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Politischer Mahner

Mit der Bekanntgabe des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, den israelischen Schriftsteller David Grossman mit dem Friedenspreis auszuzeichnen, haben wir es in erster Linie mit einer eminent politischen Entscheidung zu tun.

Von Hajo Steinert | 10.06.2010
    Verglichen mit der Entscheidung von 2008, einer eher weltabgewandten Entscheidung für den Künstler Anselm Kiefer, und 2009, einer durchhaus zum Romantischen neigenden Entscheidung für den Literaturwissenschaftler Claudio Magris, verzeichnen wir in diesem Jahr eine Meldung von tagespolitischer Brisanz. Neben Amos Oz gehört David Grossmann zu den israelischen Schriftstellern, die sich immer wieder kritisch zum Verhalten der israelischen Regierung im Nahost-Konflikt äußern. In Zeitungsbeiträgen und Interviews, vor allem aber auch in Büchern wird er nicht müde, sich für den Frieden in den von Israel besetzten Gebieten einzusetzen.

    Während er von den Machthabern in Israel immer wieder starken politischen Gegenwind erfährt, erfreut er sich in vielen europäischen Ländern eines großen, sowohl politischen als auch intellektuellen Respekts. Den politisch weitsichtig und intellektuell differenziert argumentierenden Schriftsteller und Journalisten David Grossman mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels auszuzeichnen, ist eine Entscheidung von europäischer Dimension.

    Vor Kurzem noch: die israelische Militäraktion auf See gegen die Hilfsgüter-Flotte für Gaza. In einem von mehreren europäischen Zeitungen aus der Tageszeitung "Haaretz" übernommenen Artikel fragt sich David Grossman, wie unsicher, verwirrt und panisch ein Land noch sein muss, um sich so unverantwortlich und dumm, wie es die israelischen Machthaber bewiesen, zu verhalten. David Grossman schreibt, keine Entschuldigung könne die dumme Reaktion der israelischen Regierung und des Militärs rechtfertigen.

    Israel habe seine Soldaten zwar nicht, wie es von radikaler türkischer und palästinensischer Seite hieß, losgeschickt, mit dem direkten Ziel, Zivilisten zu töten. Aber wie es eine kleine, fanatische türkische Organisation geschafft habe, eine aktionistisch handelnde israelische Regierung in eine Falle tappen zu lassen, sei in Hinblick auf diejenigen, die den Vergeltungsschlag zu verantworten haben, unverzeihlich. Der fanatische militärische Einsatz und die grobe Fehleinschätzung der Lage seien die natürliche Fortsetzung der Blockade von Gaza. Den israelischen Politikern, allen voran Benjamin Netanjahu, mangele es, so David Grossmann weiter, an Weisheit und vor allem: an politischer Vernunft.

    Wollte man David Grossman auf eine politische Rolle, die er in Hinblick auf die Auseinandersetzungen zwischen zwei verfeindeten Lagern in Nahost als moralisch integrer Intellektueller spielt, festlegen, so wäre die im Umfeld eines politischen Mahners zu suchen. David Grosmann ist in den vergangenen Jahren nicht müde geworden, anzumahnen, was als Folge eines demokratischen Selbstbewusstseins und einer politischen Vernunft am Ende nur herauskommen kann: ein Friedensvertrag zwischen Israelis und Palästinensern.

    Dieser Vision auch eine literarische Stimme zu geben, ist sein politisches Anliegen. Mit seinen Büchern liefert David Grossman einen Beitrag dazu, wie die Spirale von Gewalt, Hass und Vertreibung im Nahen Osten funktioniert und wie man sie beenden kann: durch Toleranz, Verständigung, Zurückhaltung, Besonnenheit, Respekt für Andersgläubige, Andersdenkende. Das Medium seiner politischen Utopie ist die Sprache.

    Diesem Ziel, einem Ziel der Aussöhnung, diente schon seine vor über 20 Jahren auch ins Deutsche übersetzte Reportagesammlung "Der gelbe Wind". Wie er darin über das hasserfüllte Verhältnis von Israelis und Arabern, anhand von in jede Richtung hin schonungslos recherchierten Alltagssituationen berichtet, öffnete vor allem denjenigen die Augen, die zu einer schlichten, naiven politischen Parteinahme im Nahostkonflikt neigen.

    "Über den Zwang, den Nachbarn zu verstehen", lautete im Untertitel David Grossmans 1992 in einer Mischung aus politischer Verzweiflung und politischer Ermahnung heraus geschriebenes Buch "Der geteilte Israeli". Wie viele seine anderen politischen Publikationen keine reine Kopfgeburt, sondern das Ergebnis langjähriger Recherchen vor Ort.

    Grossman zeigt auf, wie sich politische Konflikte im privaten Leben des Einzelnen auswirken. David Grossman geht zu den Menschen, gleich welcher Religion und welchem Volk sie zugehören, hin, um über Vorurteile zu berichten. "Ich kann es nicht begreifen, wie ein ganzes Volk es dahin hat kommen lassen, sich wie Eroberer aufzuführen, ohne dass es ihm dabei elend wird", heißt es in "Der gelbe Wind".

    Im Gegensatz zu seinen tagespolitischen Einlassungen bietet er in seinen Büchern keine Konfliktlösung an. Er versteht sich als Chronist. Es ist ein Unterschied, ob sich David Grossman etwa im Zuge des Osloer Abkommens 1993 für die Verständigung zwischen Israelis und Palästinenser einsetzt oder einen Roman schreibt. Zwischen den Denkfeldern Dokumentation und Fiktion unterscheiden zu können – auch das macht die intellektuelle Souveränität des diesjährigen Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels aus.

    Ein Roman, der auch ein düsteres Kapitel der deutschen Geschichte aufschlägt, ist das Buch "Stichwort: Liebe" – 1991 erschienen. Darin erzählt er nicht nur davon, wie es heute ist, als Jude in Israel zu leben, sondern auch, aus der Perspektive eines wissbegierigen Jungen, davon, auf welche Schranken man heute in Israel stößt, zu erfahren, was der Holocaust für die Jüngeren bedeutet. Im Zuge der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an David Grossman wird auch dieser Roman neue und hoffentlich auch junge Leser interessieren.