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Politische Poesie
Wortkünstler und Teppichexperten

Die Verse politischer Poesie sollen "politische Geschichte reflektieren, aber in der ganz unverwechselbaren Manier des Gedichtes", findet Joachim Sartorius. Er hat nun einen Band zur politischen Poesie des 20. Jahrhunderts herausgebracht.

Von Marie-Luise Knott | 20.02.2015
    "Also der Auslöser, glaube ich, für den ganzen Band war ein Treffen in Vilnius mit Czesław Miłosz und Wisława Szymborska. Das ist schon lange her. Die beiden haben dort gelesen, und besonders Miłosz war schon weit über 90, ein sehr alter Herr mit knorrigem Eichenstock. Aber die beiden haben mir ungeheuer imponiert und haben einfach Gedichte vorgelesen, die mir sehr viel von der damaligen Situation in dem Nachkriegseuropa eingefangen haben. Das war glaube ich der Auslöser. Und dann habe ich mich sehr stark mit den polnischen Dichter und mitteleuropäischen Dichtern befasst, das war vielleicht der Ausgangspunkt, ... und später habe ich dann mal gedacht, ach, es wäre doch ganz spannend, ein ganz besonderes Geschichtsbuch zu machen, sozusagen ein Geschichtsbuch des 20. Jahrhunderts, mit Gedichten. Und ich hab dann angefangen vor drei Jahren, nachdem ich den Beschluss gefasst hatte, zu sammeln - also das war dann doch eine große Recherchearbeit."
    So erzählt Joachim Sartorius über die mehr als zehn Jahre zurückliegenden Anfänge seines "Handbuchs der politischen Poesie im 20. Jahrhundert", das soeben erschienen ist. Nicht zuletzt dürfte ihn damals der Ton der Gedichte beeindruckt haben - die in jedem Wort widerhallende Dringlichkeit, mit der die beiden Doyens der polnischen Poesie ihre Zeit sprachlich durchdrungen haben.
    Sartorius ist Dichter. Zuletzt erschien sein Band "Hotel Europa". Außerdem hat er über Jahrzehnte als Diplomat der Schönen Künste gewirkt und immer wieder Dichterkollegen fremder Zunge übersetzt und herausgegeben, darunter 1994 den "Atlas der neuen Poesie" und 1999 "Minima poetica". Das "Handbuch", das er nun vorgelegt hat, ist wie ein klassisches Geschichtsbuch chronologisch aufgebaut. Gegliedert ist es nach den einschneidenden Etappen des 20. Jahrhunderts – es enthält Gedichte vom Völkermord in Armenien, vom Ersten Weltkrieg, über die russische Revolution, den spanischen Bürgerkrieg und die Todeslager; es folgen Verse zur Entkolonisierung in Afrika, zu den revolutionären Hoffnungen in Kuba, und zum Krieg in Vietnam. Außerdem zu Konflikten in China, Jugoslawien und
    Im Nahen Osten. Nach einem abschließenden Kapitel zur globalen Klimafrage beschließt Bob Dylans Song "Masters of War" den Band und erinnert noch einmal daran, dass in diesem Jahrhundert der Kriege und Nationalismen wie nebenbei auch eigenartige Internationale Zusammenschlüsse entstanden sind, denn überall auf der Welt gibt es heute Schriftsteller, die Bob Dylan den Literatur-Nobelpreis wünschen.
    Der Obertitel, den Sartorius für sein Kompendium gewählt hat - "Niemals eine Atempause" – spiegelt die Überlegung, dass mit dem gesteigerten Tempo der gesellschaftlichen Entwicklungen und mit den dramatischen politischen Verheerungen auch die innere Dringlichkeit der Autoren gewachsen ist, sich den Zeiten schreibend zu stellen und entgegenzustellen. Man muss das Dunkle beim Namen nennen, und man muss für die revolutionären Sehnsüchte einen Ausdruck finden, wie es nicht zuletzt Wolf Biermann in seinem Lied "Ermutigung" getan hat. Was Sartorius im Handbuch dank seiner großen Kennerschaft versammelt hat, ist die Suche der Dichter nach einer Sprache der Lebendigkeit und der Sterblichkeit. Doch wie kam Sartorius auf die Idee, das Buch als "Handbuch" anzulegen?
    "Ich fand Handbuch und Poesie zwei Begriffe, die sich in einer Weise ausschließen, und die zusammenzubringen fand ich dann gut, und Handbuch impliziert ja eine gewisse Systematik, einen gewissen Aufbau, eine gewisse Struktur, und ich habe mich daran gehalten. Ich habe dann auch aus einem Witz heraus Kiepenheuer und Witsch vorgeschlagen, wir nennen das jetzt 'Handbuch der politischen Poesie, Band 9, das 20. Jahrhundert', um jetzt offen zu lassen, dass es noch Band 1 – 8 geben kann, und vielleicht kommt dann noch das 21. Jahrhundert."
