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Politik der Unsterblichkeit

Groys ist nicht zu fassen: er ist weder ein Materialist, noch ein Metaphysiker, weder ein Moderner, noch ein Postmoderner. Immer wieder fragt Knöfel, welchen Philosophen sich der Philosoph denn nahe fühlen würde: Groys nennt Namen wie Kierkegaard oder Wittgenstein, um sie sogleich einer Kritik zu unterziehen. Nein, dieser Philosoph lässt sich offenbar in kein Koordinatensystem einordnen. Und das gefällt, weil es dem heimlichen Instinkt der Kritiker entgegenkommt, selber auch unangreifbar sein zu wollen.

Steffen Graefe | 04.09.2002
    Beginnen wir mit dem Titel des Buches "Politik der Unsterblichkeit". Wie kann man mit dem Begriff "Unsterblichkeit" Politik betreiben? Boris Groys:

    Das Bekenntnis zur Unsterblichkeit ist endgültig politisch geworden oder - wenn man so will - rein subjektiv, weil objektiv unbegründet.

    Wenn Boris Groys den Begriff "Politik" verwendet, meint er also nicht die Tätigkeit von Politikern, sondern ganz allgemein jedes x-beliebige Verhalten, das auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist. Der Liebende, der um die Geliebte wirbt, treibt in diesem Sinne eine Politik der Liebe, wie der Koch, der Rezepte sammelt, eine Politik der Kochkünste. Das Politische ist für Groys eine rein subjektive unbegründete Äußerung. Nach dieser Definition wäre auch seine "Politik der Unsterblichkeit" unbegründet, ein subjektiv willkürliches Unterfangen. Wenn nun Boris Groys wie Sokrates an die unsterbliche Seele glauben würde, wäre alles einfach. Er würde dann nur den antiken Faden dieser Lehre wieder aufgreifen. So verhält es sich aber nicht. Was ist dann seine besondere "Politik der Unsterblichkeit"?

    Der Künstler und der Philosoph sorgen nicht wie die Heiligen für ihre Seele - sie sorgen nur für ihre Leiche, die aber nach dem Tod als Leiche weiterleben kann. Sie haben ägyptische Interessen: Sie wollen in der Stadt der Untoten Bürger werden und nicht in der ewigen Stadt, nicht im Paradies und nicht in der Himmelsstadt.

    Die Philosophen, die die Geschichte geprägt haben, bilden die geistige Stadt der Untoten. Sie sind untot "wie Vampire", weil sie mit ihren Werken die Lebenden überdauern, ohne selbst noch lebendig zu sein. Auch Groys möchte dazugehören und seinen Namen wiederfinden im zeitlosen Brockhaus der Philosophie.

    In den Köpfen vieler Menschen herrscht in Bezug auf die Philosophie eine merkwürdige Verwechslung. Wenn zum Beispiel ein Sportler sehr viel trainiert, um schneller laufen zu können, dann gehen wir nicht davon aus, dass deshalb auch andere Menschen die Fähigkeit bekommen, schneller zu laufen. Sie können es natürlich nicht, denn sie sind nicht trainiert... Und doch meinen wir, wenn Kant viel gedacht hat, dann ist dadurch die ganze Menschheit irgendwie klüger geworden. Die kantische Philosophie hat der Menschheit aber überhaupt nichts gebracht, sondern ausschließlich dem Menschen Kant.

    Demnach wäre für Kant das Philosophieren nichts weiter gewesen, als eine Art geistiges Jogging. Wie aber die historische Bedeutung von Kant zu erklären sei, wenn sein ganzes Denken nur ein Akt geistiger Selbstbefriedigung gewesen sein soll, bleibt offen.

