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Polizei-Seelsorger
Wenn das "Bullenschwein" Hilfe braucht

Von Polizisten wird erwartet, dass sie helfen und beschützen, gleichzeitig werden sie beschimpft, bedroht und attackiert. Und an Unfallorten bietet sich ihnen oft ein schreckliches Bild. Wenn Polizisten die Erlebnisse des Arbeitsalltags nur schwer verarbeiten können, haben sie in Sachsen-Anhalt eine Anlaufstelle: den Polizeipfarrer.

Von Ronny Arnold | 27.07.2015
    Polizeieinsatz beim "Risikospiel" Hamburger SV gegen Werder Bremen am 21. September 2013
    Polizeieinsatz beim "Risikospiel" Hamburger SV gegen Werder Bremen am 21. September 2013 (dpa / picture alliance / Axel Heimken)
    Hooligans und Ultras, nach einem Fußballspiel auf der Flucht vor der Polizei. Was in diesem kurzen, bei Youtube hochgeladen Privatvideo zu sehen ist, nennen Polizisten immer häufiger Gewaltexzess. Für sie bedeutet diese körperliche Gewalt oft: Gefahr für das eigene Leben. Nicht selten werden Polizeibeamte bei Einsätzen angegriffen und verletzt.
    Vor wenigen Tagen erst veröffentlichte die Polizei ihren neuen Jahresbericht. Ergebnis: die Zahl der angegriffenen und verletzten Polizisten ist wieder gestiegen. Thomas Linke ist Polizist in Köthen, Sachsen-Anhalt, immer häufiger werden er und seine Kollegen auch bei Fußballspielen eingesetzt. "Es ist schwer, jemanden von Außen zu erklären, du, ich muss das machen, das ist meine Arbeit. Fußballspiel, eine Demo oder sonst irgendwas, dann müssen wir dahin und aufpassen, das eben die gegnerischen Fangruppen nicht aufeinander losgehen. Und klar, dass ich dann von allen Seiten Feuer kriege. Aber da kann man nichts tun, man macht seine Arbeit, guckt, dass man im Verband stark ist bei solchen Sachen und dann klappt das. Die Fußballfans, die schimpfen sowieso immer, egal für welche Seite."
    Was im Inneren des Polizisten vorgeht, welche Spuren diese Gewalt hinterlässt, das scheinen gewalttätige Hooligans häufig zu vergessen. Dinge, die für den Normalbürger schon eine Grenze überschreiten, nehmen viele Kollegen mittlerweile einfach hin, sagt Linke. "Also Anspucken finde ich, Beleidigung, ist normal. Anspucken, es kommt darauf an, man kann mit Bier übergossen werden beim Fußballspiel, wenn ich die Polizei nicht leiden kann, das sind solche Sachen, da muss man einfach drüber stehen. Das wäre für mich jetzt nicht der Grund irgendwas zu verreißen. Bis hin zu Flaschen fliegen und so - das geht."
    Kollege René Loos kennt solche Situationen ebenfalls. Der Polizeihauptmeister hat vor über 20 Jahren in Sachsen-Anhalt als Streifenpolizist begonnen. Heute ist er Schießtrainer in Dessau. Gerade hier beim Training hört Loos oft von Momenten, in die vermeintlich hartgesottene Polizisten gekommen sind, wo auch sie an ihre Grenzen gestoßen sind. Gewaltexzesse, schwere Verkehrsunfälle oder gar der Einsatz der Schusswaffe - das sind Bilder, die sie so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommen.
    "Die schwere Situation für den Polizeibeamten fängt hinterher an. Also die Geschehnisse zu verarbeiten. Und das Überwinden einer persönlichen Hemmschwelle, sich nach Außen zu öffnen und zu sagen: Ich benötige Hilfe. Dieses Klischee vom harten Polizisten, vom harten Mann, wird es geben. Aber in diesen Situationen ist es, glaube ich, so, dass die innere Seele ziemlich angegangen wird. Gerade wenn sie sehen, schwere Verkehrsunfälle auf der Autobahn zum Beispiel, da bietet sich den Beamten schon mitunter ein böses Bild, was genauso verarbeitet werden muss."
    Natürlich ist der Polizeialltag nicht permanent von Gewalt geprägt. Routinearbeiten im Büro, aber auch Verkehrskontrollen, gehören ebenfalls zum Job. Thomas Linke ist seit Stunden mit einer Kollegin auf den Beinen. Wird der Beamte gebraucht, bei Unfällen, Anzeigen oder gar als Lebensretter, wird er schnell selbst zum Seelsorger, weiß Linke. Doch das Blatt kann sich jeder Zeit wenden. "Die Ersten, die den Notruf wählen, sind auch die Ersten, die uns beschimpfen. Wenn er in einer Notlage ist, fahre ich hin und mache meine Arbeit, auch wenn ich weiß, dass das so ist, ich weiß, dass ich dann zwei Tage später wieder das Bullenschwein bin."
    Nicht einfach, das alles zu verarbeiten. Deshalb sucht Thomas Linke oft das Gespräch – und zwar mit dem Polizeipfarrer. Seit gut einem Jahr gibt es in Sachsen-Anhalt, am Stadtrand von Dessau, eine evangelische Polizeikirche. Michael Bertling ist für Beamte wie Thomas Linke der ideale Zuhörer, weil der Pfarrer auch bei schwierigen Einsätzen, wie Fußballspielen oder Demos, häufig dabei ist.
    "Der weiß, wenn jemand kommt, bei der Demo so und so, das und das, dann weiß der, wovon der Kollege spricht. Und dann kann ich helfen. Und deswegen brauchen wir eine Seelsorge. Weil sonst haben wir nichts, wir haben keinen Psychiater, wo ich mal eben unter der Woche in der Mittagspause hinhuschen kann. Der einzige Zufluchtsort, wenn man einen sucht, wäre die Seelsorge. Ein anderer ist nicht da."
    Der Polizeipfarrer ist da, er fährt in die Dienststellen rund um Dessau, trifft sich immer wieder mit den Beamten. Doch was genau kann Bertling für sie tun? "Zuhören! Mitunter reicht es vielen Kollegen, wenn sie das jemandem erzählen können. Ungeschützt erzählen können, weil sie ganz genau wissen, der Polizeipfarrer ist an keine Berichtspflicht gebunden, er ist der Dienstverschwiegenheit verpflichtet, er hat eine seelsorgerische Verschwiegenheit. Und dazu zählt dann eben auch ein Anspruch, dass das, was sie von sich geben wollen, geschützt ist."