    Eine überfällige Wiederaufwertung
    Was für ein Einfall! Politische Poesie steht derzeit nicht hoch im Kurs in Deutschland; schon ein Handbuch für das 20. Jahrhundert ist folglich eine überfällige Wiederaufwertung und somit ein großes Verdienst. Gäbe es tatsächlich eines Tages, wie Sartorius vorschlägt, weitere acht Bände, in denen über Jahrhunderte hinweg als politisch erachtete Poesie zusammengestellt wäre, kämen wir wahrscheinlich bei manchen Autoren, die sich dort einfinden würden, ins Wundern. Zudem hätten wir vor allem viel Stoff zum Nachdenken: Was ist das eigentlich, politische Lyrik? Gibt es das überhaupt? Und was vermag sie? Ist nicht "politische" Lyrik immer an Parteinahme gebunden und somit keine Lyrik? Denn jede Tendenzdichtung nimmt schließlich der Gegenwart einige ihrer Widersprüche.
    Dichter sind Kinder ihrer Zeit, und die Zeiten sind politisch. Wie also trennt sich Poesie von politischer? Sartorius zufolge kennzeichnet "politische Poesie", dass die Verse aus politischem Anlass oder Kontext entstanden sind und "politische Geschichte reflektieren, aber in der ganz unverwechselbaren Manier des Gedichtes". Die Grenzen sind sicher fließend. Natürlich ist man bei einigen der im Handbuch versammelten Gedichte peinlich berührt, weil die Aussagen aus der historischen Distanz betrachtet zu offensichtlich und parteiisch sind. Doch gleichzeitig denkt man an Heinrich Heine, dessen aus politischem Anlass entstandenen Verse noch heute wirken, so lebendig wie eh und je. Auch unter den Gedichten von Emily Dickinson finden sich so manche, die wohl einen politischen Anlass hatten. Für die heutige Wertschätzung ihrer Verse spielt diese Tatsache scheinbar keine Rolle, oder doch?
    Im Handbuch begegnen sich viele Bekannte, darunter Brecht, Enzensberger, Miłosz, Bei Dao, Mahmud Darwish und Eugenio Montale, aber auch das von Sartorius übersetzte, erstmals auf deutsch veröffentlichte "Nazi-Lied" von Paul Éluard ist dabei; Gedichte von Breyten Breytenbach aus Südafrika, Dan Pagis aus Israel und Anna Achmatowa aus Russland, Lyrik von Duo Duo oder dem Lateinamerikaner Nicolás Guillén. Ein Handbuch im 20. Jahrhunderts muss aber, das will das Konzept, auch jene Weltereignisse abdecken, deren Sprache und Dichter hierzulande wenig bis gar nicht erschlossen sind.
    "Vietnam ist ein Weltereignis gewesen, und es haben eigentlich Dichter aller Zungen darüber geschrieben. Mein Problem war eher, dass ich relativ schnell, natürlich neben dem Deutschen, auch Skandinavier hatte, und eigentlich auch sehr spannende amerikanische Dichterinnen und Dichter. Aber ich dachte, ja, verdammt noch mal, ich muss doch auch Gedichte finden, die die Opfer selber geschrieben haben, das war dann eben die Suche nach vietnamesischen Dichtern, das war das Schwierige, denn es gab nichts in Deutschland und nichts auf Deutsch. Und dann habe ich eine schwedische Dichterin, die ich kannte und von der ich wusste, dass sie 3 Jahre in Hanoi gelebt hatte, gebeten, mich auf gewisse Fährten zu setzen. Das war dann aber ein relativ langer Prozess."
    So wie Sartorius für den "Atlas der neuen Poesie" unbekannte Dichterstimmen entdeckte, stellt er auch im Vietnam-Kapitel des Handbuchs neben Gedichte von Stefán Grimsson, F C. Delius, Günther Grass und Nancy Morejón Verse zweier hierzulande völlig unbekannter Vietnamesen, -- Pham Tiên Duât und Ché Lan Viên --- in der Übersetzung von Kim Lan Thai. Eine Bereicherung.
    Wenig zu lachen
    Zu lachen gibt es wenig in diesem Handbuch, dabei kann Lachen über so manche Sprachlosigkeit hinwegretten. Bei einigen Gedichten bleibt einem allerdings das Lachen im Halse stecken. Trotzdem: Kurt Tucholskys berühmte traurig-heitere Diagnose der 20er Jahre: "Wir haben nur die Firma gewechselt" findet sich in dem Band ebenso wie Brechts "Kälbermarsch", doch sie bleiben Ausnahmen. Manchmal fragt man sich: Leiden Dichter mehr als andere? Oder liegt es vor allem daran, dass das 20. Jahrhundert kein besonders heiteres Jahrhundert war?
    "Es sind mir auch bei diesen wahnsinnigen Lektüren nie Gedichte untergekommen, die ein positives Ereignis beschrieben haben. Warum gibt es kein Gedicht zur Gründung des Völkerbundes? Es geht ja um das ganze 20. Jahrhundert. Warum gibt es kein Gedicht zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder zum Vertrag von Maastricht? Es gibt ja auch sehr, sehr viele positive Etappen in der Geschichte des letzten Jahrhunderts."