    Diese Einwände bewegen sich noch innerhalb eines philosophiehistorischen Diskurses. Wenn sich dann aber Groys zu aktuellen und historischen Zeitfragen äussert, konfrontiert er uns mit apodiktisch dahingestellten Aussagen, die bei jedem ernsthaften Historiker nur Kopfschütteln erwecken können, zum Beispiel seine Deutung des Kommunismus und des Nationalsozialismus:

    Was aber war der Kommunismus? Es war ein Fest, es war ebendiese Vermischung von Freizeit und Arbeit. Die Arbeit musste kreativ sein, das Fest musste zur Produktion führen, das war genau diese Verschmelzung. Nazi-Deutschland war ein Fest, und alle diese fundamentalistischen muslimischen Regime sind ein Fest. Bei uns im Westen ist man aber in eine geschichtliche Zone eingetreten, in der man nur noch arbeitet und arbeitet. Alle arbeiten, und alle sind müde.

    Trotz Arbeitslager zelebrieren Nazis, Kommunisten und muslimische Fundamentalisten fröhliche Feste, alle anderen leiden unter ihrer Arbeitsmoral. Wird diese grotesk erscheinende Äußerung von Groys in irgendeiner Weise relativiert oder ins Ironische gehoben? An anderer Stelle bezeichnet der Philosoph ohne ersichtliches Augenzwinkern den "Nationalsozialismus als eine unbestritten originelle deutsche Leistung".

    Die Arbeitsmoral im Westen zu kritisieren, ist das eine. Den Kommunismus, Nazi-Deutschland und die muslimischen Regime in einem Atemzug als eine Art Festveranstaltung zu charakterisieren, kann sich nur jemand herausnehmen, dem man - wie offenbar die Jury der "Süddeutschen Zeitung" - Narrenfreiheit zubilligt. Freilich sind nicht alle Feste harmlos: Festliche Inszenierungen können auch in Gewalt umschlagen, z.B. nach einer Fußballmeisterschaft oder auch die "Orgie", wie sie Baudrillard beschreibt. Wenige Zeilen später wird der Begriff des Festes im Unterschied zur Arbeit scheinbar präzisiert:

    Duchamp hat gesagt, dass er in dem Augenblick, in dem er dieses urinoir ausgestellt hat, sich jenseits von Raum und Zeit gefühlt hat. Er hat sozusagen den göttlichen Akt wiederholt, den Akt der absoluten Kreation jenseits der Arbeit.

    Das Fest hätte demnach dasselbe Wesen wie der "göttliche Akt absoluter Kreation", der ja auch "jenseits der Arbeit" irgendwo sich auslebt. Die Folgerung aus dieser Passage wäre, dass die Nazis, Kommunisten und Muslime einen solchen göttlichen Akt der absoluten Kreation hervorrufen würden, wie er von Duchamp beschrieben wurde. Ob sich wohl auch Duchamp selbst so interpretiert hätte?

    Anderthalb Seiten später behauptet Groys dann plötzlich, dass die "amorphe Masse" ihre eigene Unförmigkeit, ihren Verlust an Struktur, mit göttlicher Allmacht verwechseln würde. Das klingt nach einer kritischen Zurücknahme des vorher Gesagten.

    Irgendwann in einer gewissen Phase der Entwicklung... hat man kein eigenes Denken, keine eigenen Gefühle mehr. Alles ist variabel, alles hängt von der Situation ab, vom Wetter. Und ebendas wird missverstanden als ein ewiges Fest.. Das ist ein typisch intellektueller Traum: alles fliesst, weil der Intellektuelle selbst zu fliessen beginnt, und das hält man für göttlich.

    Vorher hatte Groys Nazis und andere Fundamentalisten in einem Aussagesatz als "festlich" charakterisiert. Hier behauptet er nun, dass es sich dabei offensichtlich um ein Missverständnis handelt. Ja und nun? Was will Groys uns denn nun wirklich sagen? Einerseits weiß die "amorphe Masse", die einem Führer zujubelt nicht, was sie tut, andererseits wird auch die Bildung, die sich der Intellektuelle zugesteht, als Ausdruck einer "amorphen Masse" dargestellt.

