Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Politischer Skandal neu erzählt

1816 sank die französische Fregatte Medusa. Die Schilderung der beiden geretteten Opfer Jean-Baptist Savigny und Alexandre Corréard löste in Frankreich ein politisches Beben aus. Ihr behutsam aktualisierter Bericht ist die Grundlage der Neuausgabe "Der Schiffbruch der Fregatte Medusa".

Von Gernot Krämer | 20.03.2006
    Auf Napoleons endgültigen Sturz und seine Verbannung folgte in Frankreich die Restauration. Der König kehrte zurück, die Adligen wurden wieder in ihre alten Besitztümer und Privilegien eingesetzt, die Schlüsselpositionen der Gesellschaft nach Herkunft und Gesinnung neu besetzt. Da es dem politischen Wendehals Talleyrand in seiner Rolle als Außenminister gelungen war, Frankreichs Stel-lung im europäischen Machtgefüge zu sichern, erhielt das Land auch seine westafrikanischen Kolonien zurück, die während des Krieges von den Engländern besetzt worden waren.

    Um diese Kolonien wieder in Besitz zu nehmen, rüstete man im Sommer 1816 einen aus vier Schiffen bestehenden Konvoi aus. Er sollte mehrere hundert Soldaten, Ingenieure und Verwaltungsbeamte in den Senegal bringen. Wie es dem Geist der neuen alten Zeit entsprach, wurde das Kommando einem verdienten Anhänger der Monarchie anvertraut. Der Vicomte de Chaumareys hatte damals vor sage und schreibe 25 Jahren zum letzten Mal auf einem Kriegsschiff gedient. Jeder seiner Offiziere verstand mehr vom Handwerk als der Kapitän. Dennoch hörte de Chaumareys kaum auf ihren Rat, sondern ließ sich von einem Mann beeindrucken, der über sogar noch geringere Kenntnisse verfügte, näm-lich dem designierten Gouverneur der Provinz, einem seemännischen Laien, der – wenn man seiner Behauptung überhaupt Glauben schenken durfte – zweimal in den Senegal mitgesegelt war.

    Mit schier unerhörter Schlamperei nahm die Expedition ihren Lauf. Ohne Not wurde zunächst der Flottenverband aufgelöst, so dass die beiden langsameren Schiffe zurückblieben. Wichtige Instruktionen des Marineministeriums wurden missachtet, Streitigkeiten an Bord der Fregatte Medusa lähmten die Führung. Dilettantische Navigationsfehler führten zu Unklarheit über die Position des Schiffes. So kam es, dass die Medusa am 2. Juli 1816 bei bestem Wetter und trotz vieler Warnzeichen etwa 50 Kilometer vor der mauretanischen Küste auf eine allseits bekannte Sandbank lief.

    In zwei Tagen fieberhaften Bemühens gelang es nicht, das Schiff wieder flott- zu machen. In der dritten Nacht brach im Sturm der Rumpf. So unprofessionell und chaotisch wie zuvor die Flottenführung und Navigation waren nun auch die Rettungsaktionen. Der Kapitän und die meisten Offiziere sicherten sich Plätze in den drei zur Verfügung stehenden Booten und machten sich überstürzt davon; 150 weitere Personen, die meisten von ihnen Soldaten und einfache Seeleute, drängten sich auf einem notdürftig aus Masten und Planken zusammengezim-merten Floß. Aus Mangel an Auftriebskörpern sank es unter ihrer Last etwa 70 Zentimeter unter den Wasserspiegel. Da es sich nicht lenken ließ, sollte es zunächst mit Hilfe einer Trosse von den anderen Booten geschleppt werden. Aber diese Trosse wurde schon kurze Zeit später gekappt; die ungläubig-fassungslose Besatzung war ihrem Schicksal überlassen.