    Möglicherweise waren die Gedichte, die zu positiven Anlässen verfasst wurden, einfach zu plakativ, um den Anlass ihrer Entstehung zu überdauern. Natürlich versammelt ein Handbuch um der Systematik willen auch manch Fragwürdiges, weshalb Sartorius im Nachspann eine Rubrik namens "Schreckenskammer" einrichtete mit frühen Gedichten von späteren Despoten – Stalin, Mussolini, Kim Il-Sung. Auffällig ist, dass, obwohl Gedichte meist Einzelwesen sind, die aus sich heraus wirken, Alle Gedichte hier in Themenkomplexe hineinzitiert und auch eingeführt und kommentiert werden mussten. So notwendig diese Erläuterungen sein mögen, sie nehmen dem jeweiligen Gedicht etwas von seiner Offenheit. In sich ist die Auswahl gelungen die Übersetzungen sind gut – doch es bleiben Fragezeichen, das liegt in der Natur der Sache. Wie eigentlich überdauert das Politische in der politischen Lyrik? Gängelt oder erdrückt man die Gedichte, wenn man die Anmerkungen zu Autor und Entstehungs-Kontext den Versen voranstellt? Und vor allem: Gibt es tatsächlich so viel weniger politisch dichtende Frauen?
    "Es gibt natürlich ein Meer und einen Ozean von politischen Gedichten. Es gibt ja fantastische politische Gedichte aber mit einem sehr, sehr zweifelhaften Inhalt oder einer zweifelhaften Botschaft. Umgekehrt gibt es Gedichte mit guter Botschaft, die aber schlecht geschrieben sind. Und ich muss sagen, da bin ich dann vielleicht doch nicht zu allgemeingültigen – kann man auch nicht - Entscheidungen gekommen. Es ist ja dann doch eine subjektive Auswahl und ich kann mir nur sagen: Ich habe 40 Jahre lang Gedichte gelesen, so wie ein Teppichexperte 40 Jahre lang die Muster von Kelims betrachtet, und dadurch ein geschärftes Auge hat, so habe ich vielleicht auch ein geschärftes Auge dafür, was ein gutes und was ein schlechtes Gedicht ist."
    Sind finstere Zeiten literarische Zeiten?
    Eines der großen Themen, das dieses 20. Jahrhundert uns und dem 21. Jahrhundert aufgegeben hat, ist die Frage: Was wird bleiben vom Kommunismus? Das Kapitel "Lob des Kommunismus" gehört sicher zu den pathetischsten im Band und nimmt sich von heute aus gesehen in der Aussage ziemlich verquast aus, sowohl wenn der französische Kommunist und Surrealist Louis Aragon sein sowjet-apologetisches "Hurra der Ural!" dichtet, als auch, wenn der kubanische National-Dichter Nicolás Guillén in seinem Gedicht die Sowjetunion belobhudelt:
    "Ich, Dichter sag Ihnen klar:
    Nie kam von dort etwas anderes übers Meer
    als was wie Brot gut und freundlich war.
    Und brachte den edlen Klang des Worts Genosse zu uns her."
    Auch das Kapitel über die kubanische Revolution ist poetisch eher schwach, wohingegen die Auseinandersetzung mit Hitler und Stalin kraftvolle Gedichte hervorbrachten, darunter das "Epigraph gegen Stalin" von Ossip Mandelstam. Ob finstere Zeiten, wie vielfach behauptet wird, sich wirklich besser eignen für Literatur, weil der innere Zwang, sich dichtend das Entsetzen und die Angst von der Seele zu schreiben, größer ist? Und ob es etwas gibt, was politische Lyrik weltweit verbindet?
    "Ich habe ja Enzensberger eigentlich immer widersprochen, dass es eine poetische internationale Sprache gibt. Aber wenn man das Kapitel Afrika anschaut, dann ist das schon interessant. Es gibt Gedichte, die man sehr stark eigentlich nur verstehen kann, weil sie so viele Metaphern, so viele Bilder, auch so viel Surrealismus haben, dass man sagt, aha, das kommt jetzt doch aus einer Gegend, die nicht unbedingt Mitteleuropa ist. Auf der anderen Seite gibt es aber auch in dem Afrika-Kapitel Gedichte zum Beispiel von diesem Dennis Brutus, die auch in jedem anderen Gefängnis der Welt hätten geschrieben werden können."
    Ob Langgedicht, Sonett oder reimloser Kurzvers - jedes Gedicht ist auf seine Weise "eine Schule der Güte, Sühne, Reue und Vergebung", wie es der polnische Dichter Herbert einmal formulierte. Der gesamte Band ist von dem Gedanken beseelt, dass, indem wir uns die Geschichten dieses Jahrhunderts der Extreme wieder und wieder erzählen, es uns vielleicht möglich wird, uns damit abzufinden, dass sich das alles ereignet hat. Dazu liefert Sartorius mit seinem Handbuch einen grandiosen Beitrag.
    Joachim Sartorius (Hrsg.): "Niemals eine Atempause. Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert"
    348 Seiten, 22,90 Euro, Kiepenheuer und Witsch, Köln 2014.