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Politikberatung im Altertum

Klimawandel, Ende der billigen Energie, Lebensmittelkrise, wie kann, wie soll Politik darauf reagieren? Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Systeme mit sozialer Kompetenz am Erfolgreichsten waren, wie zum Beispiel die Sumerer im Zweistromland. Politik könnte aus der Geschichte lernen, wie Zukunftsvorsorge am Wirkungsvollsten zu gestalten ist.

Von Cajo Kutzbach | 19.06.2008
    Ausgrabungen oder schriftliche Aufzeichnungen sind die einzigen Quellen, wenn man wissen will, wann Menschen begannen gemeinsam für ihre Zukunft zu sorgen und, wie sie das taten. Die Sumerer gelten als erste Hochkultur, die vor 5000 Jahren ihren Wohlstand und ihre Macht der Bewässerungstechnik und dem Bau von Kanälen im Zweistromland verdankt. Sie waren auch die ersten, die ihrer Sprache eine schriftliche Form gaben und so kann der Ingenieur und Altsprachler Dr. Ariel Bagg an der Freien Universität Berlin nachlesen, wie wichtig das Wasser für die Sumerer war:

    "In den literarischen Texten erscheinen Götter und mythische Herrscher als Wasserbauer. Das heißt, das Thema war so wichtig, dass auch die Götter damit beschäftigt waren. Das war wichtig für die Götter und für die Könige auch eine sehr wichtige, bedeutende Tätigkeit."

    Ohne Wasser - dem wichtigsten Rohstoff überhaupt - ist kein Leben möglich und erst recht keine Hochkultur. Der Aufwand der Wasserversorgung ist stets hoch, so dass er sich nur lohnt, wenn ihn mehrere Generationen nützen können. Auch unsere heutige Wasserversorgung ist auf eine Nutzungsdauer von 80-100 Jahren ausgelegt. Ist sie gut gebaut, hält sie auch länger. Die Oasenstadt Damaskus nutzt heute noch Teile der römischen Wasserversorgung und die Insel Pantellaria im Mittelmeer ist seit mindestens 3000 Jahren nur dank Zisternen bewohnbar. Am Anfang war also möglicherweise gar nicht der Gedanke an die Zukunft entscheidend, sondern einfach der Wunsch zu überleben.

    Im Zweistromland muss es vor 6000 Jahren noch ganz anders ausgesehen haben, berichtet der emeritierte Professor für Vorderasiatische Archäologie der Freien Universität Berlin Prof. Hans Jörg Nissen, denn damals gab es Wasser im Überfluss:

    "Es ist offensichtlich so gewesen - in Zeiten, die wir nicht so richtig fassen können - dass die Flüsse derart viel Wasser geführt haben, dass jedes Jahr verheerende Überschwemmungen waren und damit kaum Möglichkeiten bestanden sich in dem großen Deltagebiet, beziehungsweise der ganzen Schwemmebene nieder zu lassen."

    Das erinnert an die Sintflut-Berichte, die erst später verfasst wurden. Die sumpfige Tiefebene kannte zunächst nur Dörfer bis das Klima um 1-2 Grad wärmer wurde. Zugleich fiel an den Oberläufen von Euphrat und Tigris weniger Regen.

    "Und insofern ergab sich ungefähr in der Mitte des 4. vorchristlichen Jahrtausends eine Situation, dass relativ plötzlich - für‘n Historiker kann das auch mal 200 Jahre, kann plötzlich sein - eine Situation eingetreten ist, wo eine sehr große Fläche, die mehr oder weniger Wasserfrei war, oder zumindest nicht mehr so gefährdet war, zur Besiedlung frei stand."

    Zwar gab es dort schon vorher Dörfer, aber nun strömten aus den Städten am Rande der Tiefebene Menschen in das fruchtbare Schwemmland. Vermutlich waren darunter auch die Sumerer. Sie besiedelten zunächst höher gelegene Punkte. So entstanden dort die ersten Städte, wie etwa Uruk in dem Hans Nissen in den sechziger Jahren selbst Ausgrabungen durchführte. Aber die Trockenheit nahm weiter zu:

    "Plötzlich entstand eben eine Situation, wo eben nicht mehr genügend Wasser im Land war, wo man auf die entfernter liegenden Felder, die etwas entfernter waren von den Flüssen, wo man da mit Hilfe von Kanälen Wasser hinbringen musste. Und so entstehen die großen Gemeinschaftsaufgaben, für die ja Babylonien nachher nun auch allgemein bekannt ist. Aber da waren eben, die Strukturen waren alle da, so dass man diese Probleme beantworten konnte."

