Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Poesie aus Vogeldreck

Peter Rühmkorfs neuer Gedichtband widmet sich in großen Teilen einem einzigen Gegenstand: dem "Paradiesvogelschiss". So bezeichnet Rühmkorf die Inspiration, das also, was dem Dichter wie aus heiterem Himmel in oder auf den Kopf fällt. Was er damit anzufangen weiß, das macht den Dichter aus.

Von Martin Ebel | 02.05.2008
    Wenn der Dichter sich im Garten ergeht und lang genug wartet, dann küsst ihn die Muse; flugs eilt er ans Schreibpult und schreibt das fertige Gedicht hin, ein Meisterwerk natürlich. So stellt sich Klein Fritzchen das Dichten vor, und in einem von tausend Fällen mag sich das auch so abspielen. In der Regel spielt es sich aber ganz anders ab. Und so schwer es überhaupt zu erklären ist, woraus die besondere Wirkung eines lyrischen Textes besteht, diese unauflösbare Einheit von Sinn und Sang, Klang und Bedeutung, so schwer lässt sich nachzeichnen, wie es zu dieser Verschmelzung kommt.

    Generationen von Literaturwissenschaftlern haben sich an der Magie einer Strophe von Goethe oder Benn abgearbeitet, ohne das Rätsel so aufzulösen, dass alles aufgeht. Sogar Computern hat man die schönsten poetischen Früchte zum analytischen Fraß vorgeworfen, ohne dass mehr herauskam als ein paar statistische Auffälligkeiten. Zum Nachmachen sind die Rechenmaschinen schon gar nicht geeignet.

    Warum nicht die Dichter fragen? Nun, die wenigsten mögen Auskunft geben. Berufsgeheimnis! Peter Rühmkorf ist einer von denen, die sich bewusst damit auseinandersetzen, was sie da fabrizieren: und vor allem, wie sie es fabrizieren. Und das plaudert er sogar gerne aus. Vor Jahren hat er einmal die Entstehung eines einzigen Gedichts verfolgt und dokumentiert, in allen Einzelheiten und Einzelschritten. Das ergab einen starken Band von 700 Seiten, der ein für allemal mit dem Vorurteil aufräumte, der Einfall sei alles. Nein: alles liegt an der Verarbeitung.

    Rühmkorfs neuer Gedichtband widmet sich in großen Teilen demselben Gegenstand, zwar nicht so erschöpfend wie damals, aber programmatisch, ausführlich und anschaulich. Und vor allem viel, viel unterhaltsamer.

    "Paradiesvogelschiss": schon der Titel ist ein genialer Fund - pardon, eine geniale poetische Ausarbeitung. Als "Paradiesvogelschiss" bezeichnet Rühmkorf nämlich die Inspiration, als etwas also, das ihm wie aus heiterem Himmel zufällt; nur ein "Schissdreck" auf gut Hamburgisch, aber doch von besonderer, von paradiesvogelhafter Herkunft. Was er aber damit anzufangen weiß: Das eben und erst das macht den Dichter aus.

    Rühmkorf baut auf seine originelle Metapher erst einmal "Die Ballade von den geschenkten Blättern" auf, das große Eröffnungsgedicht des Bandes. Erzählt, wie er den Vogeldreck im Garten liegen lässt, ein Jahr, noch ein Jahr, und wie erst im dritten aus dem Kern, der darin verborgen gewesen sein muss, sich ein "ärmlich Spross" erhebt, zum Stängel heranwächst, Blätter bildet und mir nichts dir nichts als imposanter Baum das ganze Haus in den Schatten stellt. Als der Dichter diesen Baum fällen will, beginnt der nach Märchenart zu sprechen und outet sich als Inspirationsreserve: Auf jedem seiner Blätter sei ein goldener Spruch verzeichnet. Dieser Sprüche möge sich Rühmkorf doch in mageren Zeiten bedienen: "Und wenn du sie einsäckelst Fitz für Fitz,/ selbst die schrägen und scheinbar verrenkten,/ und es mangelt dir eines Tages an Witz,/ dann greif nur zurück auf deinen Besitz,/ und es knattern wie eh die Poengten." Ja, die knattern wie eh und je auf diesen Seiten, obwohl es dem Dichter hier durchaus weniger darauf ankommt als früher. Klar, er will uns immer noch verblüffen und staunen machen mit poetischen Effekten, die keiner der Heutigen sonst beherrscht, mit Reimen, die sonst niemand findet (oder wagt). Da reimt sich "düstres" auf "illüstres", "Mazurken" auf "Gummigurken", "Scheitel" auf "Staubsaugerbeutel" und, Krönung im allerletzten Gedicht, das Zeilenpaar "das isses/ etwas relativ Sui-generisses", diese Verbrüderung von Bildungslatein und Strassengeläufigkeit. Auch "verrenkten" und "Poengten", wir hatten es eben, ist ja nicht schlecht.

