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Politisches Sittenbild

Manche Bücher brauchen Jahre, bis sie ihr Publikum finden, und manchmal fällt es auch im Nachhinein schwer, die Ursachen für diese verschleppten Wahrnehmungen zu benennen. Um so erfreulicher ist es, wenn verlegerische Beharrlichkeit und Entdeckerlust zum Erfolg führen und bedeutende Werke endlich Anerkennung finden. So machten deutsche Leser zuletzt zum Beispiel die angenehme Bekanntschaft mit Sándor Maraís Glut, Kressmann Taylors Adressat unbekannt oder Antál Szerbs Reise im Mondlicht, mit Romanen also, die hierzulande verschollen oder gänzlich unbekannt waren und erst mit einer Verzögerung von mehrerer Jahrzehnten aus der Abstellkammer der Literaturgeschichte hervorgeholt wurden.

Von Rainer Moritz | 24.10.2004
    Dem 1933 in Ungarn geborenen und heute in London lebenden Stephen Vizinczey könnte eine vergleichbare Entdeckung bevorstehen. Seine Bücher fanden und finden Anklang in vielen Ländern, erreichten hohe Auflagen und wurden mit Preisen ausgezeichnet, in diesem Sommer etwa in Italien mit dem Premio Isola d’Elba, der in der Vergangenheit an Autoren wie Alexander Kluge, Tomasso Landolfi, Michel Tournier oder Mario Luzi ging. In Deutschland blieb es bei halbherzigen Versuchen, Vizinczey bekannt zu machen, und so ist es mutig und lobenswert, wenn der neu gegründete Münchner Verlag SchirmerGraf einen neuen Anlauf unternimmt, einen intelligenten Erzähler wie Stephen Vizinczey in Neueditionen zu präsentieren.

    Nachdem SchirmerGraf in diesem Frühjahr Vizinczeys Essays Die zehn Gebote eines Schriftstellers veröffentlichte, die in begeisterter Weitschweifigkeit Heinrich von Kleist oder Stendhal preisen, in bissigen Randbemerkungen Goethe und Thomas Mann abtun und auf diesem Umweg nach Lüge und Wahrheit in der Literatur fragen, liegt nun jener Roman hervor, der – 1965 im Selbstverlag in Toronto erstmals erschienen – Vizinczeys Renommee als hoch gebildeten und zugleich skandalträchtigen Schriftsteller begründete.

    In Praise of Older Women heißt dieser erotische Bildungsroman im Original, und die Mühsal, den Text adäquat ins Deutsche zu bringen, zeigt sich bereits in der Wahl des richtigen Titels. Zwei Übersetzer und Verlage hatten damit in der Vergangenheit gerungen: 1967 wagte der Scherz Verlag die – je nach Standpunkt – kühne oder dümmliche Übertragung Frauen zum Pflücken, die einem leichten Schauder über den Rücken jagt. Knapp fünfzehn Jahre später gab sich Klett-Cotta solider, degradierte das weibliche Geschlecht nicht zum überreifen Obst und hielt sich mit der Titelwahl Lob der erfahrenen Frauen enger an das Original.

    Und nun? Carina von Enzenbergs elegante, gelegentlich mit dem Konjunktiv auf Kriegsfuß stehende Neuübersetzung trägt einen auf den ersten Blick irreführenden Titel: Wie ich lernte, die Frauen zu lieben ist zwar zeitgemäß aufgefrischt, unterschlägt jedoch eine entscheidende Komponente des Romans: Vizinczeys Absicht, das Loblied auf eine bestimmte weibliche Altersgruppe zu singen, auf Damen, die über Erfahrungen verfügen und bereit sind, lernwillige Novizen an diesem Schatz teilhaben zu lassen.

    Wie ich lernte, die Frauen zu lieben unterschlägt diese Eingrenzung, gewiss, doch im Gegenzug muss man einräumen, dass damit ein Titel gefunden wurde, dessen indirekte Frage Lehrreiches verspricht und nicht mit der Tür ins Haus fällt: Dass Stephen Vizinczeys Romanheld den – mit Marcel Proust gesprochen – Glücksversprechungen "junger Mädchenblüte" misstraut, erschließt sich so Schritt für Schritt, mit jeder neuen Erfahrung, die der liebeshungrige Protagonist macht. Und nicht zuletzt: Der neue Titel erinnert an François Truffauts großartigen Film Der Mann, der die Frauen liebte, an jene traurig komische Lebensbeichte des Ingenieurs Bertrand Morane, bei dessen Beerdigung sich ausschließlich Frauen einfinden, die allesamt zu wissen glauben, dass ihr einstiger Geliebter ihre Seele verstand, und denen es herzlich gleichgültig ist, dass sie nicht allein von diesem Einfühlungsvermögen profitierten.

