Freitag, 19. April 2024

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Pop-Bilanz der 10er-Jahre
Lachnummer und Gruselkabinett

Wir drehen die Zeit zurück und schauen auf die zu Ende gehenden 10er-Jahre: Wer war wichtig? Was wird weitergehen? Wir haben unsere Corsogespräche durchgestöbert nach dem, was bleibt. Trends, Typen und Themen – von A wie Austropop bis Z wie Zuckerberg.

Von Adalbert Siniawski und Thomas Pigor | 31.12.2019
Der Moderator und Satiriker Jan Böhmermann
Einer der wichtigsten Popkultur-Promis der 10er-Jahre: Satiriker Jan Böhmermann (imago)
Die Zehnerjahre I
Musik u. Text: Thomas Pigor
Das zweite Jahrzehnt ist vorüber
Zwischen Wohlfühlzone und Gruselkabinett
Auszüge alphabetisch geordnet von A bis Z
Nicht komplett - nee, nee - subjektiv und ohne Garantie
Rückblick auf die Zehner, Folge 1 von A bis I
A wie Altmaiers armselige Ausflüchte in der Klimapolitik, AKK
A wie der viel zu lange Abgesang der Merkel-Ära
B wie Bead'n'Breakfast, die Renaissance des Barts B wie "Britain bye bye", B wie Backstop, Brexittermine, B wie Boris Johnson
C wie Club Mate, Cholesterinsenker, C wie CDU, die nach Rezo zerstört gehört
Er hat Recht, die ham den Schuss nicht gehört
D wie Dieselskandal und die Dreistigkeit der Deutschen Autoindustrie
und E wie Emojis, E-Zigaretten und Erdogan und Eyjafjallajökull
Das war dieser isländische Vulkan, der den Flugverkehr lahmlegte
F, F, dass die Flüchtlingsfrage die Mutter aller Probleme sei
F wie "Fuck ju Göthe", Fukushima, was hatten wir in den Zehnerjahren mit G?
Greta, Gaddafi, und Guttenberg, der anerkannte Ausnahmepolitiker 2011
H, H, wie: Hat Höcke ein Hakenkreuz im Hirn - von wegen Herr Höcke? Ha, ha!
H wie hygge, gemütlich. H wie Heimatministerium. Ha, ha, ha
I wie Instagram, das Ibiza-Video,
Und die FPÖ kam trotzdem noch auf 16 Prozent - iiii
Auszüge aus den Zehnerjahren
Folge 1 - zack, vorbei
Die Fortsetzung folgt gleich in Folge 2

Der größte Popkultur-Promi national dieser Dekade? Viele wären zu nennen. Aber sicher, dieser eher kleingewachsene Mann …
Jan Böhmermann: "Größe ist nicht vonnöten, dafür bin ich zu größenwahnsinnig: Selbst wenn ich ganz klein bin, halte ich mich für den Größten."
"Beim Inhalt muss man vor allem auf den Content achten"
Jan Böhmermann, der Junge aus Bremen-Nord, der bei Harald Schmidt das Gag-Schreiben lernt und bald schon mit seinem "Neo-Magazin" bei ZDFneo die Popkultur aufmischt. Varoufakis-Stinkefinger, Erdogan-Gedicht, Europa-Support und Hohenzollern-Schelte. Auch wenn’s mit dem SPD-Vorsitz nicht klappt – ins Hauptprogramm des ZDF-Fernsehens schafft er‘s. Wobei: Wer guckt schon linear?
Jan Böhmermann: "Ich gucke mir auch keine Fernsehsendungen mehr an, sondern gehe in die Mediatheken und schaue es mir online an – als YouTube-Clip oder so was. Und da, glaube ich, ist das Interesse an gut produzierten, professionellen Entertainment-Inhalten nach wie vor groß. Also unser Schlagwort ist: Beim Inhalt muss man vor allem auf den Content achten – das ist das Geheimnis. Und übrigens, das ist ein Geheimnis auch für den Deutschlandfunk: Wir könnten, wenn wir uns richtig Mühe geben, auch mit unseren Gebührengeldern eigentlich gute Sachen machen, wenn wir das Internet richtig nutzen würden - unglaublich!"
