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Politologe warnt vor Radikalisierung in Europa

Am Sonntag wird in Griechenland und Frankreich gewählt. Bei beiden Wahlen dürfte sich die Wut der Bürger über harte Sparkurse und drastische Einschnitte Bahn brechen - rechte wie linke Gruppierungen reiben sich schon die Hände: Es droht eine politische Radikalisierung, warnt der Politologe Iannis Emmanouilidis.

Das Gespräch führte Britta Fecke | 04.05.2012
    Britta Fecke: In drei europäischen Staaten wird gewählt – an diesem Sonntag in Griechenland und Frankreich, im September stehen in den Niederlanden Neuwahlen an. Es sind Abstimmungen im Zeichen der Eurokrise, in dessen Folge auch die bange Frage über ganz Europa schwebt, ob die Sparpolitik die Wähler in die Extreme treibt. Der Wahlausgang in diesen Ländern könnte ein Vorbote für die Entwicklung in ganz Europa sein, denn in allen drei Ländern formiert sich teilweise massiver Widerstand gegen die etablierten Parteien der Mitte. In allen Ländern erfahren die rechtspopulistischen Parteien Zuspruch, Parteien, die früher vor allem mit rassistischen Parolen von sich reden machten, jetzt aber bevorzugt antieuropäische Töne anstimmen. Über diese Wahlen und ihre Auswirkungen für ganz Europa will ich nun mit Iannis Emmanouilidis sprechen, Politikwissenschaftler beim European Policy Centre (EPC) in Brüssel. Herr Emmanouilidis, seit 38 Jahren wird Griechenland nun von diesen zwei große Parteien, der sozialistischen Pasok und der konservativen Nea Dimokratia regiert, meist im Wechsel, jetzt zum Schluss sogar gemeinsam. Prognosen sagen, sie werden ihr Machtmonopol bei den vorgezogenen Neuwahlen am Sonntag verlieren. Was glauben Sie, werden wütende Wähler so oft für die Alternative stimmen – und es gibt ja immerhin 36 –, dass das griechische Parteiensystem völlig zerfasert?

    Iannis Emmanouilidis: Es wird ein politisches Erdbeben nach diesen Wahlen in Griechenland geben. Aller Voraussicht nach werden acht bis zehn Parteien in das neue griechische Parlament einziehen. Es sieht wohl so aus, dass die beiden großen Parteien oder die ehemaligen großen Parteien – Pasok und Nea Dimokratia – einen erheblichen Rückschlag erleben werden im Vergleich zu den letzten Wahlen. Es werden sich wesentlich weniger Wähler für sie entscheiden. Es könnte aber dennoch sein, dass beide Parteien ausreichend stark genug sein werden, um eine Regierungskoalition zu bilden, die von dem ein oder anderen geführt wird – es ist noch nicht genau klar, wer Premierminister werden würde. Es kann auch sein, dass die eine oder andere Partei sich dieser Koalition anschließt. Aber tatsächlich wird es ein politisches Erdbeben geben, und das ist natürlich dann auch ein Denkzettel vieler Wähler für die Politik der letzten nicht nur zwei, drei Jahre, sondern der letzten Jahrzehnte.

    Fecke: Links- oder auch rechtsextreme Parteien haben in Griechenland große Chancen, über die Drei-Prozent-Hürde zu springen, das sind Parteien, die den Sparkurs kategorisch ablehnen, einige stehen sogar für den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion. Müssen wir uns also doch Gedanken machen?

    Emmanouilidis: Natürlich müssen wir uns Gedanken machen in Griechenland und anderswo, dass derartige Parteien so viel Zulauf erleben. Wobei, es gibt auf der rechten Seite eine extreme Partei, die rassistische Züge hat, die also ein besonderes Phänomen darstellt, aber auch auf der linken Seite Parteien, die das Memorandum, die die gegenwärtige Politik des Sparens nicht unterstützt. Aber in der griechischen Bevölkerung ist ein sehr, sehr großer Anteil, der innerhalb der Eurozone bleiben will, innerhalb der Europäischen Union bleiben will, und das wird auch viele Wähler dazu bewegen, in letzter Minute für die ein oder andere Partei zu stimmen, die eine eher proeuropäische Ausrichtung hat. Aber natürlich ist es ein Denkzettel an diese Parteien, die großen Parteien, für die Politik der letzten Jahre. Vor allem da muss auch sich einiges ändern, dennoch müssen sie weiterhin am Sparkurs festhalten, es gibt keine Alternative dazu. Man muss aber gleichzeitig Wege finden, wie das Land nach fünf Jahren der Rezession ökonomisch wieder auf die Beine kommt, und das wird nicht einfach sein.

    Fecke: Sie sprachen öfter von der Rezeptur, die geändert werden muss, was meinen Sie damit?

    Emmanouilidis: Die letzten zwei Jahre waren wesentlich darauf ausgerichtet, die Ausgaben zu kürzen, darauf ausgerichtet, den Schuldenstand langfristig zu kürzen, radikale Reformen, Strukturmaßnahmen durchzuführen. Das muss weiterhin der Fall sein. Aber gleichzeitig müssen Anstrengungen unternommen werden, damit das Land wieder ökonomisch auf die Beine kommt, denn diese Rezession, die ja sehr tiefgreifend ist und über mehrere Jahre anhält, hat zu einer Art Arbeitslosigkeit geführt unter der Jugend. Jeder zweite junge Mensch ist arbeitslos, aber auch insgesamt ist die Arbeitslosigkeit sehr verbreitet. Es hat zu einer Verarmung vieler Teile der Bevölkerung geführt, und das führt natürlich zur Radikalisierung und führt auch dazu, dass Leute zunehmend frustriert sind, zunehmend verärgert sind und die Unterstützung für die Reformmaßnahmen, für die Sparmaßnahmen, die nötig ist, die geht dadurch verloren. Deswegen brauchen wir eine bessere Balance zwischen Sparen auf der einen Seite, was natürlich sein muss, aber auf der anderen Seite auch Wachstum generieren. Dazu braucht es auch externe Hilfe, das wird Griechenland alleine nicht schaffen.