    Truffauts und Vizinczeys Hauptfiguren ist gemeinsam, dass sie Frauen nicht als austauschbare Objekte ansehen. Ihre Eroberungen sind erfolgreich, weil sie versuchen, das Geheimnis aller von ihnen begehrten Frauen zu erforschen, und ihren Partnerinnen das Gefühl geben, als Person geachtet und geliebt zu werden. Truffaut und Vizinczey statten ihre Hommes à femmes nicht mit überdimensionierten maskulinen Zügen aus; sie sind sympathische Verführer, die keinen Zweifel daran lassen, dass erst der Tod sie daran hindern wird, sich zu neuen Ufern aufzumachen. Wer liebt, wird geliebt werden – so die einfache Formel:

    Wenn Sie Frauen tief im Innern hassen, wenn Sie davon träumen, sie zu demütigen, wenn Sie es genießen, sie herumzukommandieren, werden sie es Ihnen wahrscheinlich mit gleicher Münze heimzahlen. Sie werden Sie in dem Maße begehren und lieben, wie Sie sie begehren und lieben – und gepriesen sei ihre Großzügigkeit.

    Vizinczeys Roman kommt als fingierte Lebensgeschichte einher, die stark autobiografische Züge trägt. Die amourösen Erinnerungen des András Vajda kündigt der Untertitel an: Der an der University of Michigan lehrende Philosophieprofessor Vajda blickt auf sein Leben zurück, das erst gut drei Jahrzehnte umfasst und dennoch eine Vielzahl von Schicksalsschlägen aufweist. Aufgewachsen im Ungarn der dreißiger Jahre, verliert der zweijährige András seinen Vater, als dieser von einem nationalsozialistischen Fanatiker ermordet wird. Seine Mutter und er verlassen die Hauptstadt und lassen sich im Westen Ungarns, im Städtchen Székesfehérvár, nieder. Dort bleiben sie von den politischen Schrecken verschont, bis die Deutschen 1943 Székesfehérvár zur Garnison machen und die Familie Vajda schließlich in die Flucht nach Österreich schlagen. Erst 1946 kehrt man nach Ungarn zurück; zehn Jahre später zwingt der niedergeschlagene Oktoberaufstand von 1956 András dazu, seine Heimat für immer zu verlassen und über Italien nach Kanada auszuwandern, wo er seine philosophische Studien abschließt.

    Vizinczeys Roman zieht seine Faszination daraus, dass er politisches und privates Leben unaufdringlich miteinander verknüpft. Die frühreifen Neigungen des Kindes András lassen sich vom Geschick seines Heimatlandes nicht trennen. Immer wieder – mal unterschwellig, mal offenkundig – bringen es die gesellschaftlichen Umstände mit sich, auch das persönliche Verhalten zu überdenken, und immer wieder gerät András’ Liebesleben unter den Einfluss der Politik. Ungarns Geschichte ist eine "Geschichte des Verlierens und des Durchhaltens", eine Erfahrung, die sich im Kampf gegen die russischen Besatzer eindringlich bewahrheitet. András fühlt eine "Art mystische Verbundenheit" mit seinem Land, ehe er begreift, dass er als "herumtändelnder Internationalist" dem Glauben abschwören wird, dass es "für jeden Menschen nur eine wahre Heimat geben" kann.

    Die äußeren Umstände sind es auch, die András vor der Zeit mit rohen sexuellen Realitäten konfrontieren. Für die amerikanischen Armeeangehörigen wird der gewitzte Junge zu einer wichtigen Kontaktperson, der die in Nöten geratenen Frauen der Gesellschaft dezent zu Soldaten führt, die Liebesdienste mit Zigaretten, Rindfleisch und Milchpulver entlohnen. András’ Lehrzeit weckt seine Begierde, sich selbst ins erotische Getümmel zu stürzen, und sie zeigt ihm schonungslos, dass Wort und Tat in einer Gesellschaft deutlich auseinanderklaffen, wenn es um Sexuelles geht:

    Meine erste Erkenntnis dank dieser abenteuerlichen Beschäftigung war, dass die meisten moralischen Ansichten über Sex keinerlei Bezug zur Wirklichkeit hatten. Diese Erkenntnis machte sich auch unter den staunenden, ehrbaren, mitunter sogar hochnäsigen Frauen aus der Mittelschicht breit, die ich vom überfüllten, armseligen ungarischen Lager zu den amerikanischen Kasernen führte. Gegen Kriegsende, als selbst die Österreicher nahezu alles bitter benötigten, gab es für die Hunderttausenden von Flüchtlingen kaum mehr das zum Überleben Notwendige. (...) Stolz und Tugend, die den Frauen in ihrer heimischen Umgebung so wichtig gewesen waren, besaßen im Flüchtlingslager keinen Wert mehr. Errötend, aber nicht selten in Gegenwart ihrer schweigenden Ehemänner und Kinder, fragten sie mich, ob die Soldaten Geschlechtskrankheiten hätten und was sie ihnen bieten könnten.

    Auf diese Weise in das Wesen der Doppelmoral eingeführt, macht sich András nach seiner Rückkehr sofort daran, die Theorie in lustvolle Praxis umzusetzen. Hartnäckig, vom Eifer des echten Enthusiasten getrieben, verfolgt er seine Ziele und erkennt, dass sich die Ungeübtheit eines Mannes am raschesten beseitigen lässt, wenn er sich den Händen einer erfahrenen Lehrmeisterin anvertraut. Die Hölle, die heranwachsende Jungen und Mädchen erfahren, muss nicht gemeinsam durchlitten werden, und so duldet es für András keinen Zweifel, wie er seinen Horizont erweitern und seine erotischen Fertigkeiten schulen wird:

    Mit jemandem ins Bett gehen zu wollen, der so unerfahren ist wie man selbst, erscheint mir ungefähr so vernünftig, wie als Nichtschwimmer mit einem Menschen, der nicht schwimmen kann, in tiefes Wasser zu gehen. Selbst wenn man nicht ertrinkt, kriegt man einen Schock fürs Leben.

    András’ Suche ist Erfolg beschieden: Maya Horvath, eine verheiratete Volkswirtin mit Tagesfreizeit, nimmt sich des unruhigen Knaben an und führt ihn die aufregenden Geheimnisse abwechslungsreichen Beischlafs ein. Maya erweist sich als ideale Lehrerin, die ihr Vergnügen sucht und gleichzeitig gewillt ist, ihren Zögling ernst zu nehmen. Die Stunden mit ihr werden für András zur Initialzündung, die sein ganzes Leben steuert. Maya verkörpert erotischen Genuss, der weit mehr als kurzfristige Triebbefriedigung ist. Auch im Rückblick des situierten Hochschullehrers in Ann Arbor bleibt für András die Erfahrung seiner Jugend so sinnlich, als läge das Tête-à-tête mit Maya erst wenige Tage zurück:

    Dann liebten wir uns, vom sonnigen Nachmittag bis lange nach Einbruch der Dunkelheit. Ich habe seit jenen zeitlosen Stunden nicht mehr viel dazugelernt: Maya brachte mir alles bei, was man wissen muss. Dabei ist ‚beibringen’ nicht das richtige Wort: Sie bereitete uns beiden einfach Freude, und ich merkte gar nicht, wie ich meine Unwissenheit abstreifte, während ich die fremden Territorien ihres Körpers erkundete. Sie fand Vergnügen an jeder Bewegung – oder auch nur daran, meine Knochen und meine Haut zu befühlen. Maya gehörte nicht zu den Frauen, die im Orgasmus die einzige Belohnung für eine langweilige Verrichtung sehen: Mit ihr war die Liebe eine Vereinigung, keine Selbstbefriedigung zweier Fremder im selben Bett. ‚Sieh mich an’, sagte sie rechtzeitig zu mir, bevor sie kam, ‚es wird dir gefallen’.

