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Politische Songs auf Kuba
Von der Nueva Trova zum Reggaeton

Die Kubanische Revolution ließ eine eigene Songbewegung entstehen: die Nueva Trova. Anfangs noch vom revolutionären Geist geprägt, mischten Liedermacher aber schon bald Kritik am System in ihre Texte. Doch wer die Regierung zu scharf angeht, landet im Gefängnis oder erhält Berufsverbot.

Von Peter B. Schumann | 06.10.2017
    Ein kubanischer Sänger mit Gitarre auf einer Straße in der Stadt Trinidad
    Die Nueva Trova gehörte lange zum kubanischen Alltag (imago stock&people)
    Musik: "Hasta Siempre" Carlos Puebla
    Hasta siempre, Comandante Che Guevara: ein Lied verewigt musikalisch die legendäre Symbolfigur der Revolution - nicht nur auf Kuba und in Lateinamerika, sondern weltweit. Vor 50 Jahren, am 9. Oktober 1967, war der Guerrillero auf seiner letzten Mission in Bolivien erschossen worden. Carlos Puebla, der berühmteste unter den Volkssängern der Insel, widmete ihm als erster diesen Song, der viele andere Liedermacher inspirieren sollte.
    Wir lernten dich lieben
    auf der Höhe unserer Geschichte,
    wo Deines Mutes Sonne
    dem Tod Einhalt gebot.
    Uns bleibt deine klare,
    deine strahlende Gegenwart,
    deine unvergängliche Erinnerung,
    Comandante Che Guevara.
    Wir kämpfen weiter,
    bleiben dir treu,
    und mit Fidel sagen wir:
    Hasta siempre/Für immer - Comandante Che Guevara.
    Carlos Puebla, Jahrgang 1917, hat vieles von dem vorweggenommen, was sich in den 1970er Jahren als Bewegung der Nueva Trova, des Neuen Lieds, manifestieren sollte. Er schrieb Texte und Melodien selbst, war Dichter und Musiker und zugleich Revolutionär. Er besang die neuen Errungenschaften - Arbeit, Bildung und Kultur für alle sowie die Notwendigkeit des internationalen Befreiungskampfes. Keiner vor ihm hat so konsequent Politik zum Inhalt seiner Lieder gemacht. Seine Melodien waren schlicht und eingängig, denn sie sollten nicht vom Inhalt ablenken. Deshalb verwendete er auch bekannte kubanische Rhythmen: den Son, den Bolero oder die Guaracha.
    Musik: "Rabo de Nube" - Silvio Rodríguez
    In den 1960er Jahren begannen immer mehr junge Musiker politische Lieder zu schreiben. Die Revolution hatte alle Künste inspiriert, neue Formen und Themen zu suchen. Junge kubanische Musiker erinnerten sich an die Trovadores, die Troubadoure der vergangenen Jahrzehnte, darunter auch Carlos Puebla und seine politischen Lieder. Sie entwickelten diese weiter, die Nueva Trova entstand.
    Neue Songbewegung als Protest
    Auch in anderen Ländern des Kontinents kam eine neue Songbewegung auf: la nueva canción. Sie entstand aus Protest gegen die gesellschaftlichen Verwerfungen, die wirtschaftliche Not breiter Bevölkerungsgruppen und die staatlichen Repressalien, wie sie in den meisten lateinamerikanischen Ländern zu finden waren. Beeinflusst wurde die Bewegung auch von den sozialkritischen Liedern in den USA, von Bob Dylan, Pete Seeger und Joan Baez.
    Der kubanische Sänger Pablo Milanes sitzend vor einem Notenständer, neben ihm eine Gitarre, singt in ein Mikrofon.
    Er gehört seit den 1960ern zu den Trovadores: Der Sänger Pablo Milanes (imago stock&people)
    Die beiden wichtigsten kubanischen Vertretet waren Pablo Milanés und Silvio Rodríguez. Anfangs wurden sie misstrauisch beobachtet und durften in den Medien nur selten auftreten. Erst auf dem Bildungs- und Kulturkongress von 1971 klärten sich die Fronten: die jungen "Trovadores" erhielten Zugang zu Rundfunk, Fernsehen und Aufnahmestudios. Es kam zu einer Nueva-Trova-Euphorie.
