Samstag, 20. April 2024

Archiv

Politologe zu EU-Kompromiss
"Wir haben so etwas wie eine neue Fraktionierung Europas"

Angesichts der Gegensätze in Europa sei es ein großes Glück, dass der EU-Gipfel überhaupt einen Beschluss gefasst habe, sagte der Politologe Albrecht von Lucke im Dlf. Das alte Tandem Frankreich-Deutschland sei jedoch in eine Schwächeposition geraten. Stattdessen gebe es nun vier Fraktionen in der EU.

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Dirk Müller | 22.07.2020
Der Berliner Politikwissenschaftler und Publizist Albrecht von Lucke
Der Berliner Politikwissenschaftler und Publizist Albrecht von Lucke (imago / Metodi Popow)
Nach tagelangem Ringen um einen Kompromiss für ein europäisches Corona-Hilfspaket steht der Plan im Umfang von 1,8 Billionen Euro. Ein besonderer Streitpunkt in den Verhandlungen war die Höhe der nicht zurückzuzahlenden Zuschüsse im 750 Milliarden Euro umfassenden Investitionsprogramm. Am Ende einigten sich die 27 Mitgliedsstaaten hierfür auf einen Umfang von 390 Milliarden Euro.
EU-Gipfel in Brüssel
EU-Sondergipfel - Erleichterung über Einigung auf Corona-Hilfsfonds
Beim EU-Sondergipfel in Brüssel haben sich die 27 EU-Staats- und Regierungschefs auf einen Corona-Hilfsfonds und den neuen EU-Haushalt geeinigt. Frankreichs Präsident Macron von einem "historischen Tag".
Die EU nimmt Hunderte Milliarden Schulden auf, zum ersten Mal in der Geschichte, zum ersten Mal in dieser Dimension. Der Ausgang ist ein bisschen ungewiss: Wer zahlt wann was in welchem Zeitraum zurück? Wer kontrolliert das Ganze? Wer bestimmt, wo das Geld hinfließt?
Neben den finanziellen Fragen sei die eigentliche große Frage, wo das verbindende europäische Gemeinsame sei, sagte der Berliner Politikwissenschaftler Professor Albrecht von Lucke im Deutschlandfunk. Jenseits der Tatsache, dass die EU erhalten bleiben solle, sei dieses Gemeinsame nicht sonderlich erkennbar gewesen. "Das ist das eigentliche Problem", so von Lucke, der auch Redakteur bei den Blättern für die deutsche und internationale Politik ist.
Sophie in ‚t Veld, Mitglied im Ausschuss des EU-Parlaments für bürgerliche Freiheiten, schaut in die Kamera
EU-Parlamentarierin - "Regierungschefs schauen bei Rechtsstaatlichkeit weg"
Der politische Wille zum Schutz des Rechtsstaats fehle den EU-Regierungschefs, kritisiert die niederländische EU-Abgeordnete Sophie in `t Veld im Dlf. Das zeige sich auch beim Corona-Hilfspaket, da die Zuschüsse nicht an Rechtsstaats-Prinzipien geknüpft seien.
Dirk Müller: Herr von Lucke, fühlen Sie sich noch wohl dabei?
Albrecht von Lucke: Na ja, das ist ja das klassische Phänomen, wo man mit "good will", mit sehr viel "good will" sagen kann, das Glas ist allemal halb voll, weil man feststellen wird müssen, es ist ein großes Glück, dass dieser Gipfel, bei dem wir vor zwei Tagen noch gar nicht wussten, ob er überhaupt zu einem positiven Ende kommen würde, überhaupt ein Beschluss am Ende stehen würde, dass dieser Gipfel zu einem Ende gekommen ist, alleine schon hinreichend, ich sage mal, Anlass anzunehmen, das Glas ist halb voll.
Die leere Hälfte ist natürlich darin bestehend, dass das, was wir gegenwärtig erleben, wenn Sassoli so schön sagte, es ist der Kern, dass gestritten wird, der Demokratie - dann wird man feststellen müssen, auf diesem Gipfel wurde so hart wie noch nie um nationale Interessen primär gestritten. Und die eigentliche große Frage, wo ist das verbindende europäische Gemeinsame, ist jenseits der Tatsache, dass die EU erhalten bleiben soll, nicht sonderlich erkennbar gewesen. Das ist das eigentliche Problem.
"Mit Sicherheit nicht die letzte Krise"
Müller: Aber diejenigen, die das gefordert haben, die Solidarität, sind diejenigen, die Geld wollten, und zwar geschenkt bekommen wollten. Ist das solidarisch?
von Lucke: Na ja. Es ist ja nun mal ganz klar, dass wir erlebt haben, dass diese historische Krise Europa in einer Weise gefordert hat, wie wir es bisher noch nicht in den letzten 75 Jahren erlebt haben.