    Sex ist für den derart eingeführten András keine angenehme sportliche Disziplin und kein Mittel, möglichst viele Eroberungen zu machen. Der Reigen seiner Gefährtinnen ist groß, doch nie erscheinen diese – fast immer reifen – Frauen als austauschbare Objekte, als Opfer eines männlichen Bedürfnis nach Machtausübung. Ilona, Zsuzsa, Boby, Nusi … András’ Bekanntschaften verfügen über Charakter und Stärke; es sind selbstbewusste Frauen, die es dem jugendlichen Liebhaber nicht zu leicht machen. Und manchmal sind sein Geschick und seine Überzeugungskraft besonders gefragt, so etwa bei der Italienerin Paola, die die ungarischen Flüchtlinge betreut und aufgrund ihrer Sprödigkeit gänzlich ungeeignet scheint, in die Fänge des attraktiven Studenten zu geraten. Doch gerade Paola, die sich selbst als frigide bezeichnet, erweist sich als kongeniale Partnerin und fordert die intellektuellen Fähigkeiten ihres Geliebten heraus. Sie ist es, die sein philosophisches Interesse schürt, ihn zur Beschäftigung mit Jean-Paul Sartre auffordert und dadurch seinen weiteren Lebensweg als Philosoph – und auch das Ende ihrer Partnerschaft – vorbereitet.

    Vizinczeys Wie ich lernte, die Frauen zu lieben ist kein Roman für Besucherinnen von Lesekränzchen, die von Literatur erwarten, sie möge die offiziellen Fundamente von Moral und Anstand stärken. Dennoch ist dieses Buch bei all seiner Freizügigkeit keine Lobrede auf die Bindungsunfähigkeit des modernen Mannes oder auf die Skrupellosigkeit im Umgang mit anderen. Nein, der Preis, den András für seine Art der Lebensführung zu zahlen hat, wird genannt. In der Rückschau erscheint ihm sein Leben als "Abfolge von Einblendungen und Ausblendungen", als Kreislauf, bei dem alles, was er gewann, auch verloren wurde. Und ohne Umschweife erkennt er an, dass sein Unvermögen, an die dauerhafte Liebe zu glauben, zwangsläufig zu Verletzungen führt: am eigenen Leib und im Herzen derjenigen Frauen, die in schöner Regelmäßigkeit aus dem Brennpunkt des männlichen Interesses verschwinden. Mit moralisch sauberer Weste kommt man als nimmermüder Frauenbetörer nicht durchs Leben:

    Eines Tages vertraute ich mein Problem meiner neuen Geliebten an und jammerte, dass ich nicht wisse, was schlimmer für Nusi sei: wenn ich sie verließ oder wenn wir so weitermachten. ‚Mein Lieber’, stellte sie seufzend fest, ‚du hast es hier nicht mit einem moralischen Problem zu tun, sondern mit einem Fall extremer Eitelkeit.’
    Ein paar Tage später hatte ich mit Nusi einen heftigen Streit. Sie warf mir vor, ich langweile mich bei ihr, und ich behauptete, ich liebe sie so sehr wie immer, und unser einziges Problem sei ihr argwöhnisches Wesen. Da sie mir nicht recht glaubte, räumte ich schließlich ein, dass sie Recht hatte, und schlug ihr die Trennung vor.
    Nach einer Weile düsteren Grübelns straffte sie die Schultern und sah mit ihren riesigen Augen durch mich hindurch. ‚Nun, es endet so, wie ich es mir immer gedacht habe. Wenn mich nur mal jemand überraschen würde!’


    Vizinczeys episodischer Roman lebt nicht von einer ungewöhnlichen Dramaturgie oder besonders ausgefeilten Spannungsbögen. Er ist ein Text, den letztlich die philosophische Bestimmung der Liebe leitet und der versucht, durch beharrliche Reflexion Gewissheit über die Gesetze von Zu- und Abwendung zu erlangen. Es wundert nicht, dass die kanadische Verfilmung von 1978 – unter dem nichtssagenden Titel "Lust auf Liebe" – dieser Qualität des Buches nicht gerecht werden konnte. Vizinczey bewegt sich auf der Bühne seines eigenen Lebens, und ganz erstaunlich ist es, dass dieser von einem gerade einmal 32-Jährigen geschriebene Roman nichts Altkluges und Prätentiöses an sich hat. Es gibt wenige Bücher, denen es gelingt, Neues, ja Überraschendes über die Liebe zu erzählen und Erkenntnisse gelassen auszubreiten, die der bürgerlichen Moral hohnsprechen und diese dennoch als Widerpart ernst nehmen. "Wie ich lernte, die Frauen zu lieben" gehört fraglos dazu.

