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Podium Esslingen 2019
Musik anders erleben

Das Podium Esslingen will mit neuen Formaten klassischer Musik einem jüngeren Publikum zugänglich machen. Auf dem diesjährigen 11. Festival wurde dazu ein buntes Kaleidoskop an Ansätzen für die Zukunft der Musik geboten. Vorbildung muss das Publikum dafür nicht mitbringen.

Von Helga Spannhake | 13.05.2019
    Abschlussskonzert Podium Esslingen 2019
    Weg von üblichen Konzertformaten - das ist das Ziel beim Podium Esslingen (Podium Esslingen/Sky Buerhaus)
    Steven Walter: "Oft sind ja musikalische Genres sehr voneinander getrennt. Es gibt die Neue Musik. Es gibt die Alte Musik. Es gibt die Klassische Musik. Es gibt die popkulturellen Welten und wir bringen wirklich alles zusammen in einzigartigen Formaten und entwickeln ganz neue Erlebnisformen anhand der Musik."
    So erklärt der künstlerische Leiter Steven Walter die Philosophie des Festivals: Vielfalt und sämtliche Ausdrucksformen der Musik zu etwas Einzigartigem zusammenzubringen - das Wagnis sich völlig dem Klang hinzugeben - das Staunen über die unglaubliche musikalische Vielfalt ebenso wie die Liebe zum Detail um schließlich das Erlebnis Musik neuzuentdecken:
    Rathausplatz Esslingen, Mittagszeit – acht im Kreis angeordnete Lautsprecher, einige Stühle in der Kreismitte – fertig ist der temporäre Konzertraum unter freiem Himmel:
    Kaan Bulak: "Das Stück das heißt 'Kara facile'. Das kann man übersetzen als 'Schwarze Suite', dass heißt es ist eine zyklische Kompositionsform in fünf Sätzen und das ist inspiriert von osmanischer Hofmusik."
    Beethoven heute
    Nach und nach füllen sich die Sitzplätze mit neugierigen Passanten. Komponist Kaan Bulak freut es. Die "Schwarze Suite" war sein Abschlusswerk an der Universität der Künste Berlin und jetzt ist er seit letztem Jahr einer der 12 #bebeethoven Fellows des Podiums Esslingen. 250 Jahre nach Ludwig van Beethoven wird hier gefragt, was eine globalisierte Welt mit der Musik macht. #bebeethoven-Projektleiter Lukas Onken:
    Lukas Onken: "Die Künstler, die drei Jahre jetzt an ihren Projekten arbeiten, die stellen eigentlich die Fragen nach der Zukunft des Musikschaffens und das ist super spannend. Also, wie gehen wir mit Technologien um, wie wird komponiert, wie wird interpretiert und das sind alles spannende Fragen, die uns jetzt betreffen. In der klassischen Musik geht es viel um Denkmalpflege und es gibt den rückwärtsgewandten Blick und wir suchen mit unseren Fellows nach Antworten für die Musik von morgen."
    "Zum Beispiel Quadrature, das Künstlerpaar, die die Weltraumdaten aus dem All zum Klingen bringen und mit einem großen Teleskop vor der Stadtkirche die Daten eingefangen haben und damit die Kirche beschallt haben. Das ist eins von vielen spannenden Projekten."
    Festival als Forschungsabteilung des Klassik-Betriebs
    Und soll Menschen für die Gattung Kunstmusik neu begeistern, so Festivalleiter Steven Walter:
    Steven Walter: "Wir können uns nicht einfach hinter unserem Repertoire oder den gestandenen Strukturen verstecken als junge Musikerinnen und Musiker, sondern wir müssen neue Öffentlichkeiten erschließen. Wir glauben, dass es einfach auch künstlerisch so viel Potenzial darin gibt und wir bespielen ja auch alle möglichen verschiedenen Orte. Es ist einfach ungemein spannend zu sehen, was da passiert und wie viele Menschen man neu begeistern kann für Musik."
