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Politisches und Privates

Eine Reise in die eigene Vergangenheit unternimmt die Soziologin Necla Kelek. Im Alter von zehn Jahren kam sie 1967 mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland. Hier studierte sie und schrieb eine Doktorarbeit zum Thema "Islam im Alltag". Heute ist Necla Kelek eine Stimme von Gewicht in der deutschen Integrationsdebatte. In ihrem neuen Buch wendet sich die Publizistin erstmals dem Land ihrer Kindheit zu. Und trifft auf eine "Bittersüße Heimat". Barbara Schmidt-Mattern stellt uns das Buch vor.

13.10.2008
    "Ich muss heute nach Eyüp!" verkündete meine Mutter eines Morgens beim Frühstück, als wir noch in Istanbul lebten, "Necla nehme ich mit!"

    Istanbul in den sechziger Jahren. Hier, in der Millionenmetropole am Bosporus ist Necla Kelek aufgewachsen. Heimat, schreibt sie zu Beginn ihres Buches - ist für sie kein Ort, sondern die Sehnsucht nach dem Verlorenen, wenn man in der Fremde ist. Und: "Heimat ist Familie":

    Nachdem meine Mutter ein dezentes Kostüm ausgesucht hatte, packte sie ein leichtes weißes tülbend, ein Kopftuch in ihre Tasche, passend zu den Schuhen mit den Pfennigabsätzen.
    Wir wohnten im asiatischen Teil von Istanbul, in Kadiköy. Der Weg auf die europäische Seite war Mitte der 1960er Jahre eine kleine Reise. Erst mit dem tramway, der Straßenbahn zum Hafen, dann mit der Fähre über den Bosporus nach Eminönü, dann mit einem Boot weiter das Goldene Horn entlang nach Eyüp.

    Keleks Heimat Türkei ist ein Ort, mit dem sie süße Erinnerungen verbindet. Der melancholische Blick zurück, auf das Familienleben, auf die duftenden Speisen oder die besondere Aura von Istanbul - all das sind Höhepunkte in Keleks Buch - das überhaupt immer dann stark ist, wenn die Autorin in den Alltag eintaucht. Aber egal, in welchem Landesteil sie unterwegs ist, überall macht Necla Kelek die gleiche beunruhigende Beobachtung:

    "Die Türkei präsentiert sich als ein islamisches Land, reformfähig Richtung Europa, weil sie wirtschaftlich ökonomisch Europa dringend braucht. Aber viel entscheidender ist doch, wie der Alltag mittlerweile in der Türkei gelebt wird, wie die Öffentlichkeit von Religion bestimmt wird. Sie haben keine Ecke mehr in der Türkei, wo sie nicht ohne den Muezzin-Ruf schlafen können."

    Als biographisch eingefärbter Reisebericht lässt "Bittersüße Heimat" sich sehr gut lesen. Wenn Kelek den Zustand des Landes am Beispiel der eigenen Familie beschreibt, vermischt sie geschickt und unterhaltsam Politisches und Privates, etwa im ersten Kapitel, in dem sie die Beerdigungsfeier ihres Lieblingsonkels in der Kemalisten-Hochburg Ankara beschreibt. Bei der Analyse der politischen Verhältnisse argumentiert Necla Kelek jedoch allzu oft pauschal. So unterstellt sie den Türken ungeachtet des Wirtschaftsbooms der letzten Jahre "vormoderne Arbeitsauffassungen" und ein "technisches und organisatorisches Modernitätsdefizit". Der Eindruck, das Kelek manchmal lieber Klischees als aktuelle Entwicklungen aufgreift, verstärkt sich mit fortlaufender Lektüre, denn die Beschreibung der gesellschaftlichen Gegenwart der Türkei nimmt in diesem Buch bei weitem den größten Raum ein. Die politischen Verhältnisse sind für Necla Kelek der bittere Teil ihrer Heimat. Vor allem kritisiert sie die nach ihrer Ansicht fortschreitende Islamisierung des Landes. In ihrer sehr emotionalen Einleitung schreibt sie:

    Es gibt so vieles, was mich erbittert und zornig macht - dass Mädchen und Frauen von der Politik alleingelassen werden; dass kleine christliche Gemeinden sich vor der Feindseligkeit ihrer muslimischen Umwelt hinter hohe Mauern zurückziehen müssen; die Bereitschaft, Verbrechen "im Namen der Ehre" zu begehen, gegen die die Frauenorganisation Kamer kämpft.
    In fünf Kapiteln, die leider sehr unübersichtlich strukturiert sind und den Leser kreuz und quer durch die Türkei führen, beschreibt die Autorin ausführlich die schwierige Lage der Frauen, die Auseinandersetzung zwischen Kemalisten und der Regierungspartei AKP, die Benachteiligung ethnischer und religiöser Minderheiten, und die unaufgearbeitete Vergangenheit - zum Beispiel die Massaker an den Armeniern im Jahre 1915. Hinzu gesellen sich zahlreiche kleine Unterkapitel, über osmanische Tischsitten oder den Umgang mit jüdischen Flüchtlingen im Zweiten Weltkrieg. Für sich genommen ist jeder Exkurs spannend, aber ab und zu geht die Kleinteiligkeit zu Lasten der Orientierung. Das ist auch eine Folge des subjektiven Blickwinkels, mit dem sich Necla Kelek ihrer Heimat nähert:

    "Ich bin inzwischen Deutsche - nicht nur dem Pass nach. Vielleicht musste ich mich lange fernhalten von dem Land, aus dem ich gekommen bin, um auch für diesen Teil meines Lebens und meiner Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen. Jetzt bin ich so weit. Und ich versuche, beide Welten miteinander zu verbinden, die Vergangenheit in die Zukunft hinüberzuretten."
    Aus dieser Perspektive betrachtet ist Kritik durchaus angebracht: Der EU-Reformprozess ist in der Türkei fast zum Erliegen gekommen, der Kurdenkonflikt akuter denn je, und gerade im ländlichen Anatolien regiert unangefochten das Patriarchat. All das prangert Kelek an, ignoriert dabei aber die kleinen und auf lange Sicht wirkenden Fortschritte, die die Türkei in den letzten Jahren auch gemacht hat: die zumindest teilweise Erweiterung der Meinungsfreiheit, die jüngste Annäherung von Staatspräsident Gül an Armenien oder das Bemühen der obersten Religionsbehörde Diyanet um mehr Transparenz. Gerade dieser Behörde - der wichtigsten Kontrollinstanz des Staates über die Religion - wirft Necla Kelek vor, die Dominanz des Islam im Alltag voran zu treiben. Als Beleg dafür nennt Kelek die zunehmende Ausbreitung des Kopftuches.
    Westliche Intellektuelle mahnen gern zur Gelassenheit gegenüber solchen Kleiderfragen. Daran würde weder bei uns noch in der Türkei die Demokratie zugrunde gehen. Ich teile diese Meinung nicht, denn das Kopftuch ist die voranflatternde Fahne einer ganzen Ideologie, der Ausdruck eines kollektivistischen und patriarchalischen Gesellschaftsbildes.
    Lohnens- und lesenswert ist es auf jeden Fall, Necla Kelek auf ihrer Reise in den unterentwickelten Südosten der Türkei zu begleiten. Dort, in Diyarbakir, Gaziantep oder Urfa, wechselt sie oft in den persönlichen Erzählstil einer Reisenden und liefert mit ihren Alltagsbeobachtungen aus dem Innern der Türkei die stärksten Eindrücke dieses Buches. Das schlimmste Erlebnis während ihrer Reise ist ihr aber in der Kleinstadt Afyon widerfahren:

    "Als wir uns das alles angeschaut haben und im modernen Teil im Café saßen, hörte ich nur ein paar Männer schreien: Macht Platz, ihre Nase ist ab. Und als ich aus dem Fenster schaute, sah ich, wie eine Dorffrau mit einem Kissen im Gesicht blutüberströmt zu einem Taxi gebracht wurde, und als wir dann nachgefragt haben, sagten sie, das sei auch üblich zur Strafe, wenn die Frau nicht gehorcht oder bei irgendwas erwischt wird, das man diese Art von Strafe ausübt. Das war das Schockierendste."

    Mit den ausführlichen Beschreibungen jener jungen Frauen, die im ländlichen Anatolien von ihren Männern, Vätern oder Brüdern verfolgt werden, findet Necla Kelek ihr Thema.

    Die türkische Republik, die sich so gern als starker Staat präsentiert, verfügt auf ihrem Staatsgebiet nicht über das Gewaltmonopol. Sie hat es den Männern nicht entwenden können - oder wollen.

    Mit einem sehr persönlichen Finale entschädigt Necla Kelek den Leser schließlich für ihre streckenweise pauschalen Beurteilungen. Noch einmal kommt sie auf der letzten Seite auf ihr Heimatmotiv zu sprechen und ihre Verwurzelung in Deutschland und der Türkei. Eingedenk dieser besonderen Perspektive sollte man ihr Buch auch lesen, um es würdigen zu können.

    Barbara Schmidt-Mattern über Necla Kelek: Bittersüße Heimat - Berichte aus dem Inneren der Türkei. Die 302 Seiten sind im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kosten Euro 16,95.