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Poesie auf Bestellung

Lyrik hat es schwer. Lyriker sind ihre eigenen, sind die einzigen Leser von Lyrik – so lauten die gängigen Vorurteile gegenüber zeitgenössischer Dichtung. Vorurteile, die so ganz unberechtigt nicht sind. Da die großen Verlagshäuser wie alle Wirtschaftsunternehmen heute unter enormem Kostendruck stehen, verwundert es nicht, dass sie aktueller, zumal: deutscher Lyrik immer weniger Platz einräumen.

Von Enno Stahl | 21.07.2004
    Dieser ökonomischen Engpass-Situation steht eine Flut von moderner Qualitätslyrik gegenüber, deren Veröffentlichungschancen drastisch sinken. Selbst vergriffene Gedichtbände hochberühmter Autoren wie Elfriede Jelinek und Günter Kunert werden nicht automatisch neu aufgelegt, ganze Epochen deutschen Dichtguts drohen im Orkus zu verschwinden. Was tun?

    Eine Antwort entwickelte Wolfram Göbel, Leiter der Münchener Buch & Media-Verlagsgesellschaft, mit Heinz Ludwig Arnold, langjährigem Herausgeber der Zeitschrift Text & Kritik sowie diverser Anthologien zur Gegenwartsliteratur. Sie begründeten mit der Lyrik-Edition 2000 eine Book-on-Demand-Reihe, deren Titel immer verfügbar sein werden. Heinz Ludwig Arnold erläutert die Vorteile des Verfahrens:

    P.O.D. ist ja, wie gesagt, "printing-on-demand", heisst: Sie können etwas drucken, wenn es angefragt wird. Sie müssen nicht einen Gedichtband oder ein Buch, das wenig Käufer zu finden droht in einer Auflage von 1000-2000 vordrucken und lagern, sondern Sie nehmen es auf ein Master, speichern es im PC, arbeiten es ein, und haben so jederzeit eine Möglichkeit, das Buch, wenn es bestellt wird, aus dem PC abzurufen und es drucken zu lassen. Das heißt, Sie haben keine großen Kosten mehr als Verleger, sondern können mit kleinen Kosten ein relativ reichhaltiges Programm machen.

    In der Tat sind die Spannbreite und Umfang des Programms beachtlich, zur letzten Buchmesse erschienen 14 Lyriktitel auf einmal. Das gesamte Lieferspektrum der im Jahre 2000 gegründeten umfasst inzwischen knapp 70 Bücher. Wie kam es zu dieser immensen Ausweitung der Produktion und wie sieht die rechtliche Seite des B.o.D.-Publishings aus?

    Ich hab ja mal angefangen, reine Lizenzen zu machen, nur um alte Gedichtbände, die ich für wichtig gehalten habe, hinein zu nehmen, in die Lyrikedition, um zu sagen, "Hier, das ist die ganze Bandbreite, die wir haben wollen!" Mehr und mehr kamen aber jetzt junge Lyriker mit den Bänden – und immer mehr kommen sie dazu – und wir machen ja fast nur noch neue Bände, die alten Bände, die wir wieder auflegen, von denen ich so ein paar noch auf der Liste habe, werden immer weniger, und wir machen mit denen regelrechte Autorenverträge. In dem Moment aber, in dem sie, wie im Falle Björn Kuhligk das gewesen war, dass sie einen Gedichtband nun bei uns vorweisen können und dann kommt ein Verlag wie der Berlin Verlag und sagt: "Du hast’n wunderbaren Gedichtband, wir wollen deinen zweiten Gedichtband haben!", würden wir denen auch die Rechte für den ersten Gedichtband wieder abtreten. Wir wollen nur die Masterkosten dafür haben, die drin gewesen sind, aber das ist relativ wenig. So: dahinter steckt für mich als Herausgeber natürlich auch die Idee – ich weiß nicht, ob der Verleger da andere Ideen hat -, aber als Herausgeber möchte ich einfach Dinge, die sonst nicht geschehen würden, nämlich Gedichtbände drucken können, veröffentlichen können, um so auch vielleicht die Verlage doch zu drängen, mit irgendeinem dieser Lyriker und Lyrikerinnen einen normalen Vertrag zu schließen. Das war mal so’ne Zwischenidee und die hat ja auch funktioniert, aber inzwischen komme ich auch zu der Meinung, warum sollten wir uns als P.O.D. verstecken? Das ist ja’n normales Verlagsverfahren, nur dass wir eben, wie gesagt, nicht tausend Bände auf einmal drucken und auf Lager legen, sondern dass sie abgerufen werden können.

    Wie reagiert der Buchhandel?