    Musik: "Marginal" - Pablo Milanés
    Kommt alle in meinen Garten,
    berührt und entblättert die Blumen, wie ihr wollt.
    Küsst die nahen Lippen mit Zärtlichkeit.
    Vergießt eine Träne
    für jeden von uns,
    der unverstanden ist.
    Und gemeinsam
    singen wir ein Lied
    über die Glückseligkeit,
    die uns erwartet.
    Pablos Milanés und sein Lied Marginal. Es entstand während der dramatischen Versorgungskrise auf Kuba Anfang der 1990er Jahre. Das Stück ist einfach und zugleich raffiniert getextet. Die entscheidende politische Aussage "für jeden von uns, der unverstanden ist" wird ganz beiläufig in diesen poetischen Text eingeflochten.
    Vom revolutionären Projekt überzeugt
    Pablo Milanés, Jahrgang 1943, wurde mit 23 Jahren ohne Anklage in ein Umerziehungslager, eines der berüchtigten UMAPS, gesteckt. Während der ersten Säuberungswelle der Revolution erging es vielen jungen Männern so, die sich wegen ihrer christlichen Überzeugung, ihrer Homosexualität oder - wie Pablo Milanés - wegen ihrer unkonventionellen Erscheinung nicht so einfach vom politischen System vereinnahmen ließen. Schon damals verurteilte er die UMPAS als "stalinistische Konzentrationslager". Dennoch ist Pablo Milanés bis heute von der prinzipiellen Richtigkeit des revolutionären Projekts überzeugt. Nur zur Politik will er sich nicht mehr äußern.
    "Die Rolling Stones fragt man ja auch nicht ständig nach dem Brexit. Und ein nordamerikanischer Sänger muss sich auch nicht sofort zu den Barbareien eines Donald Trump äußern. Warum also muss sich ein Kubaner immer wieder nach der Politik fragen lassen?"
    So Pablo Milanés in einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung Página/12 im August 2017. Nachdem er sich im Laufe der Jahre mehrfach kritisch zur kubanischen Regierung geäußert und deshalb Auftrittsverbote hinzunehmen hatte, geht er einen pragmatischen Weg: Offiziell schweigt Milanés zur Politik, Texte wie "La Soledad" sind dennoch politisch zu verstehen.
    Musik : "La soledad" - Pablo Milanés
    Die Einsamkeit
    ist ein großer, vielfarbiger Vogel,
    der keine Flügel mehr hat zu fliegen
    und bei jedem neuen Versuch
    noch mehr Schmerzen spürt.
    Die Einsamkeit
    tief in der Seele hofft,
    dass der Schrei sich aus seinem Lied erhebt,
    wenn die Stille der Abneigung naht.
    In der Einsamkeit
    tauchen schönste Erinnerungen auf,
    lassen das Herz höher schlagen,
    doch es bleibt nur die Einsamkeit
    der Kindheit
    der Jugend
    des Alters,
    um zu träumen,
    um zu sterben
    in Einsamkeit.
    Der andere große Vertreter der Nueva Trova, Silvio Rodríguez, ist Jahrgang 1946. Er war jahrzehntelang der geistige Bruder von Pablo Milanés. Mit beiden erreichte die neue Songbewegung in den 1970er und -80er Jahren ihren internationalen Höhepunkt. Ihr Credo formuliert Silvio Rodríguez so:
    "In den Liedern der Nueva Trova kann das Volk seinen Weg, seine Gefühle und das Bewusstsein, das die Revolution in uns allen hervorgebracht hat, wiedererkennen."
    Gitarre und poetische Songtexte
    Silvio Rodríguez hatte sich als Oberschüler an der Alphabetisierungskampagne auf dem Land beteiligt und trat sogar in die kubanische Schülermiliz ein. Während Pablo Milanés in einem Umerziehungslager darüber nachdachte zu fliehen, nahm Rodríguez am obligatorischen Militärdienst teil. Erst in der Gruppe für Tonexperimente des Filminstituts ICAIC trafen sich die beiden und wurden zu den bekanntesten Vertretern der Nueva Trova.
    "Die Nueva Trova hat viele Etappen durchlaufen und dabei traditionelle kubanische Melodien und Rhythmen wie die Rumba oder den Conga - einen Karnevalsrhythmus weiterentwickelt. Dabei haben wir uns auch der Rockmusik bedient und auf andere lateinamerikanische Rhythmen zurückgegriffen. Wichtig war uns vor allem eines: mit der Gitarre zu komponieren und poetische Songtexte zu schreiben."
