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Türkische Ärzte und Pfleger
Politisch unerwünschtes Personal darf nicht arbeiten

Die Türkei könnte in der Corona-Pandemie forschen, einen Impfstoff entwickeln oder dringend benötigtes Gesundheitspersonal einstellen. Doch viele der Fachleute sitzen zu Hause und dürfen nicht arbeiten - aus politischen Gründen.

Von Susanne Güsten | 28.03.2020
Der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca am 27. März 2020
Die türkische Regierung will aus politischen Gründen nicht auf alle personellen Reserven zurückgreifen, weder im wissenschaftlichen Beirat noch in den Kliniken (imago / Mustafa Kaya)
Mustafa Ulasli sitzt zuhause. Der Genforscher verfolgt die weltweite Coronavirus-Krise aus seiner Wohnung im südtürkischen Gaziantep mit äußerstem Interesse, denn Coronaviren sind sein Spezialgebiet. Mehr als ein Jahrzehnt lang hat Ulasli über diese Viren geforscht – erst an der amerikanischen Princeton-Universität, dann im niederländischen Utrecht, wo er zu dem Thema promovierte, und zuletzt an der Universität Gaziantep:
"Meine Doktorarbeit habe ich über das Coronavirus verfasst: Wie gelangt der Virus in die Zelle? Wie infiziert er die Zelle, welche Mechanismen der Zelle nutzt er dafür, wie erzeugt er neue Viren, wie kommen die aus der Zelle heraus? Ich habe erforscht, wie der Virus angreift und welche Strukturen er dafür nutzt. Erst wenn man das weiß, kann man eine Abwehr entwickeln. Und dazu habe ich jahrelang gearbeitet."
Tausende Mediziner entlassen, entlastet, doch nicht wieder eingestellt
Von seinem Wohnzimmer aus berichtet Ulasli türkischen Oppositionsmedien per Videoverbindung von seiner Forschung, denn an die Universität darf er schon seit Jahren nicht mehr. Wie tausende weitere Akademiker und Beamte wurde er nach dem Putschversuch vom Sommer 2016 als politisch verdächtig entlassen – weil er ein Konto bei einer Bank hatte, die der Bewegung des Predigers und mutmaßlichen Putschführers Fethullah Gülen zugerechnet wurde. Zwar hat die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe gegen Ulasli schon vor drei Jahren fallen lassen, doch seine Stelle hat der Wissenschaftler bis heute nicht zurückbekommen.
Coronavirus
Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Damit ist er kein Einzelfall. Rund 15.000 Ärzte, Mediziner und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen wurden nach dem Putschversuch per Notstandsdekret entlassen. Rund 80 Prozent von ihnen wurden nach Zählung der Opposition seither von der Justiz entlastet – doch bis heute warten sie vergeblich darauf, zur Arbeit zurückkehren zu können. Der Oppositionsabgeordnete Ömer Faruk Gergerlioglu ist selbst entlassener Mediziner:
"Jeden Tag melden sich Mediziner bei mir, die hinausgeworfen und geächtet wurden und die jetzt dennoch mithelfen wollen, die Pandemie zu bekämpfen und Menschen zu retten. Der Gesundheitsminister muss diese Fachkräfte zurückholen und den Experten Mustafa Ulasli in die Forschungsarbeit einbinden, sonst lädt er schwere Schuld auf sich."
Neues Personal muss erst angelernt werden
An den staatlichen Krankenhäusern der Türkei fehlt es angesichts der Pandemie an Personal, die Regierung will 32.000 neue Mitarbeiter einstellen – doch die müssen mitten in der Krise erst neu angelernt werden, weil es an geschultem Personal fehlt. Auch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu fordert daher, die aus politischen Gründen entlassenen Mediziner und Pfleger zurückzuholen, doch davon will die Regierung bisher nichts wissen. Der Coronavirus-Experte Ulasli ist frustriert, dass er sein Wissen nicht nutzbar machen kann:
"Wir könnten in der Türkei einen Impfstoff entwickeln. Die Türkei besitzt die Infrastruktur dafür und das akademische Niveau – wir haben alles, was wir dazu brauchen. Aber wenn man Wissenschaftler, die jahrelang dazu geforscht haben, zu Hause herumsitzen lässt, dann kann das nichts werden. Wir müssen zusammenarbeiten können, wir müssen ins Labor dürfen, um das zu schaffen."
Wie gefährlich ist das neue Coronavirus?
Die Zahl der Infizierten mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 steigt trotz Gegenmaßnahmen vieler Regierungen weiter - auch in Deutschland. Die Weltgesundheitsorganisation hat Ende Januar den "internationalen Gesundheitsnotstand" ausgerufen.
Bereit wäre Ulasli dazu: Auch auf dem Abstellgleis hat er weiter über Coronaviren geforscht; zuletzt veröffentlichte er im Januar eine Forschungsarbeit zu dem Thema in einem internationalen Journal für Virologie. Seine Expertise wird er in der Türkei aber weiterhin nicht einbringen können. In der regierungsnahen Zeitung "Hürriyet" erschien am Freitag ein Beitrag, der den Wissenschaftler zum gefährlichen Putschverschwörer erklärte – ein deutliches Zeichen, dass eine gesellschaftliche Versöhnung in der Türkei auch inmitten der Pandemie noch nicht in Sicht ist.