    Also, die haben erst das abgewehrt, aber dadurch, durch die Tatsache, dass Sie in den Katalogen sind (CUT: also Kochneff u. auch hier bei Libri), werden die natürlich wahrgenommen wie’n normales Buch. Und der Buchhändler bestellt, wenn jemand in den Laden kommt und zeigt das: "Möchte haben!" Aber eins ist natürlich auch der Fall: die bestellen keine Sachen in Kommission, denn in Kommission können sie nicht bestellen, denn dann müssen sie’s abnehmen gleich, und auf eigene Rechnung kauft der Buchhändler selten. Das ist zugegeben ein Manko, und der Verlag (CUT: macht) kann nicht hundert Exemplare auf eigene Rechnung sozusagen drucken und an die Rezensenten schicken und an den Buchhandel verteilen, also, das geht halt nicht.

    Die Vertriebsmöglichkeiten sind also etwas beschränkt, der klassische Vertreter wird die Bücher der Lyrikedition nicht in sein Ansichtssortiment mit aufnehmen. Im Buchhandel sind die B.O.D. eher unter repräsentiert. Aber dort spielen Gedichte ohnehin eine verschwindende Rolle. Hat die mangelnde ökonomische Präsenz Konsequenzen für die Zukunft der Lyrik?

    Naja, Sie haben heute Lyriker, die verkaufen natürlich ihre Sachen noch weiter, also Sarah Kirsch oder was, hat noch immer relativ hohe Auflagen, hatte früher noch sehr viel größere Auflagen, F.C. Delius hat immer noch, seine ganzen Bücher sind im Taschenbuch bei Rowohlt da, da gibt’s überhaupt keine Probleme. Aber es gibt `ne ganze Reihe von Lyrikern, die haben nur noch ne Bibliografie, und da hab ich eben auch gedacht (CUT: Rolf Hauffs zum Beispiel, alte Bücher, alte Bände..), die aufzunehmen wäre schon ganz wichtig.

    Dass die wirtschaftliche Lage einem mangelnden gesellschaftlichen Bedürfnis nach Lyrik entspräche, sieht Arnold aber nicht, im Gegenteil, er betrachtet ihre kulturelle Bedeutung als ungebrochen. Nicht an ihr liegt es, dass sie ins Abseits gedrängt wird:

    Also die Verlage haben die Lyrik ja selbst marginalisiert aus ökonomischen Gründen, das muss man einfach sagen. Andererseits wird sehr viel Lyrik geschrieben und es wird auch sehr viel Lyrik gelesen. Über den Rap, Rave undsoweiter kommt ja jetzt sehr viel Lyrik, die direkt vorgetragen wird, die lyrische Form also, sagen wir: die Kurzform der Expression, die ist schon sehr verbreitet, aber nicht alles wird da eben gedruckt.

    Gedruckt wurde, dank der Lyrikedition, beispielsweise René Hamanns erster Gedichtband Neue Kokons. Seine Texte experimentieren mit komplexen Montage- und Schnittverfahren. Mit Werbeclips, Foto-Stills, einer "vielfalt gecasteter situationen" scheinen seine Gedichte eine andere, eine höhere Form der Popliteratur anzustreben, als man gemeinhin mit diesem Begriff verbindet, Hamann erläutert, welches seine Bezugspunkte sind:

    Es gibt da halt zwei große Felder, die mich persönlich da interessieren. Das ist tatsächlich auf der einen Seite Film und auf der anderen eigentlich Pop-Musik. Das ist ganz klar, das hat auch Sozialisationsgründe, das sind halt die zwei Massenmedien, die man halt als junger Mensch um sich herum hat. Lyrik ist da eigentlich anders, einfach ne schöne Bewegung mit dieser kleinen, dieser ganz kleinen Kunst es irgendwie so mit den großen Künsten aufnehmen zu wollen.

    Wie sieht Hamanns spezielle Methode aus, filmische oder popkünstlerische Techniken literarisch adaptieren?

    Naja, das hat ja inzwischen doch eine recht lange Tradition der Versuch, Filmtechniken in Schrift irgendwie zu übersetzen, der Versuch mit Abfolgen von Szenen zu arbeiten, bestimmten Schnittechniken undsoweiter, man kennt von Döblin bis hin durch die Sechziger. Ganz am Anfang habe ich halt sehr viel mit Cut-up-Techniken gearbeitet, Texte zusammen gestellt aus Fragmenten aus irgendwelche anderen Texten, und dann versucht, also Sinneinheiten, die eigentlich voneinander unabhängig sind, miteinander in Einklang zu bringen. Über die Beschäftigung mit Filmtheorie ist mir halt aufgefallen, dass Film im Prinzip sehr ähnlich arbeitet, dass man halt ne Szene hat und dann kommt noch eine Szene, und wenn man jetzt jede Szene für sich betrachtet, machen sie erst in einer bestimmten Abfolge und einen bestimmten Schnittechnik Sinn.