    Das sagte Silvio Rodríguez rückblickend gegenüber der Zeitung El Caimán Barbudo. Im Gegensatz zu Pablo Milanés vertrat er stets die offiziell vorgegebene politische Linie Kubas. Als Intellektuelle und Bürgerrechtler im Schwarzen Frühling 2003 massenhaft verfolgt wurden und es internationale Proteste hagelte, unterschrieb er zusammen mit anderen Kulturschaffenden einen offenen Brief, der die Kritik an der Menschenrechtspolitik Kubas als Verleumdungskampagne zurückwies.
    Erst 2011 kam es zum Bruch mit Pablo Milanés. Dieser hatte während einer Konzertreise in Miami die kubanische Regierungspolitik kritisiert. Rodríguez griff ihn daraufhin in seinem Blog scharf an und unterstellte ihm finanzielle Interessen. Milanés war entsetzt über diese "Lügen und Verdrehungen", wie er es nannte. Seither herrscht Schweigen zwischen den beiden großen Liedermachern Kubas.
    Musik: "Vamos a andar" - Silvio Rodríguez
    Wo die Politik den Künstler kontrolliert, wird die kreative Kraft gebremst. Silvio Rodriguez hat nicht opponiert, sondern sich eingepasst, seine Lieder greifen musikalisch und textlich oft auf Bewährtes zurück. Mitunter wirken sie schematisiert wie dieses "Vamos a andar" aus dem Jahr 1978.
    Lasst uns beginnen
    mit rotem Vers und rotem Leben
    und eine Heimstatt bauen
    für das Brot und für das Leben.
    Lasst uns beginnen
    den Egoismus zu töten
    damit endlich die Freundschaft wieder auflebt.
    "Es gibt Kritik in meinen Liedern, so wie die Mehrheit der Künstler meiner Generation sie in ihren Werken praktiziert."
    Carlos Varela, Jahrgang 1963, wurde offiziell - nach einer staatlichen Prüfung - als Nachwuchs-Troubadour in die Nueva Trova-Bewegung aufgenommen.
    "Meine Lieder haben das Ziel etwas zu verändern"
    "Meine Kritik hat sich im Laufe der Zeit verändert und zwar in dem Maß, in dem ich ins Ausland reisen konnte. Ich will mit meiner Kritik nicht die kubanische Wirklichkeit wie auf einem Foto abbilden. Ich will vielmehr über dieses Foto nachdenken. Meine Lieder sind kritisch und haben das Ziel etwas zu verändern."
    Carlos Varela hörte als Jugendlicher die Lieder von Pablo Milanés und Silvio Rodríguez und versucht ihnen nachzueifern. Er brachte sich selbst das Gitarrenspielen bei, schrieb erste Songs, trat bei kleinen Konzerten in der Umgebung Havannas auf und gründete schließlich eine eigene Band. Doch der Durchbruch kam für ihn erst, als Silvio Rodríguez ihn 1986 auf eine Spanien-Tournee mitnahm. Allerdings eckte er danach mit seinen kritischen Liedern bei der Zensur an. Von den jungen Kubanern wurde er dafür verehrt, doch seine Platten wurden auf der Insel lange Zeit nicht verkauft und seine Lieder von Funk und Fernsehen ignoriert. Inzwischen ist er zum Devisenbringer geworden.
    Portrait von Carlos Varela mit schwarzer Sonnenbrille und einer schwarzen Beanie (Mütze) an einem Mikrofon
    Mir kritischen Texten eckte er bei der Zensur an: Carlos Varela (imago stock&people)
    Musikalisch orientiert sich Carlos Varela natürlich an den traditionellen kubanischen Rhythmen, vor allem am Son, der durch die vor dem Beat liegenden Bassimpulse vorwärtstreibt. Doch unüberhörbar ist seine Nähe zum Pop und zur Rockmusik, vor allem zum Rockjazz. Immer wieder hat er aber auch lyrische Balladen geschrieben wie Guillermo Tell, eines seiner bekanntesten Protestlieder.
