Mittwoch, 24. April 2024

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Pöbler bei Merkel-Reden
"Wir machen alle Fehler im Umgang mit Rechtspopulismus"

Angela Merkels Wahlkampfreden etwa im brandenburgischen Finsterwalde werden momentan massiv gestört. Ökonomisch motivierter Fremdenhass sei aber nicht bloß ein ostdeutsches Problem, sagte die Schriftstellerin und Journalistin Jana Hensel im Dlf. Er artikuliere sich dort nur lauter.

Jana Hensel im Gespräch mit Stefan Heinlein | 13.09.2017
    Ein Demonstrant protestiert am 06.09.2017 in Finsterwalde (Brandenburg) auf dem Marktplatz gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) während einer Wahlkampfveranstaltung der CDU mit einem Aufkleber auf seiner Stirn. Foto: Ralf Hirschberger/dpa-Zentralbild/ZB | Verwendung weltweit
    Der Tonfall ist nicht zimperlich, der Angela Merkel momentan in Finsterwalde und an anderen Wahlkampf-Stationen entgegenschlägt. (dpa / picture alliance / Ralf Hirschberger)
    Stefan Heinlein: Egal ob Bitterfeld, Wolgast oder Finsterwalde – tief in der ostdeutschen Provinz hat es die mächtigste Frau der Welt derzeit besonders schwer. Kein Wahlkampfauftritt von Angela Merkel ohne massive Störungen. Auf den Marktplätzen Pfiffe und Buh-Rufe. "Merkel muss weg!", so die hasserfüllte Parole. Eine blinde Wut einer lautstarken Minderheit auf die Kanzlerin, meist deutlich aggressiver als in den alten Bundesländern.
    Die ostdeutsche Publizistin und Journalistin Jana Hensel hat einen Wahlkampfauftritt von Angela Merkel in Finsterwalde in Brandenburg verfolgt und daraufhin im Netz bei den Kollegen von "Zeit Online" einen offenen Brief an die Kanzlerin geschrieben. Über eine halbe Million Mal wurde er bereits angeklickt. Guten Morgen, Frau Hensel.
    Jana Hensel: Hallo! Guten Morgen.
    "Sie war selber, glaube ich, sehr geschockt"
    Heinlein: Was war da los in Finsterwalde? Was haben Sie dort erlebt beim Auftritt von Angela Merkel?
    Hensel: Wie gesagt, Finsterwalde ist eine Stadt in der Niederlausitz, nicht besonders groß, aber doch mit einem ganz prächtigen Marktplatz – große Bühne, CDU. Die Kanzlerin kam, der Platz war gut gefüllt, und in dem Moment, in dem sie den Platz betritt, fing eine Gruppe von Leuten, 40, 50 Leute an, mit Trillerpfeifen und Buh-Rufen auf die Kanzlerin zu reagieren. Ich selbst war quasi direkter Zeuge dieses Ausbruchs von verbaler Gewalt.
    Angela Merkel ging dann auf die Bühne, fing an zu sprechen. Ich lief mit ihr mit vorne zur Bühne und merkte, dass sie selber, glaube ich, sehr geschockt war. Sie wirkte sehr geschockt und hat dann eigentlich über die ganze Dauer ihres Auftrittes, 45 Minuten lang, diesen Schock eigentlich nicht abschütteln können.
    Das habe ich versucht zu beschreiben. Ich habe versucht, diese Atmosphäre auf diesem Marktplatz zu beschreiben, weil ich, wie ich immer zwischen beiden, Buh-Rufern und der Kanzlerin, hin- und herlief, eigentlich das Gefühl hatte, es waren sehr viele Menschen auf den Marktplatz in Finsterwalde auch in ganz friedlichen Absichten gekommen und die hätten ein Signal der Kanzlerin gebraucht. Ich glaube, die haben auf ein Signal gewartet, und Frau Merkel war es nicht möglich, in dem Moment dort auf die Buh-Rufe zu reagieren.
    Unsicher, ob man mit Pöblern ins Gespräch kommen kann
    Heinlein: In Ihrem Brief, Frau Hensel, haben Sie ja dann Angela Merkel aufgefordert, die Pöbler und Randalierer anzusprechen und eben nicht zu ignorieren. Warum halten Sie das für sinnvoll? Ist ein Dialog mit diesen Menschen tatsächlich möglich?
    Hensel: Ich sage zweierlei in dem Brief. Erst mal beschreibe ich den Schock von Angela Merkel als eine sehr menschliche Reaktion. Ich will sie gar nicht dafür kritisieren. Auch deswegen habe ich das vielleicht etwas ungewöhnliche journalistische Format eines Briefes gewählt. Ihre Reaktion fand ich sehr menschlich.
    Ich glaube, es ist zweierlei zu tun. Ich bin mir nicht sicher, ob man auf diese Pöbler, auf diese Trillerpfeifen-Leute – das ist verbale Gewalt –, ob man auf die tatsächlich reagieren kann, ob man mit denen ins Gespräch kommen kann. Ich bin mir da nicht sicher. Aber ich habe die große Menge an Menschen gesehen, Familien, Rentner, Schüler, ältere Leute, Kinder, die in ganz friedlichen Absichten gekommen waren, und ich glaube, die brauchen ein Signal. Mit denen muss man sich verständigen, weil dieser rechtspopulistische Diskurs – und da möchte ich Ihnen widersprechen – nicht nur im Osten, im Osten artikuliert er sich lauter, aber auch im Westen, weil er, glaube ich, gerade in ländlichen Regionen zu einer gewissen Alltagskultur gehört, und wir müssen die Leute ermutigen.
    Anruf von Merkel: "Mir schien, dass sie nach Lösungen sucht"