Böhmermann ganz oben, das TV-Flaggschiff "Wetten, dass ..?" 2014 am Ende. Immerhin gab’s für Germany auf dem internationalen "Shiny Floor" einiges zu holen. 2018 erhält Regisseur Fatih Akin den Golden Globe für seinen – nicht unumstrittenen – NSU-inspirierten Thriller "Aus dem Nichts". 2014 wird Deutschland in Brasilien Fußball-Weltmeister. Europameisterin wird 2010 eine junge Frau: Nach "Ein bisschen Frieden" von Nicole holt Lena zum zweiten Mal in der Geschichte des Eurovision Songcontest den Sieg für Deutschland.
Cooler Schmäh
Bologna ist ihre Stadt, aber die Heimatstadt ist Wien. Wanda hauchen Mitte der 10er-Jahre dem Austropop neues Leben ein, auch wenn die Genrezugehörigkeit nicht so genau ist. Vom Süden kommen viele, die cool sind und mit Schmäh singen: Bilderbuch, Der Nino aus Wien, Voodoo Jürgens und viele andere Österreicher. Marco Michael Wanda über die Erfolgsformel:
"Wir versuchen, gelebtes Leben zu Wahrheiten über Leben, Liebe und Tod zu verdichten. Mehr aber auch nicht. Und es soll einen Rhythmus haben und Spaß machen."
Grund zur Traurigkeit hat sie nicht, gehört sie doch zu den erfolgreichsten Pop-Künstlerinnen unserer Zeit. Lana Del Rey – 2011 viraler Durchbruch mit "Video Games". Eine "im Zeichen der 50er-Jahre agierende Neo-Diva", mit "sepiagetränkten Stücken und antiquiertem Frauenbild", wie Musikkritiker*innen anfangs lästern.
Lana Del Rey: "Ich habe nicht nach diesem Retro-Sound gesucht, aber ich bin sehr traditionell. Und wenn ich tief singe, hat das einfach eine andere Qualität, und auch, dass ich viel über Liebe singe, zählt sicher dazu. Aber ich bin eine moderne junge Frau und wusste ganz genau, was ich wollte. Außerdem verwende ich viele Streicher - und damals hat man viel Zeit in Streicherarrangements investiert – das könnte auch noch ein Grund sein. Ich bin aber nicht ganz sicher."
Lana Del Rey ist nur eine der Frauen dieses Pop-Jahrzehnts. Denn dieses Jahrzehnt gehört den Frauen. Musikerinnen dominieren die Charts, sie arbeiten sich an den politischen Wirklichkeiten ab (Nationalismus, Rassismus, Sexismus) und sie überzeugen musikalisch. Beyoncé, Solange, M.I.A., Billie Eilish, Janelle Monaé, PJ Harvey, Kate Tempest, Anohni …
Preise für die Männer
"Nach Jahrzehnten der männlichen Dominanz ist im Pop das Zeitalter des Matriarchats angebrochen", analysiert unser Kollege Jens Balzer. Doch die ganz großen Preise, die räumen am Ende doch die Männer ab. Folk-Star Bob Dylan nimmt - nach einer Kunstpause - 2016 den Literaturnobelpreis entgegen (die Jury gerät unabhängig davon wenig später im Zuge der #MeToo-Debatte in Verruf), und Kendrick Lamar erhält 2018 als erster Rapper den Pulitzerpreis für sein Album "Damn.".
Während sich hierzulande Rapper im dumpfen Antisemitismus verstricken und den Musikpreis "Echo" zu Fall bringen, wird Hip-Hop in den USA gefeiert. Auch musikalisch nimmt das Genre jenseits des Atlantiks mit Ausflügen in den Jazz und die experimentelle Elektronik die nächste Entwicklungsstufe. Hip-Hop und R’n‘B lösen den Rock als beliebtestes Musikgenre ab und Lamar ist die Galionsfigur. Rap-Veteran Ice-T im Corsogespräch:
"Ich bin absolut stolz auf Kendrick Lamar. Ich denke, der Grund dafür, dass er den Preis gewinnen konnte, ist, dass die Entscheidungsträger heute jünger sind und mehr zuhören. NWA und Ice Cube haben Leuten zunächst Angst gemacht, aber es dann geschafft zu zeigen, dass wir keine Feinde sind. Die weiße Elterngeneration wählte Obama, weil wir sie zu dem Punkt gebracht haben zu sagen: Wir haben keine Angst vor einem Schwarzen, wir wählen ihn. Diese Leute haben heute auch die Macht, zu sagen: Wir geben einem Schwarzen den Pulitzerpreis. Kendrick Lamar verdient es. Er weiß, dass wir für die Position gekämpft haben, der er seine Position heute verdankt. Deshalb hat er meinen Respekt."