    Musik: "Guillermo Tell" - Carlos Varela
    Es handelt von Wilhelm Tell, einem Freiheitshelden, auf den sich Fidel Castro immer gerne berief. Dieser Vater versteht in dem Song nicht, warum sein Sohn eines Tages müde ist, sich den Apfel auf den Kopf zu legen und ihn fallen lässt.
    Guillermo Tell, dein Sohn ist groß geworden
    und will nun selbst den Pfeil abschießen.
    Jetzt ist es an ihm, seinen Mut zu beweisen
    und deinen Bogen in die Hand zu nehmen.
    Guillermo Tell verstand den Eifer nicht,
    denn wer will sich schon der Gefahr eines Pfeils aussetzen.
    Guillermo Tell lehnte es ab,
    sich den Apfel auf den Kopf zu legen,
    und sagte laut:
    Ich trau’ dir das schon zu,
    doch was geschieht, wenn der Pfeil daneben geht?
    Das Lied vom uneinsichtigen Übervater drückte in den 1990er Jahren das Lebensgefühl vieler kubanischer Jugendlicher aus. Der ursprünglich aus der Schweiz stammende Mythos war eine Allegorie ihrer eigenen Geschichte. Der Song wurde zur vielgesungenen Hymne einer ganzen Generation.
    Nicht alle arrangieren sich mit dem System
    Kompromisslos politisch tritt Pedro Luis Ferrer auf. Der 1952 geborene Liedermacher wählte den einsamen Weg eines unbequemen Barden. Er griff Themen wie die Diskriminierung von Homosexuellen oder die Prostitution auf, lange bevor Kritik daran auf Kuba geduldet war. Zu hören waren solche Lieder nur auf Raubkopien, denn die staatlichen Medien boykottierten auch ihn. Er durfte jahrelang nicht offiziell auftreten. Stattdessen sang er bei "Hauskonzerten", in Privatwohnungen und Innenhöfen Lieder wie dieses wohl berühmteste von ihm: "Ciento porciento cubano": Hundert Prozent kubanisch.
    Musik: "Ciento por ciento Cubano" - Pedro Luis Ferrer

    Mein Cuba ist hundert Prozent kubanisch,
    deshalb reserviere ich mir morgen
    das beste Hotel von Havanna.
    Und dann geh‘ ich nach Varadero
    und kauf‘ mir ein Haus
    mit dem Geld, das ich beim Zuckerrohrschlagen verdiente.
    In allen Läden geh’ ich einkaufen
    mit diesem meinem Geld.
    Denn Cuba ist schön wie ein Spiegel,
    wenn wir nur alles gleichmäßig teilen.
    Morgen reservier’ ich mir einen Flug in den Süden,
    um endlich Armut zu sehen.
    Und kehr’ dann wie ein Kubaner zurück,
    in mein hundert Prozent kubanisches Land.
    Pedro Luis Ferrer zählte lange Zeit zu den klassischen Liedermachern: Er vertraute auf seine Gitarre, seine Texte und seine Stimme. Seine Lieder waren oft traditionelle Guarachas, das sind schnelle kubanische Tanzlieder. Mittlerweile nutzt er das gesamte Repertoire der Nueva Trova und spielt mit einem Perkussionisten und einem zweiten Gitarristen.
    Das ironische Lied Ciento porciento cubano hat ihm viel Ärger bereitet. Die Hüter der reinen Parteilehre auf Kuba wollten das Lied nicht verbieten, stattdessen verbannten sie Ferrer aus dem Fernsehen und den großen Konzertsälen. Nur einige seiner Lieder, die im Volk beliebt waren, durften von anderen Sängern gesungen werden.
    "Sehr viel Schaden angerichtet."
    "Die Staatsmacht ist nicht homogen, sondern es existieren verschiedene Strömungen, von denen die einen demokratischer als die anderen sind. Die Bürokraten, die über die reine Lehre wachen, haben sehr viel Schaden angerichtet. Es gibt so etwas wie eine Industrie, die einen ins Lager der Dissidenten drängt, wo ich mich auch schon wiedergefunden habe. Doch ich bin nur ein Individuum, das an einem Prozess teilzunehmen versucht, den es notwendigerweise kritisiert."
    Musik:"El estado de derecho" - Pedro Luis Ferrer Venga
    Pedro Luis Ferrer begnügt sich nicht mit Kritik an Erscheinungsformen. Er hat als erster Liedermacher auch die Systemfrage gestellt und die Utopie eines demokratischen Staats entworfen.
