Freitag, 29. März 2024

Archiv


Politik der kleinen Schritte

Seit mehr als 30 Jahren erkundet der iranische Soziologe Asef Bayat die kleinen Reformen, mit denen die Menschen im Nahen Osten ihren Alltag umgestalten. Sein Buch liefert den Schlüssel zum Verständnis der Arabellion, die vor zwei Jahren in Tunesien ihren Anfang nahm.

Von Grit Eggerichs | 14.01.2013
    Schon lange vor dem Schlüsseljahr 2011 hat sich der iranische Soziologe Asef Bayat mit dem Protestpotenzial der "einfachen" Menschen im Nahen Osten befasst:

    Wie denken und was tun die Menschen an der Basis? Welche Politikformen machen sich marginalisierte städtische Bevölkerungsgruppen zu eigen?

    Das Ergebnis seiner Untersuchungen ist in den USA schon vor drei Jahren als Buch erschienen, jetzt die deutsche Übersetzung: "Leben als Politik" heißt sie – "Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern". Seit mehr als 30 Jahren forscht Bayat zum Thema – von der iranischen Bewegung der Arbeiterräte bis zum Kampf um Wohnraum und Trinkwasser in Teheran und Kairo. Das Buch enthält ältere Aufsätze, in denen Bayat die langjährige Feldforschung mit theoretischen Überlegungen kombiniert – bereichert um ein aktuelles Kapitel, in dem er den Stand der Dinge seit Beginn der arabischen Rebellionen diskutiert.

    Zunächst der Blick in die Geschichte: Die autoritär-populistischen Wohlfahrtsstaaten im Nahen Osten wurden in den 1980er-Jahren mithilfe des Internationalen Währungsfonds radikal marktliberalisiert – mit allen unangenehmen Folgen für die explodierenden Städte in der Region, so Bayat.

    Viele Bedienstete im öffentlichen Sektor, LandarbeiterInnen, aber auch gut ausgebildete, einst besser gestellte Mitglieder der Mittelschichten sind auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt in die Reihen der städtischen Armen gedrängt worden. Währenddessen haben sich die Staaten allmählich aus ihrer sozialen Verantwortung zurückgezogen, die ihre frühere populistische Politik kennzeichnete.

    Das wachsende städtische Prekariat musste seinen Alltag alleine regeln: Häuser auf öffentlichen oder Privatgrundstücken selber bauen. Wasser und Strom von der städtischen Versorgung abzweigen. Den Straßenhandel mit selbst produziertem Kunsthandwerk und gefälschter Markenware organisieren, weil es "ordentliche Jobs" nicht gab. Um die Dimension dieses Umbruchs zu verdeutlichen, nennt der Soziologe Zahlen: Zwischen 1980 und 1992 ist die Fläche Teherans von 200 auf 600 Quadratkilometer angewachsen – über 100 illegale Siedlungen sind entstanden. Mehr als ein Drittel der städtischen Bevölkerung im Nahen Osten arbeitet heute ohne Vertrag, unversichert und ohne Steuern zu zahlen. Menschenmassen schafften sich Raum und ein Auskommen nach ihren Bedürfnissen – ganz ohne politische Führung. Bayat bringt das auf einen paradoxen Begriff: den der "Nicht-Bewegung".

    Es sind alltägliche Praktiken, die von Millionen Menschen geteilt werden, auch wenn sie fragmentiert bleiben. Die Macht der Nicht-Bewegungen besteht also nicht in der Geschlossenheit der AkteurInnen, die ihren Kontrahenten mit Zersetzung, Ungewissheit und Druck drohen können, sondern in der Macht der großen Zahlen, das heißt in den Auswirkungen, die die Gleichzeitigkeit ähnlich widerständiger Handlungen von vielen auf die Normen und Regeln einer Gesellschaft hat.