Was für ein Gegensatz: Die USA haben den ersten schwarzen Präsidenten ihrer Geschichte, der im Jahr seiner Amtseinführung den Friedensnobelpreis entgegennimmt und selbst mit Spotify-Playlisten für Aufsehen sorgt. Und doch erschüttert mit #BlackLifesMatter eine erste große Hashtag-Kampagne gegen Rassismus, Polizeigewalt und Diskriminierung von Afroamerikanern das Land, ausgelöst durch eine Reihe von Todesfällen. 60 Jahre, nachdem sich US-Bürgerrechtsaktivistin Rosa Parks weigerte, im Bus einem Weißen Platz zu machen, sind die USA offenbar nicht viel weiter.
Von #BlackLifesMatter zu #MeToo
Viele Pop-Künstlerinnen und -Künstler greifen #BlackLifesMatter in ihren Werken auf. Und dann, 2017, flutet eine weitere Hashtag-Kampagne die sozialen Netzwerke. Ausgelöst durch den Fall des mächtigen Filmproduzenten Harvey Weinstein tritt Schauspielerin Alyssa Milano die #MeToo-Bewegung gegen Sexismus und sexuelle Übergriffe los - was in der Filmbranche beginnt, breitet sich flächendeckend aus.
Margarete Stokowski: "Also wenn man jetzt mal so ein bisschen zurückguckt auf ein Jahr #MeToo, dann kann man auf jeden Fall sagen, dass Leute ein stärkeres Bewusstsein davon haben, dass wir immer noch in einer Zeit leben, wo sehr häufig Macht missbraucht wird; und es so langsam sich ändert, dass Leute anfangen zu merken, wie oft das passiert und tatsächlich die Täter dann auch Konsequenzen tragen müssen."
... sagt Kolumnistin Margarete Stokowoski. Sie hält als Vertreterin der jungen Generation die Fahne hoch für den Feminismus, ein Thema, das die 10er-Jahre begleitet.
Auch das Schlagwort Queerness zieht sich durch die Pop-Kultur. Trotz "Ehe für alle" und "50 Jahre Stonewall-Unruhen" ist es mit der Akzeptanz queerer Menschen so eine Sache, sagt Schauspielerin und Aktivistin Maren Kroymann:
"Ich glaube nur, dass die Schicht der Political Correctness sehr dünn ist und sehr schnell durchbrochen werden kann. Ich glaube, es gibt so einen Grundsud in dieser Gesellschaft auch noch, egal, ob man das noch als braunen Sud bezeichnet oder als ausländerfeindlichen oder homophoben Sud – oder frauenfeindlich können wir da auch noch dazu nehmen. Diesen Sud gibt es und der brodelt. Und im Internet äußert der sich ungehemmter als woanders, weil die Anonymität gegeben ist. Und das sollte uns zu denken geben, weil es sehr real ist, dieser Sud."
Auf diesen Sud im Netz kommen wir gleich in diesem Corso Spezial im Deutschlandfunk zu sprechen, vorher aber unser Haus-Chansonnier Thomas Pigor.

Die Zehnerjahre II
Musik u. Text: Thomas Pigor
Das zweite Jahrzehnt ist vorüber
Zwischen Blutvergießen und Wellness
Auszüge alphabetisch geordnet Folge 2 von J bis S
Jott, oh Gott, Jetstream, Jamaika,
Themen wie Jemen, die selten angesprochen werden ...