    Hier gab es also keine Zukunftsplanung, weil man den Klimawandel ja noch nicht vorhersehen konnte. Aber es gab offenbar sehr gute Kenntnisse darüber, wie man viele Menschen zur Zusammenarbeit bringt. Hans Jörg Nissen:

    "Wir kennen eine große Stadt der Zeit, also 3200. Das ist eine Stadt, die zweieinhalb Quadratkilometer groß ist und mindestens 50 000 Einwohner gehabt hat, ohne die Notwendigkeit große Bewässerungssysteme zu haben. Das heißt: Die Strukturen sind da in dem Moment, wo eben solche großen Gemeinschaftsaufgaben, wie die großen Kanäle, anfallen."

    Das belegen auch später verfasste Verwaltungstexte aus Uruk. Es gab Regeln und Gesetze und die Herrscher waren in der Lage große Mengen von Menschen für Arbeiten einzusetzen. Die Zukunftsfähigkeit dieser Gesellschaft war nicht geplant, sondern bestand offenbar in ihrer sozialen Kompetenz.

    Mit der dürfte auch zusammen hängen, dass im Zweistromland später über 3000 Jahre lang relative Stabilität herrschte. Prof. Stefan M. Maul, Ordinarius für Altorientalistik an der Universität Heidelberg, skizziert, wie Entscheidungen gefällt wurden:

    "Entscheidungen politischer Art wurden - so wie es der gesunde Menschenverstand gebietet - in Beratergremien diskutiert, die sich um den König herum gruppieren mit Beteiligung von Fachleuten; sicherlich nicht viel anders, als wir uns das heute auch vorstellen mögen.
    Das Außerordentliche am Alten Orient ist, dass ein gefasster Beschluss, bevor er in die Tat umgesetzt werden musste, einer eigenen Prüfung unterzogen wurde. Und diese Prüfung ist eine Evaluation sozusagen der geplanten Vorhabens. Nur bei positivem Entscheid konnte dieses Vorhaben durchgeführt werden."

    Hier haben wir es also scheinbar mit einer Prüfung der Nachhaltigkeit oder der Zukunftstauglichkeit zu tun. Zumindest muss es den damaligen Menschen so vorgekommen sein. Doch dieser Eindruck täuscht:

    "Die Prüfung ist unabhängig von dem Entscheidungsgremium und eine Prüfung, die aus unserer Perspektive sehr merkwürdig anmutet: Man hat in der Leber eines einem Gott geopferten Schafes bestimmte Zeichen beobachtet und diese als positive und negative Zeichen gedeutet.
    Und wenn die Anzahl der positiven Zeichen überwog, so galt dieses Vorhaben als befürwortet. Wenn die Anzahl der negativen Anzeichen in der Mehrheit war, galt das Vorhaben als abgelehnt."

    Es gab also bereits vor Jahrtausenden Gewaltenteilung. Diejenigen die diese Leberschau durchführten, durchliefen eine lange Ausbildung, waren also Wissenschaftler.

    An einer ausgegrabenen tönernen Leber kann man heute noch sehen, welche 12 Punkte für die Entscheidung wichtig waren. Bei der Urteilsfindung gab es wieder Gewaltenteilung, denn es durfte niemals einer allein die Schau durchführen. Es war also aus damaligen Sicht eine wissenschaftliche Analyse, bei der mehrere Wissenschaftler zum selben Ergebnis kommen mussten.

    "Der entscheidende Punkt ist zunächst, dass man mit diesem Prüfungsverfahren überzeugt war ein Verfahren gefunden zu haben, dass ein objektives Urteil zulässt. Man hatte die Vorstellung von einem mit dem Menschen interagierenden Kosmos, der tatsächlich auf Fragen reagiert. Das ist aus heutiger Weltsicht eigentümlich. In der damaligen Welt war es das nicht und man hat viele Beweise gesucht und tatsächlich auch gesammelt und gefunden, die für eine solche Theorie sprechen." "

    So wie heute die Prognosen der Wirtschaftsweisen, die Steuerschätzung und Meinungsumfragen Stand des Wissens sind, so war es damals die Eingeweideschau und die Sterndeutung. Der Unterschied ist, dass dieses System im Zweistromland rund 3000 Jahre für stabile Verhältnisse sorgte, was noch keine moderne Demokratie geschafft hat.

    Dabei ist klar, dass Eingeweideschau und Sterndeuterei über diesen langen Zeitraum die Hälfte aller Entscheidungen für gut und die andere Hälfte für schlecht befunden haben müssen. Man hätte also genauso gut eine Münze werfen können. Folglich muss die Stabilität auf der Diskussion und der Beratungskultur beruhen, die damit verbunden war.