    Dieses "stille Vordringen", wie Bayat es nennt, ist für ihn der Kern politischer Veränderung im Nahen Osten – denn unter autoritärer Herrschaft lässt es sich schlecht öffentlich protestieren oder eine politische Kampagne durchfechten. Menschen wichen daher auf Aktivitäten aus, die vom Staat zunächst nicht geahndet würden. Die eindrucksvollsten Beispiele finden sich im Kapitel über Frauen im Iran. Nachdem die islamische Revolution ihnen so ziemlich jedes Bürgerrecht abgesprochen hatte und ihre ersten offenen Proteste brutal niedergeschlagen wurden, begannen sie, selbstbewusst ihre Aktionsräume nach und nach wieder zu erweitern – zum Sport zu gehen, zu studieren, sich für politische Ämter zu bewerben.

    Sie reformierten den Ehevertrag, verbesserten den Beschäftigungsstatus von Frauen, bewirkten, dass Frauen wieder als Richterinnen eingesetzt wurden, setzten sich für ein neues Sorgerecht ein und veränderten allmählich die Einstellung zwischen den Geschlechtern in Familie und Gesellschaft.

    Solche Aktivitäten fielen durch das Raster der politikwissenschaftlichen Theorienlehre westlicher Prägung, kritisiert Bayat. Sein Politikbegriff umfasst auch Aktionen, die sich nicht explizit auf staatliche Institutionen fokussieren. Was Politologen etwa bei der Beschreibung der DDR-Opposition als Rückzug in private "Nischen" beschreiben, möchte Bayat als vollwertige Politik verstanden wissen. Mit der "Nicht-Bewegung" führt er einen Begriff ein, der über den Nahen Osten hinaus nützlich sein könnte.

    So öffnen sich durch die Vermeidung der starken Dichotomien von "aktiv/passiv", "individuell/kollektiv" oder "zivilem/politischen Widerstand", die unseren begrifflichen Horizont eingeschränkt haben, ganz neue Möglichkeiten, bisher unbeachtete gesellschaftliche Praktiken zu untersuchen, die durchaus Vorboten weitreichender sozialer Veränderungen sein könnten.

    Die Welle der Revolten im Frühjahr 2011 hat Asef Bayat so nicht vorhergesehen. Die Jasminrevolutionäre, die Demonstranten auf dem Tahrirplatz, die Massen auf den Straßen von Sanaa passen aber sehr gut zu seinem Erklärungsmodell.

    Der Blick zurück auf eine vielfältige Politik der kleinen Schritte im Nahen Osten könnte auch helfen, die Rückschläge auf dem Weg zur Demokratisierung besser einzuordnen. Die drei großen revolutionären Ideologien, der antikoloniale Nationalismus, der Marxismus und der Islamismus, seien am Ende – und damit auch das Konzept der Revolution selbst, findet Bayat. Die Umstürze in der arabischen Welt haben nicht zu neuen Gesellschaftssystemen geführt und sind deshalb aus seiner Sicht eine Mischung aus Revolte und Reform gewesen. Wir sollten froh darüber sein, meint der Autor. Die großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts waren mit hohen Kosten und Gewalt verbunden – und haben etwa Russland oder China nur noch repressivere Systeme beschert.

    "Leben als Politik" ist ein sehr lesenswertes Buch und zugleich eine kaum systematisierte Textwüste mit vielen unnötigen Wiederholungen. Es ist ratsam, Seiten großflächig zu überschlagen, um zu den originellen Gedanken und den plastischen Beschreibungen vorzurücken.
    Die Lektüre hilft dabei, unsere Klischees über die arabischen Gesellschaften zu überwinden: Demokratie und Islam könnten doch vereinbar sein. Frauen im Tschador machen Politik, anstatt ausschließlich zu beten und zu arbeiten. Slumbewohner streben nach Würde und Versammlungsfreiheit. Auch das ist der Nahe Osten.


    Asef Bayat: Leben als Politik. Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern.
    Verlag Assoziation A, 253 Seiten
    18,00 Euro
    ISBN: 978-3-86241-417-8