K wie Kohlekompromiss, wie Klimapäckchen
Katholische Kirche, klerikale Sklerose
L wie Lithiumbatterien und Christian Lindners klimapolitische Dampfplauderei'n
Wie Lactoseintoleranz und die Last mit Lebensmittelhypochondern
M Maut, Mütterrente, Mobilfunklöcher
Komisch, alles, was mit M anfängt, wächst auf dem Mist der CSU-Minister
N wie Netanjahu und N wie NSA
Und Edward Snowden lassen sie weiter in Moskau verschimmeln
O wie Obama, O wie Occupy oder "Order! Order!"
P wie PISA eine Plamage! Diese peschämenten Zahlen für Teutschlant
Q wie Quizduell, wie WM in Qatar. Quatsch!
Sportliche Quälereien für die sich niemand intressiert bei 40 Grad
RRRusslands rigorose Rückkehr in die Geopolitik von wegen Regionalmacht
S wie SPD, Martin Schulz
S wie Söder vom Saulus zum Paulus wundersame Bekehrung
Die Zehner Jahre Folge 2
J bis S - zack vorbei
Weiter geht's dann gleich mit Folge 3

Wo gibt es noch Räume für freie Entfaltung? In den 10er-Jahren macht sich ein Schlagwort breit: G wie Gentrifizierung. Die Mieten steigen, Menschen werden aus den Kreativstadtteilen verdrängt, die Nischen für die Off-Kultur werden kleiner, und so wird auch über das C wie Clubsterben gestritten. Nirgendwo so sehr wie in Berlin, der international gehypten Party-Hauptstadt. Wer wüsste das besser als Indie-Musikerin Christiane Rösinger (selbst aus Baden-Württemberg zugezogen):
"Nun, in den 80ern gab es in Berlin auch eine Wohnungskrise, Wohnungsnot. Als ich nach Berlin gezogen bin, habe ich auch lange gesucht. Wohnungen sind ja auch gar nicht mehr für Menschen gedacht zum drin Wohnen, sondern Wohnungen sind inzwischen Orte, um Geld anzulegen für die Finanzwelt, um Kapital anzulegen."
Protestierende Frauen tragen ein Plakat mit der Aufschrift "Wir bleiben alle"
Zum Festival "Berlin Bleibt!" inszeniert das Berliner HAU Theater auch "Stadt unter Einfluß"; ein Musical zur Wohnungsfrage. (Dorothea Tuch/Theater Hebbel am Ufer)
Und die Finanzwelt treibt die Menschen auf die Straße. Aktivisten der Bewegung "Occupy Wall Street" in New York und bald auch anderen Teilen der westlichen Welt ziehen sich Guy-Fawkes-Masken über das Gesicht und fordern von der Politik, den ungehemmten Banken- und Finanzsektor zu zügeln. Zuvor schon wurden die Länder Nordafrikas im Zuge des Arabischen Frühlings durchgeschüttelt; mit den sozialen Netzwerken als Befreiungswerkzeuge.
"Politiker sind auf der ganzen Welt korrupt"
Am Ende der Dekade sägen die Menschen in Südamerika an den Stühlen der Mächtigen. Und eine junge Frau aus Schweden scharrt die klimabewegte Jugend bei den "Fridays for Future" um sich: Greta Thunberg. Was ist die Klammer? Regisseur Fatih Akin zeigt 2012 die Umweltdoku "Der Müll im Garten Eden" über einen Abfallskandal in der Türkei, wo seine Großeltern herkommen, und er erklärt in Corso:
"Politiker sind auf der ganzen Welt korrupt. Korruption gibt es überall. Und es kristallisiert sich überall, also global so was heraus wie: das Volk gegen die Regierenden. Weil das Volk, das die Regierenden mitbestimmt hat, einfach nicht zufrieden ist mit der Arbeit, wie die Regierenden regieren. Das ist im Arabischen Frühling so, das ist mit Occupy so, das ist bedingt dann halt auch in der Türkei so. Ich kam ja nicht einfach so von außen und kritisiere einen Zustand – das ist ja das Dorf meines Großvaters! Das ist ja mein heiliger Boden, der dort beschmutzt wird! Das ist ja nicht irgendein Flecken Erde, da kommt mein genetischer Code her, da liegen meine Vorfahren begraben! Und ich möchte nicht, dass die zugeschüttet werden."