    Das führt Hamann zu Gedichtanfängen wie diesem: "anfangs-einstellung: eine blondine überquert ungeschüttelt, -schnitten/ von links n. rechts bei rot die ampel/ die vorführung läuft so ab: ton zum mann, 1. regel, 2. regel: der film ist in mehrere akte eingeteilt./ erst rot, dann blau, dann grün, orange, lila, weiß & farblos. koppeln, spulen, einlegen." Das Leben als Cinematograph. Medien und ihre Allgegenwart sind auch für Nikola Richters Debutband ein Zentralmotiv, Kommunikation und Technik, sehr fortschrittliche Themen also, bilden die Ausgangsperspektive ihrer Lyrik:

    Man ist ständig umgeben von irgendwelchen elektrischen Geräten, von Informationen, von Daten und so weiter, also alles wird schneller. Mein Band hat auch den Titel "roaming", der sich auf so `ne bestimmte Technik bezieht, wie ein Sender Frequenzen sucht, nämlich nach eigentlich Beliebigkeit. Also es geht eigentlich darum, in einem guten Netz zu landen und das ist eigentlich der Konflikt, der mich interessiert. Alles wird beliebig, die Kommunikation ist wichtig, trotzdem wird nach so `ner Sicherheit gesucht, also nach gutem Empfang, wir suchen alle den guten Empfang.

    "Roaming", englisch für: "umherwandern, umschweifen", hebt auf das grenzübergreifende Netz der Funktelefone ab, die Möglichkeit, jederzeit und überall per Handy erreichbar zu sein. Gleichzeitig sind die Bedingungen echten Verständnisses gestört:

    In den Texten bei mir geht es zum Beispiel um Paare, die sich dann kurz treffen, wo dann sozusagen der Empfang stimmt, und dann sind da sozusagen so Sendelöcher, wenn man in diesen Metaphern weiter denken will, dann bricht es eben ab. Da ist eben eine ständige Unverbindlichkeit da, die vielleicht überdeckt wird von einer emotionalen Nähe, wo Kommunikation möglich ist.

    Das klingt nach einem klassischen Frauenthema, Sprache und Machart der Gedichte selbst gehen aber in erzwitziger Weise darüber hinaus, der Ton ist prinzipiell ironisch, mitunter frech und rotzig: "so gimme shelter, baby, und stell dein einziges brusthaar gerade./ produziere eine schattenlinie mit deinen angespannten hals- und schultermsukeln. Das ist so plastisch/ in dieser großartigen kulisse mit historischen gebäuden/"

    Während diese Paperback-Bände schon noch etwas nach Book-On-Demand aussehen, kann sich Wilhelm Bartschs Hardcover "Gnadenorte Eiszeitwerfen" durchaus sehen lassen. Hier weist fast nichts mehr auf die Machart. Bartsch, Jg. 1950, ist ein bedeutender Lyriker mit DDR-Background, und seine sprachgewaltigen Texte rekurrieren auf ein ganzes Pandämonium literarischer und mythologischer Referenzfiguren. Als "Reisender in Löschpapier" wandelt er durchs heilige Irland, travestiert mal als Abt Brendan, den man wahlweise auf den Trinker und Dramatiker Behan beziehen mag oder den katholischen Heiligen. Doch auch bei Bartsch hat die elektronische Moderne Einzug gehalten, "Windows 2000" heißt ein Gedicht, das allerdings die visionären Aussichten der Propheten des Digitalen nüchtern herunter bricht: "Ich – selbst ein Standbild im Fenster – seh‘ vis-avis, wenn es Nacht wird/ keuln auf dem Laufband den Mann. Keiner von uns kommt vom Fleck."
    Dieses techno-skeptische Bekenntnis passt nur zu gut in die Lyrikedition 2000, die trotz aller Zukunftsgewandtheit eine Vielfalt von Stimmen bewahrt. So möchte man Heinz Ludwig Arnold Erfolg wünschen, wenn er als Zielperspektive seiner Unternehmung formuliert:

    Eigentlich das weiter zu machen, was sie jetzt macht. Neues zu entdecken, die Verlage vielleicht dadurch zu reizen, sich doch das ein oder andere anzuschauen, und mit den Autoren unter Umständen dann auch einen Vertrag zu machen. Also ich will schon auch Druck dadurch machen auf die anderen Verlage, dass die dann vielleicht sehen: "Hei, vielleicht ist doch was mit der Lyrik los!", vielleicht steigen die dann doch wieder ein bisschen stärker ein.

    René Hamann
    Neue Kokons
    Paperback, 72 S., EUR 8,50

    Nikola Richter
    Roaming
    Paperback, 96 S.,, EUR 9,50

    Wilhelm Bartsch
    Gnadenorte Eiszeitwerfen
    Wilhelm Bartsch Buch & Media, 124 S., EUR 22,90