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Poesie trifft Physik

Seit den alten Griechen haben die Philosophen und die Physiker darüber gestritten, was eigentlich Farben sind. Eine der eigenwilligsten Antworten gab ausgerechnet ein Dichter, nämlich Johann Wolfgang von Goethe in seinem naturwissenschaftlichen Lehrbuch "Zur Farbenlehre", das vor 200 Jahren erschien.

Von Christoph Schmitz-Scholemann | 16.05.2010
    "Man bezieht bei Kleidungen den Charakter der Farbe auf den Charakter der Person ... Die Blondine hat zu Violett und Hellgelb, die Brünette zu Blau und Gelbrot Neigung, und sämtlich mit Recht."

    Diese Beobachtung stammt nicht von einem Modeschöpfer, sondern von Deutschlands größtem Poeten. "Zur Farbenlehre" heißt das merkwürdige Lehrbuch von Johann Wolfgang von Goethe, das am 16. Mai 1810 erschien. Was trieb den Dichter, ein naturwissenschaftliches Kompendium zu verfassen?

    "Sein Ausgangspunkt war erst mal, Erfahrungen zu bekommen über das Kolorit in der Malerei. Er hat sich von verschiedenen Malern unterrichten lassen und hat immer nicht zufriedenstellende Erklärungen über das Kolorit bekommen ...Und das war der Hintergrund dafür, dass er gesagt hat, jetzt muss ich mir erst mal die Physik der Farbe ansehen."

    Gisela Maul ist Kustodin des Naturwissenschaftlichen Kabinetts im Goethe-Nationalmuseum zu Weimar. Ihr Arbeitsplatz ist umgeben von den Zeugnissen der lebenslangen Leidenschaft des Dichters für die Natur und besonders für die Physik der Farbe. Bunte Scherben und Linsen, Gläser und Prismen blinken aus Vitrinen - und ein Sammelsurium von geheimnisvoll ausschauenden Kästen und Apparaturen gibt dem Besucher das Gefühl, in Dr. Fausts Studierstube zu sitzen.

    "Dass ich erkenne, was die Welt
    Im Innersten zusammenhält,
    Schau alle Wirkenskraft und Samen
    Und tu nicht mehr in Worten kramen."


    Gisela Maul: "Und da ist er auf den Newton gekommen, der schon hundert Jahre vorher sich mit der Optik beschäftigt hat, und fängt an diese Newtonschen Versuche in sein Blickfeld zu holen und will die rekapitulieren und fängt mit dem Prisma an zu arbeiten."

    Isaac Newton hatte Ende des 17. Jahrhunderts die Theorie aufgestellt, das Sonnenlicht enthalte Strahlen unterschiedlicher Wellenlängen, diesen Wellenlängen entsprächen die Farben, und alle diese Vorgänge und Zustände existierten unabhängig vom Menschen und seien rein mathematisch erfassbar: der Regenbogen als Rechenexempel? Davon wollte der Künstler Goethe denn doch nichts wissen. Er sah in den Farben das Resultat eines Streits zwischen Licht und Dunkelheit, er schrieb ihnen also poetische Eigenschaften zu.

    Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!
    Sieht man vom Markt in die Kirche hinein,
    Da ist alles dunkel und düster;
    Und so sieht's auch der Herr Philister ...


    Als engstirnige Sektierer ohne Zukunft betrachtete Goethe Newton und mit ihm die ganze Schulphysik. Darin hat er geirrt. Das lehrt uns jeder Blick auf unsere durchgerechnete Welt. Doch wichtiger als der naturwissenschaftliche Irrtum Goethes ist die anthropologische Wahrheit, die er in der Farbenlehre zeigt. Die konnte er nur entdecken, weil er sich nicht mit den in Zahlen ausdrückbaren, gewissermaßen toten Eigenschaften der Dinge begnügte.

    "Alles Lebendige strebt zur Farbe, zum Besonderen, zur Spezifikation, zum Effekt, zur Undurchsichtigkeit bis ins Unendlichfeine. Alles Abgelebte zieht sich ... zur Abstraktion ..."

    Und so untersucht Goethe die ganze Fülle des Erdlebens auf Farbe: Vom Regenbogen bis zu den bunten Bläschen, die sich bilden, wenn man mit dem Strohhalm in den Kakao pustet, er untersucht Steine, Pflanzen, Lehm, Schneckenblut, die Pigmente der Färber und der Maler, ja sogar die Mode und die "missfärbigen" Regenwürmer bringt er zu Ehren und jene Farbempfindungen, die wir als optische Täuschung kennen und für die Goethe das schöne Wort Augengespenster erfand.

    "Man nimmt einen knallig grünen Farbkreis, guckt darauf, zwanzig Sekunden, wendet den Blick weg und sieht dann beispielsweise auf ein weißes Blatt Papier oder auf ne weiße Wand, und dann wird einem dieser grüne Farbkreis in einem kräftig roten Nachbild erscheinen. Und das wäre dann ein Augengespenst."

    Heute wissen wir, dass die Farben, die wir sehen, tatsächlich zu einem guten Teil im Gehirn des Menschen entstehen. Die mathematischen Formeln, mit denen die Physik die Wirklichkeit beschreibt, sind ungefähr so informativ wie ein Barcodezettel, der auf einer Melone im Supermarkt klebt. Er sagt über alles Mögliche etwas aus, nur nicht darüber, was die Melone zur Melone macht: Geschmack, Saftigkeit, Duft und Farbe. Goethe hat in Newtons Werk den Zug der Moderne zur Überschätzung der Zahl erkannt und die Farbenlehre ist eine Mahnung, den eigenen Sinnen mehr zu trauen als allen neunmalklugen Schemata und Diagrammen. Bunt ist die Welt nur da, wo der Mensch sie anschaut.