    Heinlein: Über die Ost-West-Frage müssen wir gleich, Frau Hensel, noch mal reden. Zunächst die Frage: Sie haben ja die Bundeskanzlerin in Ihrem Brief direkt angesprochen. Hat Angela Merkel reagiert auf Ihren offenen Brief?
    Hensel: Noch mal: Ich habe sie direkt angesprochen, weil ich ihr Tipps geben wollte, oder nicht Tipps geben wollte, ich wollte sie nicht dafür kritisieren. Es war eine ganz menschliche Reaktion. Und ja, wenn Sie mich so fragen. Ja, sie hat mich angerufen. Der Brief ist am Donnerstagabend auf "Zeit Online" erschienen, hatte sofort unglaublich viele Leser, und am Freitagmittag hat sie mich angerufen, ja.
    Heinlein: Und was hat sie gesagt? Wie hat sie reagiert?
    Hensel: Erst mal war ich natürlich sehr überrascht, dass sie so schnell reagiert. Ich habe mich natürlich auch sehr gefreut. Sie wollte sich noch einmal mit mir austauschen über das, was ich da gesehen hatte. Ich glaube, sie selbst war bestürzt über das, was sie da erlebt, und auch über das, was ihr widerfährt, und mir schien es, dass sie da nach Lösungen sucht. Mehr will ich jetzt eigentlich gar nicht sagen.
    "Wir alle machen Fehler im Umgang mit Rechtspopulismus"
    Heinlein: Hat sie denn, Frau Hensel, ein Rezept gefunden gegen diese verbalen Angriffe gerade in den neuen Bundesländern? Oder ist sie da weitgehend ratlos?
    Hensel: Soweit ich das verfolge, versucht sie ja jetzt - - Wissen Sie, erst mal muss man sagen: Großer Respekt für Frau Merkel, dass sie in diese ländlichen Räume fährt, dass sie sich in diese Städte und Dörfer stellt. Davor habe ich großen Respekt. Nun hat sie ja auf ihren weiteren Auftritten tatsächlich versucht, darauf zu reagieren und das zu thematisieren. Ich glaube aber, um ein bisschen von Angela Merkel wegzukommen: Wir alle müssen da lernen und auch deswegen habe ich das so aufgeschrieben. Wir machen im Moment alle Fehler in unserem Umgang mit Rechtspopulismus. Oder anders gesagt: Wir sind alle dabei, das gerade zu lernen. Wir müssen das als Gesellschaft lernen, damit umzugehen, und wir müssen uns auch darin eingestehen, dass wir mitunter scheitern.
    Heinlein: Sie haben gesagt, Sie haben mir widersprochen, als ich sagte, die Wut auf Angela Merkel ist besonders groß und die Aggressivität in Ostdeutschland, in den neuen Bundesländern. Ist dieser Eindruck tatsächlich falsch? Man kann schon den Eindruck gewinnen, dass Angela Merkel tatsächlich die Hassfigur ist im Osten, vielleicht gerade, weil sie aus dem Osten kommt und den Menschen nicht so egal ist wie vielleicht ein Martin Schulz oder ein Cem Özdemir.
    Hensel: Ich gebe Ihnen Recht. Aber zu sagen, Angela Merkel ist die Hassfigur im Osten, das ist falsch. Das ist zu pauschal. Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen, und das sind AfD-Anhänger, ganz klar. Das sind ehemalige NPD-Anhänger. Für die ist Angela Merkel eine Hassfigur. Aber lassen Sie mich sagen: Es ist der Hass und die Wut, die sich im Osten vor allem artikuliert auf den Straßen. Wenn Sie einer Alice Weidel zuhören, wenn Sie dem Spitzenpersonal der AfD zuhören – das sind alles Westdeutsche –, dann wird dieser Hass auf Angela Merkel dort formuliert, und die Menschen tragen ihn dann auf die Straße. Da gibt es also meiner Ansicht nach keinen Unterschied zwischen dem AfD-Umfeld in Ost und West. Im Osten wird es artikuliert, ja.
    Merkel kriege als Gesicht der Flüchtlingskrise den Hass ab
    Heinlein: Dennoch ist die ostdeutsche Kanzlerin, die Kanzlerin aus der Uckermark eine Art Symbol vielleicht für viele enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen, die es heute noch gibt, auch über 27 Jahre nach der politischen Wende?
    Hensel: Natürlich ist es etwas anderes. Oder vielleicht: Ja, es ist etwas anderes, wenn die Kanzlerin, eine Ostdeutsche, durch Ostdeutschland reist. Aber noch mal: Fragen wir uns, wo entsteht diese Wut, wo kommt die her. Die hat sich in der Flüchtlingskrise entzündet. Dort ist sie durch Pegida zum ersten Mal artikuliert worden. Die AfD politisiert sie, trägt sie wahrscheinlich auch ins Parlament. Aber es ist eine alte Wunde. Man kann davon ausgehen, dass diese AfD-Anhänger in den 90er-Jahren politisiert worden sind. Wir erinnern uns: In den 90er-Jahren fand Rostock-Lichtenhagen statt, fand Hoyerswerda statt. Der ökonomisch motivierte Fremdenhass in Ostdeutschland ist ein Phänomen der 90er-Jahre und der hat sich in der Flüchtlingskrise neu entzündet, und Angela Merkel ist nun mal die Figur, das Gesicht quasi der Flüchtlingskrise. Deswegen entzündet es sich an ihr.
    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen die Schriftstellerin Jana Hensel. Gerade ist ihr erster Roman "Keinland" erschienen, hoch gelobt von der Kritik. Frau Hensel, vielen Dank für Ihre Zeit und auf Wiederhören.
    Hensel: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.