    Die folgende 13-tägige Irrfahrt überlebten nur 15 der 150 Personen an Bord des Floßes. Zwei von ihnen, der Marinearzt Savigny und der Ingenieur Corréard, schrieben nach ihrer Rettung und Rückkehr nach Frankreich den Bericht, der den Fall berühmt und – wegen des völligen Versagens der Führung – zum politischen Skandal machte. Sie schildern Szenen von hilfloser Wut und tiefster Verzweiflung, Mord und offenem Wahnsinn, Verschwörung und Kannibalismus.

    Das durch den Bericht erregte Aufsehen war erheblich. Die Marine sah sich zu einem Kriegsgerichtsprozess gezwungen, der mit einer Verurteilung des Kapitäns endete. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung in Frankreich gab es eine deutsche Übersetzung des Berichts. Sie ist, behutsam aktualisiert, die Grundlage der Neuausgabe, die sich durch informative und inspirierende Begleittexte auszeichnet. Der Schriftsteller Michel Tournier stellt in seinem Vorwort Betrachtungen über "religiöse Echos" in der Geschichte des Schiffbruchs der Medusa an.

    Johannes Zeilinger erzählt in seinem Nachwort ebenso pointiert wie detail-genau die historischen Zusammenhänge und die Lebensläufe der Beteiligten. Der Kunsthistoriker Jörg Trempler schließlich befasst sich mit bildlichen Darstellungen der Katastrophe, vor allem natürlich mit dem berühmten Gemälde von Théodore Géricault.
    All diese Arbeiten bestechen neben ihrer Lesbarkeit und Kompetenz durch die Kontexte, die sie erschließen: etwa im Hinblick auf die mythischen und metaphorischen Überlagerungen des Schiffbruchs oder den Gebrauchswert von Géricaults Gemälde in einer Zeit vor Erfindung der Nachrichtenfotografie. Noch im Literaturverzeichnis findet sich Überraschendes: Die literarischen Bearbeitungen des Stoffes reichen von Jules Verne bis Julian Barnes, die musikalischen von Friedrich von Flotow bis Hans Werner Henze.

    Das Verblüffendste an dem Bericht von Savigny und Corréard ist vielleicht, wie literarisch er trotz seiner grausamen Authentizität heute wirkt – eine auf nahezu unheimliche Art perfekte Erzählung. Gerade seine Nüchternheit, das weitgehende Fehlen rhetorischer oder sentimentaler Überzeugungsmittel, lässt ihn, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vollkommen modern erscheinen.

    Und doch gibt es einen ganzen Abschnitt des Textes, der den heutigen Leser verwirren muss, in seinem Sinn für Form wie in seinem Sinn für Moral. Die Autoren hielten es nämlich für richtig, dem Bericht ein Supplement von einem knappen Dutzend Seiten folgen zu lassen, in welchem sie Vorschläge für die weitere Kolonisierung der Gebiete des heutigen Senegal und Gambias machen. Dieser plötzliche Themenwechsel – von der menschlichen Tragödie zur kolonialen Wirtschaftsplanung – verblüfft und dämpft ein wenig die Wirkung des Gelesenen. Auch wird spätestens hier deutlich, dass die Autoren, die eben noch so überzeugend gegen die Zweiklassengesellschaft ihres Landes Anklage erhoben, keine Bedenken trugen, die Menschheit außerhalb Europas selbst in Klassen einzuteilen.

    Es ist nicht der einzige Schatten, der auf die beiden fällt, wie Johannes Zeilinger in seinem Nachwort ausführt. Man wird nie genau wissen, was auf dem Floß in den 13 Tagen seines nahezu steuerlosen Dahintreibens geschah. Aber dass Savigny mehr Grund zur Reue hatte als in seinem offiziellen Bericht deutlich wird, scheint ein erst 1991 veröffentlichtes Manuskript von seiner Hand zu zei-gen: "Ihr unglücklichen Opfer", heißt es da, "viele von euch haben uns umsonst angefleht; unsere barbarischen Ohren blieben aber taub, und ihr wurdet auf unmenschliche Art geopfert."