Müller: Jede Krise ist größer als davor.
von Lucke: Man kann das leider so sagen. Deswegen ist das mit Sicherheit auch nicht die letzte Krise. Das geht übrigens sofort in die Dimension der Klimapolitik und die Dimension, die noch auf uns zukommt. Deswegen sind diese Zukunftsfragen ja so relevant, die jetzt letztlich unter den Tisch gefallen sind, und das ist der zentrale Punkt.
Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel mit Mundschutz beim EU-Gipfel.
Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel beim EU-Gipfel (AFP / POOL / JOHN THYS )
Wir haben so etwas wie eine neue Fraktionierung Europas. Wir haben erlebt, dass wir vier Fraktionen am Tisch hatten. Das waren zunächst einmal die Südeuropäer, die am stärksten betroffen waren, die jetzt aber auch besonders zufrieden sind. Ich sage übrigens, zur großen Erleichterung von uns allen, denn man musste die Sorge haben, dass die Rechtspopulisten gewaltig an Boden gewinnen. Dass vor allem die Italiener, Präsident Conte jetzt sagen können, wir sind gut aus der Affäre gekommen, ist erst mal ein positiver Aspekt.
Müller: Das heißt, wir kaufen Stimmen, Herr von Lucke, damit die Rechtspopulisten in diesen südeuropäischen Ländern nicht politisch dann auch noch Futter bekommen, sondern wenn wir Geld geben und die Regierungen unterstützen, die offenbar keine gute Wirtschaftspolitik machen, dann ist das in unserem Sinne?
von Lucke: Na ja. Es geht ja hier in dem Falle nicht nur um gute oder schlechte Wirtschaftspolitik. Es geht um eine existenzielle Krise vor allem Südeuropas, die ganz stark von Corona getroffen sind. Das hat nicht nur mit Verschulden eigener Art zu tun, sondern das sind wirklich historisch neue Phänomene.
Und übrigens, das sagen Sie völlig zu recht. Der Kampf gegen den Rechtspopulismus ist natürlich eine interne ganz grundsätzliche Debatte, die im Raum steht. Um es dann als zweite Gruppe gleich einzuführen: Die Osteuropäer, die Visegrad-Staaten hinter Viktor Orban, sind ja selber Rechtspopulisten reinsten Wassers, vor allem Orban selber, auch die polnische Regierung. Das heißt, wir haben dort natürlich das Problem, dass, um dem Süden aus der Patsche zu helfen, man auf der anderen Seite auf die Rechtsstaatlichkeit gegenüber Osteuropa verzichtet hat. Das ist das eigentliche Dilemma.
Man hat finanziell in einem großen Deal, der von der dritten Gruppe natürlich massiv betrieben wurde, das was wir jetzt als skandinavisch-alpine Gruppe bezeichnen können, die sogenannten sparsamen, böse Zungen sagen die geizigen Vier, Dänemark, Schweden, Österreich, dann noch Finnland hinzukommend …
Müller: Sind fünf!
von Lucke: Ja, das sind fünf mittlerweile. Finnland war der fünfte. Damit will ich sagen: Diese Gruppe hat natürlich besonders darauf gedrängt, dass nicht hinreichend viel ausgegeben wurde. Der eigentliche letzte Teil, der vielleicht Gesamteuropa im Schilde führt, das alte Tandem Frankreich-Deutschland, ist in eine solche Schwächeposition geraten, dass man am Ende, meine ich, von Glück sagen kann, dass man überhaupt mit einer Einigung herausgekommen ist.
Müller: Herr von Lucke, jetzt sagen Sie - Entschuldigung, dass ich da unterbreche -, die sparsamen, die geizigen Fünf. Man könnte ja auch sagen, die verschwenderischen 22, die ziehen da an einem Strang, weil sie alle davon profitieren wollen – außer die Deutschen, die davon definitiv am meisten bezahlen müssen.
von Lucke: Ich sehe es ja noch viel dramatischer. Wir werden uns doch fragen müssen, denn das war Ihre Grundsatzfrage, wer trägt Lasten und wer hat den Nutzen von der ganzen Angelegenheit.
Müller: Aber das wissen wir ja. Wer die Lasten trägt, wissen wir.
von Lucke: Ich glaube, wir denken die Kategorie der Lasten viel zu klein. Sie machen eine vor allem finanzpolitische Rechnung auf. Das ist durchaus nachvollziehbar. Und die Frage wird natürlich in einigen Jahren auch beantwortet sein, hoffentlich zum Positiven, wenn nämlich tatsächlich so etwas wie Aufschwung in Südeuropa vonstattengegangen sein wird.
Deutschland hänge von funktionierender Nachfrage in Europa ab
Müller: Da warten wir seit Jahrzehnten drauf.
von Lucke: Ja. Das Problem besteht bloß einfach darin - und jetzt komme ich an den Punkt: Was hätten wir denn machen sollen? Wir wissen es doch allzu gut. Gerade Deutschland hängt als Exportnation in einem Maße von einer funktionierenden Nachfrage in Europa ab, dass gerade bei uns gewissermaßen das Interesse an einer funktionierenden, auch nachfragestarken Europäischen Union zusammenfällt mit einem gesamteuropäisch politischen Interesse.