    Fecke: Es waren ja nur die beiden traditionellen Parteien, die ganz klar zu den verabschiedeten Sparmaßnahmen standen. Wenn sie jetzt doch keine Mehrheit bekommen, platzt dann nach der Wahl der europäische Plan zur Griechenland-Rettung?

    Emmanouilidis: Würde es keine Mehrheit geben, dann gäbe es natürlich eine Gefahr, aber es ist davon auszugehen, dass es diese Mehrheit geben wird, und von daher, dass dieser Kurs weiter fortgeführt wird. Die Frage, die sich stellt: Wie wird die Situation in ein oder in zwei Jahren sein? Wird man dann Erfolge erzielt haben, und welche Wirkung wird das haben dann insgesamt auf die Rezeptur; nicht nur, was Griechenland angeht, sondern auch auf die Krisen-Rezeptur insgesamt.

    Fecke: Viele Griechen eint mit den Franzosen der Wunsch, den etablierten Parteien und Politikern einen Denkzettel zu verpassen – Sie sagten es gerade. Diese "Vergessenen der Republik", so werden sie in Frankreich genannt, neigen entweder zur Enthaltung oder zum rechten Rand. Man sah es jetzt bei den Wahlen: Marin Le Pen, die Parteivorsitzende des Front National, hat 17,9 Prozent der Stimmen in der ersten Runde erhalten. Das sind alles Menschen, die sich einen starken Nationalstaat zurückwünschen und weniger Vorgaben auch in der Sparpolitik aus Brüssel. Kann Europa diese erstarkende Wählerschaft von Finnland bis Frankreich eigentlich noch länger ignorieren?

    Emmanouilidis: Nein, sie kann sie nicht ignorieren und sie ignoriert sie auch nicht, denn die Befürchtungen, was passieren würde, wenn in dem einen oder anderen Land tatsächlich Kräfte an die Macht kommen, die sich offen aussprechen gegen die Krisen-Rezeptur auf nationaler oder auf europäischer Ebene. Diese Angst davor ist ziemlich ausgeprägt, also kann man die Augen davor nicht verschließen. Deshalb ist es auch im Interesse aller anderen, dass in den jeweiligen Ländern die Politik, die Sparpolitik, die Reformpolitik fortgesetzt wird, und man versucht zu unterstützen, dass in diesen Ländern es Erfolge gibt, damit solche Kräfte, die gegen eine Rezeptur auf nationaler, europäischer Ebene sind, die langfristig Erfolg versprechen kann, dass diese Kräfte weiter zunehmen. Aber das ist natürlich sehr schwierig, weil man weiß, dass diese Krise noch länger mit uns sein wird. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Krise in einigen Monaten beendet sein wird, sondern sie wird noch länger andauern, und ohne Erfolge wird es umso schwieriger, die Menschen davon zu überzeugen, dass man weitermachen muss.

    Fecke: In den Niederlanden ist ja dasselbe Phänomen. Mark Rutte, der Premier, der rechtsliberale Premier, ist gerade daran gescheitert, 16 Milliarden im nächsten Haushalt einzusparen, und zwar, um die Defizitbedingungen des neuen EU-Fiskalpaktes einzuhalten. Das Ergebnis kennen wir, und wahrscheinlich wird Geert Wilders davon bei der nächsten Wahl profitieren, nicht?

    Emmanouilidis: Es ist noch nicht ganz sicher, ob er davon profitieren wird, denn viele Bürger sind sich natürlich dessen bewusst, dass er hier taktiert hat, dass er laviert hat, und es kann auch sein, dass andere Kräfte davon profitieren werden und nicht nur er. Aber es ist natürlich zu früh, da irgendwelche Prognosen abzugeben, da die Wahlen ja erst im September stattfinden werden. Aber die Gefahr, die auch besteht, ist, dass gewisse vereinfachende populistische Anti-Europa-Rhetorik nicht nur sich wiederfindet in Parteien wie der von Herrn Wilders, sondern auch in traditionellen Parteien, die teilweise mit populistischen Argumenten auch hantieren, weil sie sonst Angst haben, Verlierer auf ihrer Seite zu verlieren. Und von daher sehen wir, dass diese vereinfachte Logik, die sich in populistischer Rhetorik wiederfindet, dass das nicht nur die extremen betrifft, sondern teilweise auch traditionelle Parteien, die sich derartige Argumente zu eigen machen.

    Fecke: Eine Gefahr für Europa?

    Emmanouilidis: Eine Gefahr sicherlich für Europa, denn man wird vor allem innerhalb der Eurozone gemeinsame Lösungen finden müssen. Daher ist man voneinander abhängig. Es ist eine Art der existenziellen Interdependenz entstanden, vor allem zwischen den Staaten der Eurozone, und von daher ist man sehr davon abhängig, was in anderen Staaten passiert. Und da muss man gemeinsame Lösungen finden und genauso darauf achten, was es auf europäischer, aber auch auf nationaler Ebene bedeutet, wenn man gewisse Entschlüsse fasst.

    Fecke: Vielen Dank für diese Einschätzung. In Griechenland, in Frankreich und später auch in den Niederlanden wird gewählt. Iannis Emmanouilidis hat mir das Ganze ein bisschen eingeordnet. Er ist Politikwissenschaftler beim European Policy Centre in Brüssel. Vielen Dank!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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