    Der Rechtsstaat soll kommen
    und herrschen auf dieser Insel,
    ein Staat für das ganze Volk
    mit einer Vielfalt von Ideologien.
    Der Rechtsstaat soll kommen
    und die Wirtschaft befreien,
    ein Staat, in dem Arbeiter und Bauern
    ihre Phantasie frei entfalten können.
    Der Rechtsstaat soll kommen
    mit einem Höchstmaß an Freiheit und Recht,
    ein pluralistisches Projekt
    nicht für eine Sekte,
    nicht für einen Führer,
    für das ganze Volk.
    Pedro Luis Ferrer kann heute sowohl auf Kuba auftreten als auch auf Auslandstournee gehen. Vereinnahmen lässt er sich zwar nicht, doch auch er wählt mittlerweile das Schweigen, wenn er sich mit der offiziellen Politik nicht identifizieren kann.
    Rhythmen aus anderen Kulturen
    Musik: "Libertad" - Gorki Águila
    Schon seit den 1960er Jahre kam die Rockmusik nach Kuba, doch sie galt zunächst als etwas Fremdes, das sich gegen die Vielfalt kubanischer Musikrichtungen nicht durchsetzen konnte. Ähnliches gilt für Reggae, Punk und Heavy Metal. Doch es kam anders. Die jüngere Generation ließ sich seit den 1980er Jahren von der Revolution und von den sogenannten "kubanischen Werten" kaum noch beeindrucken und suchte nach eigenen Ausdrucksformen außerhalb der Tradition. Selbst die berühmten Vertreter der Nueva Trova experimentierten mit Rhythmen, die aus anderen Ländern und Kulturen kamen. Ende der 1990er Jahre entstanden in Havanna kleine Clubs, in denen sich junge Musiker, Schriftsteller und Künstler trafen - ständig observiert von der kubanischen Staatssicherheit.
    Musik:"El Comandante" - Gorki Águila
    Der radikalste Vertreter der aktuellen Musikszene ist Gorki Águila. Für den Punkrocker gibt es keine politischen Tabus mehr. In einem Song beschreibt er Comandante Fidel Castro noch zu dessen Lebzeiten als "Coma Andante", als wanderndes Koma, als unerträglichen Tyrannen, der Kubaner für Hungerlöhne arbeiten lässt. Deshalb singt er "Verpiss dich, Kommandant!".
    Porno für Ricardo heißt Gorki Águilas Band. Der Name ist reine Provokation in einem Land, in dem Pornografie - wie so vieles andere - verboten ist. Das Markenzeichen der Gruppe, Hammer und Sichel, besteht aus einem Penis, der in eine Vagina eindringt. Zu Beginn seiner Musikerlaufbahn waren Gorki Águilas Texte noch relativ harmlos. Doch dann wurde der Bandleader 2003 nach einem Konzert festgenommen und zu vier Jahren Haft verurteilt: wegen Drogenbesitzes. Er selbst sprach von einer Falle, die ihn zum Schweigen bringen sollte. Nach zwei Jahren kam er - wegen guter Führung - vorzeitig auf Bewährung frei. Weitere kurze Gefängnisaufenthalte sollten folgen.
    Punkrock ohne politische Tabus
    "Der Bandname Porno para Ricardo konterkariert die Parole der kubanischen Revolution: "Patria o Muerte" - Vaterland oder Tod. Pornografie ist Lust, ist Genuss, ist Leben. Das Gegenteil von "Patria o Muerte"."
    Sagt Gorki Àguila. Er ließ sich auch durch Zwangsmaßnahmen nicht seinen rebellischen Geist austreiben. Mit seinen expliziten politischen Texten hat er auf Kuba neue Maßstäbe gesetzt. Die Nueva Trova beschränkte sich lange Zeit bei ihren Protesten auf ein Spiel der Metaphern, auf ein poetisches Ringen um angemessene Worte, um das Sagbare im System. Ihre Vertreter loteten die Grenzen aus, Gorki Águila überschreitet sie.
    Musik: "El General" - Gorki Águila
    Von Raúl, dem "Tyrannen-Saurier", handelt dieses Lied, von dem Lügner und Schwindler, gegen den sich das Volk erheben soll.