    Die Bildung ist nämlich keineswegs Formung und Gestaltung, sondern umgekehrt, die Auflösung jeder festen menschlichen Form.... Denn die Bildung führt dazu, dass man tatsächlich alle Positionen gleichzeitig vertreten kann, und dass man zu fließen beginnt.

    Wenn das so wäre, wäre es den Intellektuellen unmöglich, überhaupt noch einen Abstand zu den eigenen Gedanken aufzubauen. Da diese Art von Bildung in einem wertfreien Fluß operiert, verwirft sie auch jede Differenzierung: Wäre es andernfalls möglich, die law and order-Struktur des Nazismus als ein "Fest" zu beschwören? Bill Gates sei eine "Stalin-Gestalt" - orakelt Groys keck drauflos - und charakterisiert Hitler als "Mick Jagger-Typ", ohne diesen hergesuchten Vergleich näher zu begründen.

    Wenn Hitler sozusagen die Gefahr der Rock-Kultur als Lebensweise darstellt, stellt Stalin die Gefahr von Microsoft als Lebensweise dar.

    Leider begründet Groys wieder nicht, weshalb der Veranstalter fröhlicher Feste - Adolf Hitler - nun doch eine Gefahr darstellen soll und dann noch die Gefahr der "Rockkultur", haben doch meines Wissens zumindest die deutschen Anhänger der Rockkultur der 68er mehrheitlich ausdrücklich die Naziattitüden ihrer Eltern angegriffen.

    Dann wieder distanziert sich Groys von allen Formen des Totalitarismus, obwohl er "weder dafür, noch dagegen argumentieren" will: Sogar die Dekonstruktivisten hätten sich eines "totalisierenden Diskurses" befleißigt. Aha. Hier scheint es so, als würde Groys diese Tendenz zum Totalitären kritisieren, obwohl seinem eben zitierten Begriff des Intellektuellen gemäss, ein Intellektueller in der Vielfalt der Positionen zerfließt und daher gar nicht mehr kritisieren, geschweige denn als Zerfliessender sich totalitär gebärden kann.

    Intellektuelle gehören auch für Groys zum Phänomen Kultur. Sie sind die Träger der Kultur. Und nun kommt wieder ein Aussagesatz, der sich kaum mit dem vorher Gesagten zu vertragen scheint: Die Kultur der zerfließenden, konturenlosen Intellektuellen habe nämlich per se einen gewaltsamen Charakter:

    Die Kultur ist eine Form der Gewaltanwendung im Namen der Unsterblichkeit.

    Demnach wäre auch die "Politik der Unsterblichkeit", die Groys verkündet, gewaltsam und nicht anders als gewaltsam zu denken. Oder gibt es für ihn einen Unterschied zwischen "Politik" und "Kultur"? Wer ins ewige Buch der Geschichte eingetragen werden will, muss sich zuweilen durchboxen.

    Das bedeutet..., dass ich, wenn ich mich zu einem Ding bekenne, das meiner Überzeugung nach Unsterblichkeit verdient, dann auch eine gewisse Gewalt anwenden muss - im Verbund mit dem Staat oder gegen den Staat -, um diesem Ding eine Dauer zu verschaffen. Deswegen wird die Politik der Unsterblichkeit unvermeidlich, und sie operiert, wie jede Politik auch, mit Gewalt.

    Da sind wir also wieder bei der "Unsterblichkeit" angelangt, deren "Politik" uns Groys näherbringen möchte. Mit dieser Aussage wäre auch die Gewalt der Terroristen am 11. September offenbar ein legitimer Ausdruck der von Groys verkündeten "Politik der Unsterblichkeit", wollten doch gerade auch die fundamentalistischen Terroristen sich mit ihren Taten ins ewige Buch der Geschichte einschreiben wie Groys mit seiner Philosophie. Worin besteht der Unterschied? Diese Frage haben die bisherigen Rezensenten weder gestellt, noch beantwortet.