem hochrangigen Vertreter der Kurie die Mordnacht einfädelt. Durch die Rekonstruktionen ergibt sich eine erhebliche dramatische Gewichtsverschiebung. Die Tragödie wird so plausibel wie bislang noch nie. Und das meistgespielte Werk des 19. Jahrhunderts erringt unter der Leitung von Marc Minkowski einen neuen Triumph. Auf nach Brüssel!