    In den 80er Jahren wären solche radikalen Texte gegen die beiden obersten Führer und das gesamte kubanische System als "gemeingefährlich" oder "konterrevolutionär" mit hohen Gefängnisstrafen geahndet worden.
    Gorki Àguila kam mit einer Geldstrafe davon. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Regierung duldsamer geworden ist: sie vermeidet lediglich internationales Aufsehen, das drastische Strafen gegen Künstler zur Folge hätte. Águila wird ständig überwacht, Einschüchterungsversuche gegen ihn und seine Familie halten an.
    Musik: "La Libertad" - Gorki Águila
    Dieses Stück ist ein Liebeslied, und es klingt genauso ungestüm, aggressiv und anarchisch wie jedes andere von Gorki Águila. Die politische Botschaft ist eindeutig: die Angebetete heißt Libertad - Freiheit. Und für die Freiheit ist Gorki Águila bereit zu kämpfen.
    Neuer Widerstand: Cubaton und obszöne Texte
    Eine ganz andere Form von Protest äußert sich seit einigen Jahren in den Clubs der Subkultur und auf Partys in Innenhöfen. Er richtet sich nicht direkt gegen die Regierung, sondern gegen gesellschaftliche Tabus wie die offiziell verordnete sexuelle Prüderie. Die Liedermacher benutzen dazu gern die Gossensprache und mit Obszönitäten gespickte Texte. Dabei ist ein neuer Sound zu hören: der sog. Reggaeton: eine Fusion aus Reggae, Dancehall und Hip-Hop. Speziell auf Kuba kommen noch einheimische Elemente wie die Timba – eine Variante der Salsa hinzu, so dass man auch vom Cubaton sprechen könnte. Allerdings wird dieser Musikstil vom kubanischen Musikinstitut als "pseudo-künstlerisch" bezeichnet, und das Kulturministerium hat ihn sogar in Einkaufszentren, öffentlichen Verkehrsmitteln und auf der Straße verboten. Er sei vulgär, banal, sexistisch und damit konterrevolutionär. Andere sehen in ihm eine perfekte Mischung aus Gefühl und Trotz.
    Musik: "Chupi Chupi" - Osmani García
    Osmani García heißt der kubanische Reggaeton-Star. Der 36-Jährige ist in Kuba genauso populär wie in den USA, wo er heute lebt. In seinem bekanntesten Hit "Chupi Chupi" schwärmt er von Oralsex, von einem Leben voller Spaß und Lust. Das Video zum Stück wurde auf Kuba als "bester Clip des Jahres" nominiert - dann intervenierte die Zensur.
    "Freier Zugang zu Informationen, damit ich mir meine eigene Meinung bilden kann."
    Das forderte 2013 der kubanische Jazzpianist und Filmkomponist Roberto Carcassés während eines live im kubanischen Fernsehen übertragenden Konzertes, bei dem er ein lateinamerikanisches Liebeslied mit einer politischen Botschaft versah.
    "Ich wünsche mir, dass sie unsere fünf Helden in den USA freilassen. Ich wünsche mir freien Zugang zur Information, damit ich mir meine eigene Meinung bilden kann. Ich will den Präsidenten direkt wählen und auf keinem anderen Weg. Weder Aktivisten noch Dissidenten, nur Kubaner und alle mit den gleichen Rechten. Ich wünsche mir, dass sie die Blockade beenden und auch die Selbstblockade."
    Unbegrenztes Auftrittsverbot
    Zuvor war der Künstler nicht durch Akte des Widerstands aufgefallen. Nach dem damaligen Konzert erhielt er ein unbegrenztes Auftrittsverbot. Dagegen intervenierte öffentlich sogar der Nueva Trova-Grande Silvio Rodríguez, und nach vier Tagen wurde es aufgehoben.
    Doch solche spektakulären Aktionen sind Einzelfälle. Für das politische Lied in seiner ursprünglichen Form gibt es im Zeitalter von Facebook, Twitter und Blog keine zwingende Notwendigkeit mehr. Der Protest hat sich längst in die Medien und manchmal auch auf die Straße verlagert. Die berühmten Protagonisten der Nueva Trova sind zwar alle nach wie vor aktiv, doch sie haben es sich abgewöhnt, ihr Publikum zu agitieren.