    "Auf der anderen Seite war ein solches Verfahren nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil es ganz offensichtlich sinnvolle politische Entscheidungen in keiner Weise behindert hat. Und dies hat in der Tat mit der Fragetechnik zu tun. Man hat nicht nur gefragt: Soll ich ein Vorhaben durchführen, oder soll ich es bleiben lassen, sondern hat ein Vorhaben, das detailliert durchgeplant war, einer solchen Prüfung unterzogen. Wenn eine Ablehnung sich ergab, so bedeutete das im Weltbild dieser Kultur, dass einer der Schritte, eine Segment aus diesem Vorhaben kein Wohlgefallen findet und dass dieses korrigiert werden müsse. Man hat den Plan zurück gezogen, ihn erneut diskutieren müssen - Sie sehen schon, dass dieses Verfahren eine Diskussionskultur tatsächlich befördert - man hat unter Umständen einen strittigen Punkt erneut diskutiert und anders entschieden und die Prüfung erneut vorgenommen."

    Da - statistisch betrachtet - jeder zweite Plan zunächst zurückgewiesen worden sein muss, förderte dieses Verfahren die Diskussion und die Qualität der Entscheidungen.
    Das Verfahren hatte noch einen zweiten Nutzen:

    "Die Überzeugung, dass hier ein Kosmos, ein Weltgeschehen urteilt, führt - bei Befürwortung eines Planes - zu dem Eindruck, dass nicht nur das eigene Wollen, sondern das ganze Weltgeschehen, die Götter, die ganze Welt in ihrer Komplexität hinter einem Vorhaben steht. Diesen Effekt dürfen wir auf gar keinen Fall unterschätzen, denn eine solche Botschaft, die natürlich auch publiziert wird in eine breite Öffentlichkeit hinein, wird Optimismus, Selbstbewusstsein, Tatkraft in ganz erheblichem Maße gefördert haben."
    Während sich damals Herrscher und Volk in Harmonie mit dem Kosmos zu befinden meinten, bieten heute Wirtschaftsweise, Steuerschätzung und Meinungsumfragen bestenfalls Menschenwissen. Auch sie liegen in der Regel daneben. Die Funktion aber ist dieselbe, wie im Zweistromland vor Jahrtausenden: Den Entscheidungen Autorität verleihen!

    Dass die Herrscher im Zweistromland kein Interesse am Fortschritt hatten, sondern daran ihr Land in den Zustand eines idealen vergangenen Goldenen Zeitalters zu führen, spielt möglicherweise auch eine Rolle. Das Ziel war also klarer definiert, als eine heute als offen angesehene Zukunft.

    Gemeinsam Dämme und Bewässerungssysteme zu bauen, genügte allerdings nicht. Es mussten Regeln aufgestellt werden, die dafür sorgten, dass das Wasser möglichst effizient und gerecht verteilt wurde, um eine große Ernte zu erzielen und Streit ums Wasser zu vermeiden. Gerechtigkeit ist also ebenfalls eine Grundlage für stabile größere Gruppen, für Städte und Wirtschaft, und für die Entwicklung von Wissenschaft und Kultur. Hans Neumann, Ordinarius für Altorientalische Philologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster:

    "Eine Gesellschaft kann nur dann funktionieren, wenn es Regeln gibt, die Menschen miteinander in Beziehungen setzen, beziehungsweise Beziehungen die da sind und auch entsprechend sanktioniert sind, beziehungsweise auch eingeklagt werden können. Und da ist genau auch der Bezugspunkt auf Gerechtigkeit. Das muss dann auch gerecht zugehen, das heißt Interessen müssen ausgeglichen werden."

    So wurde genau geregelt, dass jeder seinen Anteil bei den Gemeinschaftsaufgaben, etwa beim Bau von Kanälen zu leisten hatte, entweder durch eigene Arbeit, oder durch Geldzahlungen. Für Wirtschaft und Handel waren natürlich Eigentumsurkunden wichtig:

    "All diese Dinge, die wir heute mit Kauf, Darlehen und so weiter umschreiben, die hat‘s ja gegeben und das musste entsprechend geregelt werden und auf ner entsprechenden Basis auch wieder einklagbar sein. Nicht denn das gehört auch zum Recht, dass immer wieder versucht worden ist es auch zu brechen."