Müller: Herr von Lucke, hatten Sie ernsthaft Zweifel daran, dass keine BMW mehr gekauft werden, so wie das seit Jahrzehnten passiert bei denjenigen, die sich das leisten können?
von Lucke: Ich muss Ihnen gestehen, dass ich in dieser Krise, in der wir uns gegenwärtig befinden, allergrößte Zweifel daran habe, dass diese auch Luxusexporte, die wir betreiben, bei einem Zusammenbruch der Europäischen Union, die wir übrigens noch keineswegs ausgeschlossen haben. Wir werden doch selbst in den nächsten Monaten in Deutschland erleben, dass wir mit Rezession es zu tun bekommen, die noch ein Ausmaß haben könnte, wie wir das bisher noch gar nicht gekannt haben. Ich habe allergrößte Zweifel daran, dass dann auch der Exportmotor Deutschland weiter am Laufen sein wird.
Müller: Wie wäre es denn mit Reformen bei diesen Ländern, die immer wieder in die strukturelle Krise geraten? Das war nach der Finanzkrise auch so. Italien macht immer weiter mit der Staatsverschuldung, das geht immer höher, und wir geben ihnen jetzt auch noch Geld dafür, so weiterzumachen.
von Lucke: Sie haben mit dem zweiten Punkt ja völlig recht. Bloß das eine schließt das andere doch in keinster Weise aus. Die Grundfrage ist doch die - und die ist ja zumindest in einzelnen Punkten zum Tragen gekommen; da wird man selbst Mark Rutte durchaus nicht nur kritisieren können, wenn er sagte und seine Fraktion, die sogenannten Sparsamen sagten, wir werden es ein Stück weit konditionalisieren müssen. Das ist natürlich in der Tat bei der Zuschussfrage jetzt nicht der Fall. Bloß ich sehe beim besten Willen nicht, wie in einer solchen historischen Krise die reine Kreditfrage gereicht hätte, um diesen Staaten wirklich aus der Patsche zu helfen.
Das heißt, die eine Frage, gegenwärtig akut helfen zu müssen, schließt die andere Frage, auf Reformen drängen zu müssen, nicht aus, und insofern sehe ich noch - das sage ich ganz optimistisch, ohne dass ich nicht sehr kritisch wäre - die Möglichkeit einer Win-Win-Situation in dieser Lösung.
"Der verbliebene proeuropäische Rest"
Müller: Glauben Sie denn jetzt ernsthaft daran, dass die Gelder zielgerichtet dort eingesetzt werden, wo auch Sie, wo die vielen Beobachter, Experten, die Wirtschaftsexperten sagen, das sind wirkliche Reformen, das sind strukturelle Veränderungen, das sind Investitionen in die Zukunft? Glauben Sie daran?
von Lucke: Das wird die große Aufgabe der EU sein, das in einem stärkeren Maße zu leisten, als es in den letzten Jahren passiert ist. Und da greift in der Tat natürlich die Kritik - wir waren ja am Anfang an dem Punkt -, die Kritik durchaus auch des Europäischen Parlaments, die natürlich dahin geht zu sagen, die großen Zukunftsfragen sind zu wenig berücksichtigt.
Das teile ich, diese Kritik, dass man genau eine Reform sowohl in Funktionalität ökonomischer Hinsicht, aber auch in ökologischer Hinsicht jetzt ein Stück weit hinten angestellt hat. Das bleibt ein ungemeiner Kritikpunkt. Aber es liegt natürlich an der Europäischen Union. Es liegt auch am Willen, diese Union jetzt in reformerischer Hinsicht zu stärken, das in den nächsten sieben Jahren unter Beweis zu stellen.
Müller: Aber das hat sie vorher auch nicht getan. Sie hat vorher auch nicht darauf bestanden, dass die Kriterien erhalten bleiben beziehungsweise eingehalten werden.
von Lucke: Das ist richtig. Herr Müller, ich stelle bloß jetzt umgekehrt die Frage dann zurück: Wie hätte die Rolle Deutschlands wie auch Frankreichs in dieser Situation als, ich sage mal, der verbliebene proeuropäische Rest aussehen sollen und müssen, wenn man weiß, dass beide Staaten, Italien wie Spanien, in einer historischen Krise sind, die mit maximaler Rezession einhergeht?
Hätten wir es ein zweites Mal mit einem Fall Griechenland als viel kleinerer Staat versuchen sollen, der so in die Rezession durch Austerität gespart wurde, dass anschließend keinerlei Nachfrage vonstattenging? Das wird man sich bei zwei Staaten wie Italien und Spanien, Italien drittgrößter Bruttosozialprodukt-Leister in Europa, nicht leisten können. Deswegen, glaube ich, war diese Lösung die einzig richtige, die aber jetzt mit einer Verbesserung des ökonomischen Gerüstes einhergehen muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.