    Aber derlei lyrische Auftrumpferei betreibt Rühmkorf nur wie nebenbei. Ihm geht es, in der einen Hälfte des Bandes zumindest, um das Anfangsstadium des dichterischen Prozesses selbst, also um die Phase, die zwischen Paradiesvogelschiss im Urzustand und den ersten Stängelchen und Blättchen liegt. Über 80 Seiten dokumentiert Rühmkorf solche Fundstücke, Einfälle, poetisches Ausgangsmaterial, meist nicht mehr als ein Zweizeiler, oft auch nur eine Zeile oder ein Reimpaar. Dem ist, ähnlich wie in Beethovens Skizzenheften, noch überhaupt nicht anzusehen, zu welch prächtigen Bäumen sie sich einmal auswachsen können. Woraus zu lernen ist: Giessen und Beschneiden sind die wichtigsten poetischen Gärtnerarbeiten.

    Ein wichtiger Unterschied zum Gärtner allerdings: Hat der sich mal verschnitten, ist nicht mehr viel zu retten. Der Dichter dagegen kann verwerfen, ausprobieren, neu ansetzen, ein Dutzend Mal, wenn es sein muss. Stöße von Papier können dabei draufgehen - der Computer erleichtert diese Arbeitsphase mit der DELETE-Taste erheblich und materialschonend -, bis das künstlerische Gewissen seinen Segen gibt oder, in Rühmkorfs ironischen Worten: "bis die Muse spricht / das Gedicht ist dicht." Allerlei Undichtes, Noch-nicht-Dichtes zeigt Rühmkorf hier in seinem neuen Band, ohne dass wir den Respekt vor dem Wort-Arbeiter verlieren müssten, ganz im Gegenteil. Denn aus dem "Schissdreck" etwas rechtes zu machen: Das ist schließlich das Eigentliche. Fertige, "dichte" Gedichte gibt es auch in diesem Band, drei Dutzend an der Zahl, und merkwürdigerweise wirken sie, wenn man die Werkstattabfälle vorher gelesen hat, ihrerseits so locker hingeworfen, als hätten sie gar keine Arbeit nötig gehabt. Das heißt: Selbst wenn man Einblick in den Schöpfungsprozess erhält, wenn man gewissermaßen bei einer umgekehrten Anatomiestunde dabei war, und zusehen durfte, wie sich ein Haufen Knochen zum Skelett anordnet, wie sich darauf Muskeln, Blutgefässe und innere Organe legen , so wächst dem fertigen, dem dichten Gedicht doch wieder eine Haut aus Rätsel zu, ist es, einmal fertig, wieder unbegreiflich.

    Wovon aber spricht der Dichter in diesem Band, außer vom Dichten selbst? Vom Altern vor allem, vom Altern als Mensch, als Mann und als Dichter. Und das findet er durchaus nicht komisch, auch wenn es gern so daherkommt. Galgenhumor ist es, der etwa aus folgenden Zeilen spricht: "Als ich endlich war, / was ich früher einmal hatte werden wollen, / wohl gelitten, gern gelesen, / waren meine besten Zeiten offenbar / schon gewesen." Das kann man sich nicht schönreden: "Irgendwann ist die Klassik zu Ende / und die ganz normale Verkalkung beginnt." Aber für einen grimmigen Vers, eine witzige Volte gibt das Alter gerade guten Stoff her; Rühmkorf nimmt es mal kämpferisch, mal melancholisch, aber nie larmoyant. "Alter, kleb die Zähne fest", ermahnt er sich, "und dann wird zugebissen." Auch eine Portion saloppe Lebensphilosophie hat er zu bieten: "Es gibt nichts Wahreres / als nett verbrachte Vanitas / Vergiss die Gegenwart und freu dich des Gehabten." Auch um die Zukunft der Dichtung ist ihm nicht wirklich bange. "Der Jambus hätt sich ausgequatscht? / Mitnichten, wiederhol ihn! / Und ist der Stiefel durchgelatscht / besohl ihn!" Nun weiß der alte Stiefel Rühmkorf sehr wohl, dass auch das Besohlen irgendwann sein Ende findet. Bangemachen gilt nicht, heißt seine Devise, vielmehr wünscht er sich, "noch einmal völlig neu / auf die schiefe Bahn zu geraten". Nur eine leise Sorge hebt manchmal ihren Kopf: Dass "der Poesie / ihre letzten Kunden enteilen", es nämlich keine Leser mehr geben könnte für Sachen, wie er sie herstellt. "Weil . Subtilität / kaum ein Leser noch versteht" lautet eins der Fragmente, drohend verstärkt durch eine weitere Beobachtung, dies in reimloser Prosa: "Doch täusch dich nicht, die einfachen Sachen / werden auch nicht gerade besser verstanden". Und das muss ihn, den Hochseilartisten, der auch den Clown in der Arena geben kann, der sich an Straßenreimen ebenso erfreuen konnte wie an Benns artifiziellem Zauber: Das muss den Volks- und Kunstpoeten Rühmkorf am stärksten erschrecken.

    Dennoch durchzieht keine deprimierte Note diesen Band, sondern eher eine lockere Altersfröhlichkeit. Und die kommt nicht zuletzt von der immerwährenden Freude an der Dichtung selbst, der eigenen und der der großen Kollegen. "Leute", heißt es in einem lyrischen Pflänzchen, "Leute, was gäbe es bloß / zu lesen und zu lieben / wär Deutschland goethelos / und heinefrei geblieben?" Dem darf man hinzufügen: Ohne Rühmkorf wären wir auch ärmer dran.