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Politikwissenschaftler befürchtet Zusammenstöße zwischen Gegnern und Unterstützern Erdogans

Der türkische Ministerpräsident Erdogan "möchte nicht wahrhaben", dass viele Türken seinen Politikstil ablehnen, sagt Yasar Aydin. Der Politikwissenschaftler glaubt, dass sich der Konflikt noch verschärfen könnte.

Yasar Aydin im Gespräch mit Silvia Engels | 08.06.2013
    Silvia Engels: Wir ordnen die Proteste in der Türkei weiter ein mit Yasar Aydin. Er hat mitgehört, er arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik, einem Institut für die Analyse der internationalen Politik, und hat sich aktuell mit den Hintergründen des Protestes in der Türkei befasst. Guten Morgen, Herr Aydin!

    Yasar Aydin: Guten Morgen!

    Engels: Wir haben gerade die junge Feride Akgün gehört, die seit Tagen gegen Polizeigewalt protestiert und sich mehr Liberalität im Land wünscht. Ist sie damit Ihrer Einschätzung nach eine typische Vertreterin des Protestes?

    Aydin: Ja, ich denke, dass sie ein typischer Vertreter ist, den Großteil der Protestierenden eint die Ablehnung von Erdogans polarisierendem Politikstil und die Befürwortung, mehr Demokratie, mehr liberale Freiheit, Menschenrechte und auch die Ablehnung der Polizeigewalt. Insofern ist sie ein typischer Vertreter, eine Vertreterin der Demonstrationsbewegung.

    Engels: Sie haben ja eine aktuelle Analyse des Geschehens verfasst, Sie sprechen da von sehr unterschiedlichen Gruppierungen in der Bewegung. Neben der Stimme, die wir gerade gehört haben, was kommt da noch an Gruppierungen zusammen?

    Aydin: Die Protestbewegung ist sehr heterogen, sowohl kulturell als auch von den Forderungen her, sehr kulturell, sehr ethnisch inhomogen, heterogen. Also da sind aus allen Schichten, aus allen Gruppierungen, kulturellen, religiösen Gruppierungen, aber der Großteil gehört zu den Mittelschichten, die auch von der Wirtschaftsentwicklung der letzten zehn Jahre unter der AKP profitiert hat. Also es geht hier nicht um Proteste gegen die Wirtschaft, gegen eine wirtschaftliche Misere, sondern es geht in erster Linie um Protest gegen einen Politikstil, die Einmischung in den Lebensstil und gegen Benachteiligung liberaler Menschen. Viele Menschen, die auf der Straße sind, protestieren gegen die Bevorzugung religiös-konservativer Lebensstile, und in diesem Zuge gegen die Benachteiligung von säkular-liberalen Lebensstilen.

    Engels: Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Lage in Istanbul, das wurde ja auch gerade von Frau Akgün bemängelt, aber was bewegt sich denn derzeit in den Provinzstädten, ist da auch die Demonstrationsbewegung noch einmal anders zusammengesetzt?

    Aydin: Ich würde nicht sagen anders, ähnlich – zunächst geht es einmal um Solidarität mit Istanbul, mit Protestierenden auf dem Taksim-Platz, aber man muss auch dazu wissen, dass die Lage in den Provinzen noch brisanter ist. Der konservative Konformitätsdruck wirkt in den Provinzen stärker als in Istanbul. Deswegen hat sich auch in den Provinzen viel Frust angestaut, die entlädt sich jetzt. Es geht vor allem um Menschen, die nicht in das konservative Bild passen, säkular-liberale Menschen, Nichtmuslime, aber auch Aleviten, die fühlen sich benachteiligt durch den konservativen Konformitätsdruck in den Provinzstädten, deswegen kommt es dort zu Protestbewegungen in den Provinzen. Also es geht einmal um Solidaritätsbekundungen, aber nicht nur, es geht auch darum, gegen die eigene Unterdrückung, den Konformitätsdruck zu protestieren.

    Engels: Feride Akgün, mit der wir eben sprachen, hat ja Befürchtungen, dass sich die Situation zuspitzen könnte, weil eben auch Tausende Anhänger vom Ministerpräsident Erdogan zu mobilisieren seien, zur Not auch zur Gewalt, also möglicherweise eine Radikalisierung beider Lager. Fürchten auch Sie die Gewalttätigkeit?

    Aydin: Meine Befürchtung hat zugenommen, nachdem Erdogan wieder in der Türkei ist. Man sieht, dass er nicht einsehen möchte, dass es hier um friedlichen Protest geht, dass das harte Durchgreifen der Polizei die Ausschreitungen provoziert hat. Erdogan wittert nach wie vor, dass dahinter die Machenschaften Linksradikaler stehen, dass das Ausland seine Finger dabei hat. Er möchte nicht wahrhaben, dass es hier darum geht, um die Ablehnung an seinem Politikstil, und sicher besitzt Erdogan einen großen Rückhalt in der Bevölkerung, insbesondere in den unteren Schichten. Ich befürchte ebenfalls, dass es zu Ausschreitungen kommen könnte – es ist bereits zu einer ersten Ausschreitung, zu einem ersten Zusammenstoß zwischen Protestierenden und Gegendemonstranten in Rize gekommen, in einer Provinzstadt in der Schwarzmeerregion. Das könnte auch in anderen Städten vorkommen, die Gefahr besteht. Es wird davon abhängen, inwieweit Erdogan die Ereignisse verarbeiten wird, inwieweit er weiterhin auf Eskalation setzen wird. Der Staatspräsident Gül sorgte ja in den letzten Tagen für eine Deeskalation, und Erdogan versucht wieder, hat wieder nach seiner Rückkehr die Lage … es hat sich die Lage wieder eskaliert. Man muss auch gucken, wie die AKP-Führung die Ereignisse verarbeitet, ob sie mit der Kritik an Erdogan weitermacht. Es gab ja auch Kritik an Erdogan vom Staatspräsidenten Abdullah Gül, es war sehr latent, sukzessiv, aber es war eine deutliche Kritik an Erdogan, er hat gesagt: Die Demokratie besteht nicht nur aus Wahlen, man kann nicht nur Wahlen gewinnen und dann walten und schalten, wie man will, sondern dass man auch auf die Belange der Protestierenden achten muss, dass auch friedliche Demonstrationen ein Teil der Demokratie ist. Das war eine Kritik an Erdogan.

    Engels: Wir sprachen mit Yasar Aydin, er arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik als Türkeiexperte. Vielen Dank für das Gespräch! Und die zuweilen doch schwer zu verstehende Telefonleitungsqualität bitten wir zu entschuldigen.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.