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Poetische Lesart einer Moskauer Teufelsgeschichte

"Meister und Margarita" ist ein Faust-Roman um einen Teufelspakt mit überaus fantastischen, turbulenten Szenen aus Breschnews Reich der alten, Bruderküsse austauschenden Männer. Nun hat Alexander Nitzberg den Roman neu übersetzt.

Von Jörg Plath | 26.11.2012
    Als Michail Bulgakows Roman "Meister und Margarita" 1966/67, fast 30 Jahre nach dem Tod des Autors, endlich erscheinen konnte, sorgte das in der Sowjetunion für ein Erdbeben. Während sich das Ende des Tauwetters bereits andeutete und das Imperium Aleksander Solschenizyn die Beschäftigung mit Stalins Gulag schon wieder übel nahm, verschlangen Jung und Alt das Buch als politische Parabel und religiöse Offenbarung.

    "Ich habe diesen Roman zuerst gelesen, als ich vielleicht so 13 Jahre alt war. Und dieser Roman hat mich schon damals wahnsinnig fasziniert. Eigentlich so wie alle Russen habe ich diesen Roman fast auswendig gekannt und viele, viele Stellen daraus zitiert. Und ich denke, für jeden, der sich mit Übersetzungen beschäftigt und diesen Roman so liebt, ist das eigentlich eine Herausforderung, diesen Roman selber einmal mit seinen sprachlichen Möglichkeiten irgendwie ausdrücken zu können."

    Der Lyriker Alexander Nitzberg, 1969 in Moskau geboren und 1980 mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen, hat "Meister und Margarita" in fünf Jahren Arbeit neu übertragen. Bereits seit 1968 lag der vielleicht bekannteste russische Roman des 20. Jahrhunderts in einer Übersetzung von Thomas Reschke vor. Nitzbergs "Meister und Margarita" ist ein in Teilen neues Buch – schneller, gegenwärtiger, moderner.

    "Für mich war der Text sehr viel weniger prosaisch, sehr viel mehr poetisch. Er war auch für mich sehr viel zugespitzter, sehr viel extremer. Und das wollte ich irgendwie alles noch sehr viel stärker ausdrücken, sprachlich vielleicht sogar verschärfen, ja. Manchmal muss man ja auch etwas übertreiben, um etwas deutlich zu machen."

    In "Meister und Margarita" treibt ein Teufel und schwarzer Magier namens Woland, der behauptet, Kant und Pontius Pilatus persönlich zu kennen, allerlei Schabernack im sowjetischen Moskau der 30er-Jahre. Er lässt Frauen plötzlich in Unterwäsche auf der Straße stehen oder gleich nackt auf Besen herumfliegen, zaubert Geld herbei, das sich kurz darauf in Konfetti verwandelt, befördert lästige Personen binnen Sekunden Tausende von Kilometern in die Ferne oder lässt sie um Aufnahme in die psychiatrische Anstalt flehen. Seine drei Begleiter, darunter ein großer, auf den Hinterbeinen gehender und sprechender Kater, sind, was ihre Scherze angeht, auch nicht von einfallslosen Eltern.

    "Die russische Moderne ist sicherlich sehr stilbildend für Bulgakow gewesen. Er ist nicht einfach so ein realistischer, dröger Erzähler irgendwie in der Tolstoj-Tradition. Man braucht auch nur seine anderen Werke zu lesen, die sind oft so schräg und so gebrochen. Ich meine, er ist auch ein großer Satiriker."

    Eingebettet in die Moskauer Teufelsgeschichte ist ein Roman im Roman, eingeschoben in Zwischenkapiteln. Er spielt in Jerusalem und erzählt, wie Pontius Pilatus Jesus Christus unwillig zum Tod am Kreuz verurteilt und Gewissensqualen leidet. Michail Bulgakow spannt also über 2000 Jahre hinweg Gottes Antipode und Gottessohn zusammen. Beide Romanteile werden durch die im Titel genannten Personen miteinander verbunden: Der von seiner schönen Geliebten Margarita Meister genannte Schriftsteller hat den Roman im Roman verfasst. Doch weder Jesus noch Pontius Pilatus sind bei den in Moskau regierenden Materialisten allzu beliebt. Ihre harschen Reaktionen bringen den Meister in die Psychiatrie, wo er auf einige Opfer Wolands trifft. Margarita leidet ohne den Meister und geht einen Pakt mit Woland ein, um ihren Geliebten wiederzusehen und mit ihm wie einst arm, aber glücklich zusammenleben zu können: Sie dient dem Magier eine anstrengende Nacht lang als Ballkönigin, woraufhin die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, dem Meister den Seelenfrieden und Margarita zurückgibt. Als der Meister dann Pontius Pilatus begegnet, der seine Verurteilung von Jesus Christus zum Kreuzestod so stark bereut, dass er seit 2000 Jahren keinen Schlaf findet, erlöst er den Helden seines Romans von der Qual.

    Die Romanteile unterscheiden sich stark in Tempo, Färbung und Sprache: Landschaft, Wetter und Reflexionen herrschen vor im ruhigen Jerusalem-Teil, rhythmisch akzentuierte Aktion dagegen in Moskau. Nitzberg wird beidem gerecht. Er folgt Bulgakow auch in der Vermeidung eingeführter Namen, sodass aus Jesus von Nazareth Jeschua Ha-Nozri und aus Jerusalem Jerschalajm wird. Ansonsten aber gestattet sich Nitzberg, mit Blick auf frühe, spätexpressionistische Fassungen des Manuskripts, nicht wenige Freiheiten, um das Buch als einen "Schlüsseltext der Moderne" zu präsentieren.

