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Polen
Regierung fordert grundlegende EU-Reform

Mehr Verantwortung für die Nationalstaaten, mehr Einfluss für die Visegrad-Gruppe und notfalls eine Änderung des Lissabon-Vertrages: Die polnische Regierung mit Ministerpräsidentin Beata Szydlo fordert von der EU grundlegende Reformen. Auch die polnische Opposition ist für eine EU-Reform, hält den Weg, den die Regierung eingeschlagen hat, aber für gefährlich.

Von Florian Kellermann | 13.09.2016
    Szydlo mit schwarzem Jackett und weißem Hemd steckt sich gerade die Ohrenstöpsel für den Dolmetscher-Ton in die Ohren. Sie blickt ernst und konzentriert.
    Die polnische Ministerpräsidentin Beata Sydlo sieht im Brexit ein Indiz dafür, dass in der EU tiefgreifende Reformen nötig sind. (PATRICK HERTZOG / AFP)
    Die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo gab sich vor dem Treffen heute selbstbewusst und fordernd. Sie werde ihrem Landsmann Donald Tusk, dem EU-Ratspräsidenten, sagen: Die EU müsse am Freitag in Bratislawa dringend über Reformen sprechen. Der informelle Gipfel müsse mehr ergeben als ein Familienfoto der Staats- und Regierungschefs.
    Tiefgehende Reformen, davon sprechen Vertreter der polnischen Regierung immer häufiger. So auch Außenminister Witold Waszczykowski:
    "Wir wollen die Diskussion um den Brexit dazu nutzen, dass sich die EU reformiert. Der Brexit ist ja nicht durch einer Laune der Briten zustande gekommen. Die EU trägt schwere Schuld an der Entscheidung der Briten."
    Starke Worte
    Wenn es nötig sei, werde Polen nicht zögern, auch für eine Änderung des Lissabon-Vertrages einzutreten, so Waszczykowski - des grundlegenden Vertrags der Europäischen Union also. Ministerpräsidentin Szydlo ging noch einen Schritt weiter: Eine Änderung des Vertrags könne unausweichlich sein, sagte sie.
    Starke Worte - konkrete Vorschläge, was sie sich vorstellt, ist die polnische Regierung bisher schuldig geblieben. Waszczykowski sagte:
    "Wir müssen die Beziehungen in der EU reformieren. Wir müssen die Position der EU-Kommission neu festschreiben, auch die des Europäischen Rats, der Mitgliedsländer und des EU-Parlaments. Die Beziehungen zwischen diesen Institutionen müssen geändert werden, ebenso wie der gesamte Entscheidungsmechanismus in der EU."
    Klar ist aus Warschauer Sicht nur die Richtung, in die eine Reform gehen soll: Die EU-Kommission soll weniger zu sagen haben als bisher, die Nationalstaaten dafür mehr. Die nationalen Parlamente sollten eine stärkere Position bekommen, erklärte Ministerpräsidentin Szydlo.
    Warschau beansprucht für sich, hier im Namen der sogenannten Visegrad-Gruppe zu sprechen, der Polen derzeit vorsitzt. Ihr gehören auch Ungarn, Tschechien und die Slowakei an. Beim Wirtschaftsforum in Krynica vergangene Woche reklamierte Ministerpräsidentin Szydlo für sie gar eine Vorreiterrolle in der EU:
    "Die Visegrad-Gruppe wird im Moment zu dem Forum, das in der EU den Ton angibt, das konkrete Vorschläge macht. Der Wind des Wandels ist hier am stärksten zu spüren, in Mittel- und Osteuropa geht etwas Wichtiges vor sich."
    Vorwurf der Kompetenzüberschreitung
    Die polnische Regierung fühlt sich direkt betroffen von der, in ihren Augen, falschen Politik der EU-Kommission. Denn in Brüssel läuft ein Verfahren gegen Polen, die Kommission sieht den Rechtsstaat in dem Land in Gefahr. Auch das EU-Parlament wird heute wieder über diese Frage debattieren. Dazu Innenminister Mariusz Blaszczak:
    "Die Eurokraten wollen nicht aus dem Brexit lernen. Sie wollen weiterhin ihre Kompetenzen überschreiten und die polnische Regierung politisch attackieren. Aber sie haben den Willen der Polen, Ungarn und anderer zu akzeptieren, den diese bei Wahlen ausgedrückt haben."
    Die polnische Opposition hält den Weg, den die Regierung eingeschlagen hat, für gefährlich. Ja, eine Reform der EU, sei nötig, so Katarzyna Lubnauer von der liberalen Partei "Die Moderne", aber keinesfalls eine Diskussion über den Lissabon-Vertrag:
    "Eine Änderung des Vertrags würde die EU in ein noch größeres Chaos stürzen. Außerdem wäre sie sicher nicht vorteilhaft für Polen. Gegen unser Land läuft ein offizielles Verfahren der EU-Kommission, deshalb wird unsere Stimme in der Europäischen Union derzeit kaum wahrgenommen."
    Auch einige Politiker der rechtskonservativen Regierungspartei PiS warnen, so der ehemalige Kulturminister Kazimierz Ujazdowski. Eine Debatte um den Lissabon-Vertrag könne dazu führen, dass dieser ganz anders abgeändert werde als von Polen beabsichtigt. Möglicherweise werde dann eine gemeinsame Immigrationspolitik für die EU festgeschrieben, so Ujazdowski, also mehr Macht für Brüssel als bisher.