    Ein Festival als Forschungsabteilung des Klassik-Betriebs mit aktuellen Themen wie der Erweiterung der menschlichen Kreativität durch Künstliche Intelligenz. Sicher können die Festivalmacher den Konzertbetrieb an sich nicht komplett neu erfinden, aber das Podium Esslingen ist ein äußerst experimentierfreudiges Festival und bietet ein buntes Kaleidoskop an spannenden Ansätzen für die Zukunft der Musik. Für Steven Walter wesentlich, denn Musik soll nicht nur hinter verschlossenen Türen für eine kleine eingeschworene Gemeinschaft stattfinden:
    "Sondern auch wirklich in die Öffentlichkeit hineinzugehen und auch Musik als eine Chance zu sehen, Gemeinschaft zu erleben, weil das ist etwas was nachweislich verloren geht. Der Zusammenhalt - der gesellschaftliche - bröckelt an vielen Fronten. Es gibt weniger Anlässe, um zusammenzukommen und wir wollen das unsrige tun, um zumindest die Chance zu schaffen, dass diese Gemeinschaft erlebt wird. Podium ist ein europäisches Projekt. Hier kommen Musiker und Musikerinnen aus ganz Europa zusammen, das ist undenkbar ohne diese Form der auch Komplexität und Vielstimmigkeit Europas."
    Das Festival und Europa
    Das Podium Esslingen hat Europa fest im Blick – auch mit dem Symposium "Lost in Beethoven". Ausgehend von Ludwig van Beethovens Idealen im Geiste des europäischen Zeitalters der Aufklärung diskutierten Künstler, Wissenschaftler und Politiker über mögliche heutige Visionen: Wie können wir Europa neu denken und gestalten und welchen Beitrag können Kunst und Musik dabei leisten. Lukas Onken:
    "Das, was ich mitgenommen habe, war, dass Europa wirklich ein kleiner Anhang dieses großen Kontinents Asiens ist und dass es sozusagen noch absurder ist, zu meinen, dass wir die Lösung im klein klein suchen, sondern dass es schon wichtig ist, dass wir uns als Europäer sehen."
    So hieß denn auch der Thementag "Zusammen! Halt!": Was bedeutet das konkret in der Stadt Esslingen. Was bringt die Gesellschaft zusammen, wo gibt es Probleme. Erkundet wird das über das große Musikprojekt "ZauberBurg". Regisseur und Dramaturg Jeffrey Döring:
    "In 'ZauberBurg' versuchen wir, anstatt, wie sonst, Musik nach Esslingen zu bringen, Musik aus Esslingen heraus zu erschaffen und zu kreieren und eine Komposition auf der Basis von Biografien und Geschichten von Esslinger Bürgern zu entwickeln."
    Ziel ist es, im Mai 2020 eine Komposition zu präsentieren. Seit März ist Jeffrey Döring unterwegs und recherchiert bei den Bürgerinnen und Bürgern:
    "Was versetzt sie besonders in Staunen, aber auch Themen, wie wo fühlen Sie sich unsicher oder unwohl. Wir haben eben auch versucht jetzt auch erst ein bisschen in die Breite zu wirken, also sehr junge Leute zu fragen, ältere Menschen, Leute mit Migrationshintergrund, Geschlechterdivers."
    Keine musikalische Vorbildung nötig
    Neugier und die Offenheit des Publikums ist der Antrieb der Festivalmacher. Beim Podium Esslingen brauchen die Zuhörer keine Vorbildung, denn Musik soll sich auch immer auf sinnlicher Ebene erschließen lassen – Musik spielt mit dem Ort und der Ort mit der Musik. Daher war auch das Abschlusskonzert in einer Druckereihalle besonders:
    "Einer unserer Fellows, der Inigo, der kümmert sich um neue Konzertformate und der hat hier die Druckerhallen mit großen Noten ausgestattet, die von der Decke hängen und das Publikum wandelt durch diese Noten und durch die Musiker durch und es ist ein sehr vielfältiges Erlebnis mit allen Sinnen."
    Die Konzertbesucher dürfen sich dann doch während des Musikstücks auf bereitstehende Stühle setzen, denn wenn alle gleichzeitig herumgelaufen wären, wäre sicher keiner mehr irgendwo durchgekommen. So verfolgt das sitzende Publikum die Bewegungen der Musiker. Ihre benötigten Noten hängen teils als langes Band vor ihnen und spielend wandern sie daran entlang. Nicht so einfach für die Instrumentalisten Noten und Dirigent in der Mitte des Raumes stets im Auge zu behalten und auch das Publikum dreht interessiert die Köpfe hin und her. Die Ohren aber erleben einen harmonischen Raumklang sowie eine besondere Klangfülle:
    Die Mission Neues für die Ohren ist in Esslingen geglückt. In unserer Zeit der technologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Umwälzungen braucht eben auch die altehrwürdige Kunstmusik für ihr Weiterbestehen unbedingt neue künstlerische Ideen, Ansätze und zukunftsweisende Formate – ein Anspruch, dem sich das Musikfestival Podium Esslingen jedes Jahr aufs Neue stellt und der auch diesmal voll und ganz erfüllt wurde.