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Polen
Morddrohungen gegen Olga Tokarczuk

Olga Tokarczuk ist eine bekannte polnische Schriftstellerin der Gegenwart. Bei der Verleihung des polnischen Literaturpreises Nike hat sie Kritik an ihrer Heimat geäußert. Im Internet brachen danach national motivierte Hasswellen über die Schriftstellerin herein. Inzwischen sieht sie sich Morddrohungen ausgesetzt.

Von Martin Sander | 16.10.2015
    Die Schriftstellerin Olga Tokarczuk bei einer Lesung im Rahmen des internationalen Literaturfestes "Lit.Cologne" am 15.03.2009 in Köln.
    Die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    "Ich war mir überhaupt nicht sicher, wie dieses Buch aufgenommen werden würde. Erst als ich auf Lesereise ging, wurde mir klar, dass es eine sehr lebendige Aufnahme findet."
    Olga Tokarczuk, Jahrgang 1962, eine der bekannten polnischen Erzählerinnen der Gegenwart. Die Literaturkritik und das polnische Lesepublikum schätzen sie hoch, auch und gerade für die "Bücher Jakobs". Das 1.000 Seiten starke Opus Magnum hat ein renommierter Krakauer Literaturverlag im letzten Herbst auf den Markt gebracht. Der Roman spielt im 18. Jahrhundert, als sich auf der europäischen Landkarte ein polnisch-litauisches Königreich von der Ostsee bis weit in die heutige Ukraine erstreckte. Im Kern kreisen die "Bücher Jakobs" um die legendäre Gestalt des jüdischen Reformers, Ketzers und gescheiterten Messias Jakob Frank. Frank kam 1726 im Osten Polens zur Welt und starb 1791 in Offenbach am Main. Nichts in der bisherigen Aufnahme des Werks deutete auf einen Eklat, bis Olga Tokarczuk vor zwei Wochen den bedeutenden Nike-Buchpreis erhielt. Jurysprecher Ryszard Koziołek verkündete:
    "Das preisgekrönte Buch von Olga Tokarczuk handelt von unserer Gegenwart. Es erzählt von der Geburtsstunde einer Welt, mit der wir uns heute abmühen. Das heißt, wir denken darüber nach, wie man in einer Welt enormer kultureller und ethnischer Unterschiede leben kann, wie man sich diese Welt als gerechte Welt vorstellen kann."
    Auch das hätte niemanden aufgeregt, befände sich Polen nicht in der Schlussphase des Wahlkampfs. Bei den Parlamentswahlen am 25. Oktober gelten die Nationalkonservativen der PiS-Partei als Favoriten. Sie haben einen Wettbewerb in Sachen Patriotismus ausgelöst, in dem jeder jeden überbietet.
    Das kritisiert die bekennende Linke Olga Tokarczuk indirekt in ihrem Buch und direkt nach der Preisverleihung. Sie habe, so Olga Tokarczuk, in den "Büchern Jakobs" ...
    "...die Geschichte ein bisschen neu geschrieben, und dabei auch nicht jene schrecklichen Dinge verborgen, die wir als Kolonialherren getan haben, als Mehrheitsnation, die die Minderheit drangsaliert hat. Als Herren über Sklaven, als Mörder von Juden."
    Von den Deutschen lernen?
    Was Olga Tokarczuk über die polnische Geschichte äußerte, steht nicht im Widerspruch zu dem, was Wissenschaftler seit Jahrzehnten herausgefunden haben. Für Polens nationalkonservative Öffentlichkeit ist es allerdings ein Reizthema, wenn es um Polen und Juden geht und wenn Olga Tokarczuk dann noch der Täternation Deutschland konzediert.
    "Ich denke, wir können hier von den Deutschen lernen. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg dazu gezwungen, ihr Bild der Geschichte zu korrigieren."
    Von den Deutschen aus der Geschichte lernen? Vor allem im Internet brachen national motivierte Hasswellen über Olga Tokarczuk herein. Die Schriftstellerin sieht sich inzwischen Morddrohungen ausgesetzt. Die Staatsanwaltschaft ist eingeschaltet. Der Vorwurf an Tokarczuk, die Nation zu verraten, kommt dabei mal vulgär, mal etwas vornehmer daher. Einige unterstellen der Autorin zudem, den ganzen Eklat selbst inszeniert zu haben.
    "Mit ihren skandalösen, provozierenden Worten versucht Frau Olga Tokarczuk, den Absatz ihres Buches in die Höhe zu treiben."
    Ein schwer zu widerlegendes Argument, hier vorgetragen in einem wenig bekannten Internet-News-Kanal. Jarosław Kaczyński, der weithin bekannte Anführer der PiS-Partei, erklärte am Dienstag, die Beleidigung Polens habe riesige, ja globale Ausmaße erreicht.
    Das allerdings dürfte ihn am Wahlsieg kaum hindern.