    Eine Gerichtsbarkeit, die für Gerechtigkeit sorgt, statt gewalttätiger Kampf jedes gegen jeden, ist für alle Beteiligten vorteilhaft. Das hatte man schon damals erkannt, berichtet Hans Neumann:

    "Wir können sehr genau erkennen, was auch lebensfähig war über die Jahrtausende bis heute. Also Vieles, was wir heute kennen, hat dort eigentlich seinen Ursprung und zeigt, dass das dem Menschen adäquate Regelungen sind. Anderes wiederum war sehr stark historisch bedingt, weil einfach die politischen und ökonomischen Strukturen andere waren. Aber ich denke schon, dass das Wissen woher wir kommen ist schon ganz gut zu sehen, was kann man noch weiterhin behalten, ja."

    Was im Zweistromland begann, spielte später auch in Griechenland und im Römischen Reich eine große Rolle, angefangen von der Eingeweideschau und der Astrologie bis zu Verfahren der Entscheidungsfindung durch Gespräche und Beratung.

    Der erste Wirtschaftsweise in unserem heutigen Sinne, war ein Grieche, berichtet Prof. Ulrich Fellmeth, der an der Universität Stuttgart Antike Wirtschafts- und Sozialgeschichte lehrt:

    "Xenophon, der ein ganz außergewöhnliches Werk verfasst hat, das und Gott-sei-Dank überliefert ist. Es ist eigentlich die einzige wirtschaftspolitische Theorie, die uns aus der Antike überliefert ist.
    Der Ausgangspunkt war ganz einfach: Die Tributzahlenden Bundesgenossen waren den Athenern verloren gegangen, dadurch auch erhebliche Einnahmen. Die darauf folgende Wirtschaftskrise veranlasste nun den Athener Xenophon zu überlegen, wie man aus diesem wirtschaftlichen Schlamassel wieder raus kommen könnte. Und er meinte, die Athener müssen sich auf ihre natürlichen Ressourcen besinnen und deren Ausbeutung einfach optimieren."
    Landwirtschaft und Bodenschätze, also Marmor und Silberbergbau, erwähnt er zwar, aber Leihsklaven sieht er als bessere Möglichkeit die Staatsfinanzen zu sanieren und den Athener Müßiggang zu ermöglichen. Xenophon forderte außerdem:

    "Wir brauchen ne schnelle Handelsgerichtsbarkeit. Wir müssen Herbergen bauen, wir müssen Handelsplätze bauen und wir müssen sogar dafür sorgen dass die Beförderungskapazitäten gesteigert werden.
    Der Staat solle - so wie er Kriegsschiffe im eigenen Besitz habe - soll er eben auch noch Handelsschiffe erbauen und diese dann an Händler verpachten, was zwei Vorteile hat: Zum einen kommen die Pachtsummen rein, und zum anderen mit dem höheren Handelsvolumen noch vermehrt Zölle, und - wenn die Händler sich dann niederlassen in Athen - eben auch Metökenabgabe."

    Also Ausländersteuer.

    Die Idee, dass der Staat durch eigene Betriebe Gewinne machen könnte, ist also auch schon alt. Nun hat Xenophon an einigen Stellen mit sehr geschönten Zahlen gerechnet, aber im Prinzip lag er nicht so sehr daneben, berichtet Ulrich Fellmeth:

    #"Das sozialpolitische und fiskalpolitische Ziel, das Xenophon im Athen des vierten Jahrhunderts erreichen wollte, ist ja fast mustergültig in den hellenistischen Staaten, vorzugsweise im Ptolemäischen Ägypten im dritten Jahrhundert realisiert worden."

    Ob in Kenntnis der Vorschläge Xenophons, oder aus eigener Einsicht ist nicht bekannt.

    Das Schöne an der Beschäftigung mit den Zukunftsvorsorge im Altertum ist: Man kann - wesentlich weniger durch Gefühle in die Irre geleitet - untersuchen, welche Faktoren zur Stabilität von politischen Systemen führen und welche weniger bedeutsam sind. Stefan Maul:

    "Davon bin ich fest überzeugt. Das ist die Idee unseres Vorhabens. Wir wollen Probleme - wie in diesem Falle die Bewältigung von Zukunft, den Umgang mit Zukunft losgelöst von den Zeiten betrachten, ohne dabei die zeitlichen Gebundenheiten zu ignorieren. Aber wir sind der festen Überzeugung, dass insbesondere in einer sich immer mehr gleichschaltenden modernen Welt eine Perspektivenvielfalt Gewinn bringend ist. Und diese Perspektivenvielfalt bieten nicht zuletzt die vergangenen alten Kulturen."