    "Ich versuche ja, den Roman auch in die Sprache der deutschen Moderne irgendwo hinüberzubringen."

    Denn sie kennt der deutsche Leser. Weil aber in der deutschen Moderne der allwissende Erzähler bekämpft wurde und das Russische keinen Konjunktiv kennt, Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen also viel unmittelbarer wirken, entschied sich Nitzberg stets für einen personalen Erzähler: "Meister und Margarita" wird nun nicht mehr von außen, sondern von innen, aus den Köpfen der Personen heraus. erzählt, dazu meist in kürzeren Sätzen als bisher.

    "Mit diesen langen Sätzen hatte ich einfach im Deutschen ein großes Problem. Es ist natürlich überhaupt kein Problem, die im Deutschen nachzubilden. Das Problem dabei ist aber die Spannung."

    Denn zur Spannungssteigerung setzt Bulgakow das wichtige Wort ans Ende.

    "Das kann man jetzt mit einem deutschen Satz nicht so ohne Weiteres nachbilden, weil das Deutsche einfach seine Grammatik hat und da kommt dann ein ganz anderes Wort plötzlich zu stehen, meistens eben auch ein Verb oder so etwas. Das heißt, die Bezüge sind zwar immer noch da, aber die sind nicht mehr so scharf, die Konturen verschwimmen. Und damit geht auch die Spannung verloren. Und das ist aus meiner Sicht ein viel zu hoher Preis, um jetzt einfach diesen langen Satz hinüberzuretten. Warum muss es unbedingt ein langer Satz sein? Aber die Spannung muss da drin sein, ja. Und in knappen kurzen Sätzen habe ich sehr viel mehr Freiheit, sehr viel mehr Beweglichkeit."

    Nitzberg geht es um die poetische Wirkung, um den Geist des Werkes, nicht um Buchstabentreue. Er schärft den Roman an und lässt ihn gegenwärtiger wirken. Da wird "rattenfrech" gedroht, man bekommt "die Fresse poliert" oder wird flott gelobt mit "Sie sprechen ganz schön doll Russisch".

    "Ich habe versucht, einfach für jeden einzelnen Darsteller - sage ich mal in dem Roman – die ihm gemäße Sprache zu finden. Weil Bulgakow charakterisiert alle seine Personen sehr stark über die Sprache. Zum Beispiel Iwan Besdomny, dieser Dichter, er wird am Anfang als ein proletarischer Dichter vorgestellt. Diese proletarischen Dichter, die haben eigentlich gegen diese Intellektuellen und Akademiker gearbeitet und die haben sich diesen ganzen proletarischen Slang angeeignet. Das heißt ja, die sprachen bewusst grob, bewusst rau, ja, und der sagt da auf Russisch: (russ.) Nawtschesto, "aber hundert Pro"."

    Nitzbergs Übertragung belegt aufs Schönste, wie tragfähig seine poetische Lesart ist. Er zeigt einen Roman als Sprachkunstwerk, der bislang als Ehrung eines dissidentischen Autors namens Meister gelesen wurde, auch als Erzählung von einem verbotenen Buch über Pontius Pilatus und nicht zuletzt als Groteske auf den Großen Terror, lässt Woland doch wie Stalin Menschen bespitzeln, abholen, foltern, köpfen und spurlos verschwinden.

    Natürlich sind diese Lesarten weiterhin möglich, ebenso wie eine autobiografische, die sich auf die auffällige Tatsache stützt, dass in beiden Romanteilen Vergebung und Erlösung im Mittelpunkt stehen. "Meister und Margarita" ist auch die Wunscherfüllungsfantasie eines gefährdeten Autors: Michail Bulgakow war in den 30er-Jahren, als er den Roman verfasste, in Ungnade gefallen.

    "Bulgakow selbst ist eine sehr komplizierte Gestalt. Und auch sein Verhältnis zur Macht war ein durchaus ambivalentes. Er hat Stalin persönliche Briefe geschrieben, Stalin hat ihn angerufen. Und er hat sich an ihn gewandt, als es darum ging, zum Beispiel wieder arbeiten zu dürfen. Ein Theaterstück von ihm war Stalins Lieblingsstück. Es gab einfach diese sehr persönliche Beziehung auch zu diesem Diktator."

    Alexander Nitzbergs umstürzende, mal furiose, mal atmosphärisch tönende Übersetzung erweitert die Zahl der Lesarten. Deutlich treten nun die Stärken von "Meister und Margarita" hervor, die Schwächen allerdings auch. Nicht wenige Passagen sind von bester Knallchargenhaftigkeit, sie erinnern an den frechen grellen Überschwang von Yvan Golls "Sodom Berlin". Aber es gibt auch dramaturgische Durchhänger. Und am Ende hat Bulgakow unübersehbare Mühe, den Rattenschwanz von Figuren geordnet aus dem Buch zu entlassen. Arg buchhalterisch geraten ihm die letzten Seiten. Und man wünscht sich einen letzten, irrwitzigen Woland-Auftritt, auf dass alle mit einem Schlag irgendwohin befördert werden. Es muss ja nicht die Hölle sein.

    Buchinfos:
    Michail Bulgakow: "Meister und Margarita". Aus dem Russischen übertragen und kommentiert von Alexander Nitzberg. Mit einem Nachwort von Felicitas Hoppe, Galiani, Berlin, 2012, 604 Seiten, 29,99 Euro