    Ein belesener Autor wie Stephen Vizinczey kommt nicht umhin, die Erfahrungen seines Lebens mit jenen zu vergleichen, die ihm in der Weltliteratur begegnen. Einer der Säulenheiligen in Vizinczeys Aufsätzen "Die zehn Gebote des Schriftstellers" ist der Franzose Stendhal, dessen Traktat er "Über die Liebe" detailliert kommentiert. Und auch Stendhals "Rot und Schwarz" zählt zu Vizinczeys Lieblingslektüren, geht es in diesem Roman doch auch darum, wie ein von Ehrgeiz gepackter junger Mann – Julien Sorel – seine Karriere plant und welche Rolle die Frauen in diesem Intrigenspiel einnehmen. Die Art und Weise, wie Sorel sich selbst Mut zuspricht und es endlich wagt, beim nächtlichen Gartengespräch nach Madame de Rênals Hand zu greifen, rüttelt András Vajda auf und lässt ihn die Initiative ergreifen.

    Nachdem ich die Worte wieder und wieder gelesen, warf ich das Buch auf mein Bett, verließ türknallend die Wohnung und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Wenn ich diesmal nicht den Mumm habe, nahm ich mir vor, geh ich hinunter zur Donau und ertränke mich. Ich beschloss jedoch, meinen Selbstmord bis Einbruch der Dunkelheit zu verschieben, da mich tagsüber Passanten entdecken und herausfischen könnten. Als ich bei den Horvaths klingelte, war ich mir nicht ganz sicher, ob ich es fertig bringen würde, Maya meine Frage zu stellen, aber für mich stand fest, dass ich mich, sollte ich versagen, noch am selben Abend umbringen würde.

    Der Gang zur Donau bleibt András erspart, denn Stendhals "Rot und Schwarz gibt András genügend Kraft, Maya Horvath seine Beischlafabsichten zu gestehen, und dem ersten Liebesspiel mit der erfahrenen Nachbarin steht nichts mehr im Wege. Literatur greift manchmal direkt ins Leben ein; daran lässt Vizinczeys Roman keinen Zweifel.

    Reflexionen über die Liebe und Reflexionen über das Leben im Ungarn der fünfziger Jahre machen aus diesem Buch eine leicht dahinfließende und melancholisch grundierte Lektüre. Vizinczeys Alter Ego ist dabei hart gegen sich selbst. Ohne missionarischen Eifer und mit großem psychologischen Verständnis betont er in seinen Erinnerungen, dass derjenige, der nicht an die ewige Liebe glaubt und es zudem für möglich hält, mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben, kein Subjekt ist, dem mit moralischen Vorwürfen beizukommen ist. András Vajda lernt nach und nach, dass Schuldgefühle fehl am Platze sind, wenn sich der Wunsch nach dauerhafter Zweisamkeit als Fiktion erweist. Dies anzuerkennen und sein Gegenüber darüber nicht zu täuschen macht die Kunst des Liebens und die Kunst des Lebens aus.

    Es ist weniger schmerzlich, sich einzureden ‚Ich bin oberflächlich’, ‚Sie ist egozentrisch’, ‚Wir haben uns nicht verstanden’ oder "Es war rein körperlich’, als die schlichte Tatsache zu akzeptieren, dass Liebe ein vergängliches Gefühl ist, und zwar aus Gründen, auf die wir keinen Einfluss und die nicht einmal mit unserer Persönlichkeit zu tun haben. Aber wer kann sich schon selbst mit rationalen Überlegungen trösten? Kein Argument vermag die Leere zu füllen, die ein abgestorbenes Gefühl zurücklässt und die uns an die endgültige Leere, an unsere letztendliche Treulosigkeit erinnert. Sogar dem Leben sind wir untreu.

    Am Ende verlieren wir diesen unvergesslichen Lebensvirtuosen András Vajda aus den Augen. Seine ungezwungene Beichte endet mit dem Ausblick auf die "Abenteuer eines Mannes in mittlerem Alter", doch das sei eine "andere Geschichte". Ob wir diese von Stephen Vizinczey je erzählt bekommen, ist fraglich. Immerhin: Der Verlag bereitet eine Neuausgabe seines Romans "Der unschuldige Millionär" vor, und dem Anschein nach ist Vizinczey dabei, ein neues Buch abzuschließen. Die Wiederentdeckung eines großen europäischen Schriftstellers ist noch nicht zu Ende.
    Stephen Vizinczey
    Wie ich lernte, die Frauen zu lieben. Die amourösen Erinnerungen des András Vajda
    SchirmerGraf Verlag, 308 S., EUR 19,80