Und was in Deutschland erst einmal als Kritik am Euro beginnt, versinkt immer mehr in dem schon angesprochenen braunen Sud. Den Qualitätsmedien schallen Fake-News-Vorwürfe entgegen, ansonsten werden in den sozialen Netzwerken so genannte "alternative Fakten" in die Welt geblasen; Facebook und Twitter werden immer mehr zu Steigbügelhaltern der Alt-Right und der Identitären. Es ist eine Zeit, die uns Angst machen muss, findet Kabarettist und Stefan-Zweig-Darsteller Josef Hader, aber sie ist auch reizvoll für ihn:
"Weil man kann jetzt zumindest vorsichtig sagen, dass so etwas zusammenbricht wie die Nachkriegszeit, endgültig jetzt. Dass endgültig gewisse Dinge, auch weltordnungsmäßig, nicht mehr so sein werden wie seit '45. Und auch in den Demokratien gibt es Dinge, die vor sich gehen, es gibt neue politische Bewegungen, es gibt eine etablierte Politik, die noch nicht das Rezept gefunden hat, wie man heute Demokratie so gestalten kann, dass wieder eine Mehrheit der Bürger wirklich interessiert ist. Das sind alles Vorgänge, die jetzt, historisch betrachtet eigentlich, so traurig das klingt, ganz normal sind. Also wenn man jetzt über Jahrhunderte schaut, der Historiker wird mit den Achseln zucken und sagen: So ist Geschichte."
Der geplante Brexit schreckt die britische Popkultur auf; in Songs und Satiren, Theaterstücken und TV-Serien wettern die Gegner gegen den EU-Austritt Großbritanniens. Ähnlich vergebens, wie in den USA, wo sich das liberale Amerika gegen Obama-Nachfolger Donald Trump erhebt. Etwa Folk-Star Joan Baez:
"Trump ist gerade auf dem Weg, das Jahr des Rüpels zu etablieren. Jeder um ihn herum darf sich so schlecht benehmen wie er will. Trump geht es ausschließlich ums Geld. Er hat vor allem viele Erkrankungen, ich glaube, er ist kein gesunder Mann. Die Frage ist doch: Wie konnten wir den wählen? Es ist hart für mich, das zu begreifen. Wollen die Menschen einfach nur belogen werden? Das ist es auf jeden Fall, was er am besten kann: Lügen. Lügen ist sein Programm."
Systematisch belogen - zumindest im Unwissenden gelassen - wird die Bevölkerung über die globale verdachtsunabhängige Überwachung und Spionage durch den US-Geheimdienst NSA. Doch 2013 lässt Ex-Mitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden die internationalen Ausspähprogramme auffliegen. Zusammen mit Chelsea Manning und Julian Assange ist Snowden einer der wichtigsten Whistleblower, die geheime Machenschaften der US-Regierung aufdecken und mit dem Preis der persönlichen Freiheit bezahlen. Was hat’s gebracht? US-Regisseurin und Snowden-Vertraute Laura Poitras im Corsogespräch:
"Ich glaube eigentlich doch, dass sich vieles verändert hat. Ich glaube, dass sich weltweit das Bewusstsein der Menschen verändert hat, was Überwachung angeht und was Regierungen unternehmen. Außerdem fangen Technologieunternehmen an umzudenken. Die Menschen nutzen häufiger Verschlüsselungen. Unter der Oberfläche verändert sich einiges. Und trotzdem: Ich bin enttäuscht davon, wie die anderen Regierungen reagieren. Die könnten mehr unternehmen. Ich denke aber, dass wir schon Veränderungen sehen können."
Mitnichten, sagt Blogger und Netzaktivist Sascha Lobo in Nachgang der NSA-Affäre, "das Internet ist kaputt". Was einst als Ort der Freiheit und Teilhabe begann, ist zum Überwachungsapparat und zur Radikalisierungsmaschine mutiert. Und recht früh erkannte Netzvordenker Gunter Dueck die Schattenseiten der digitalen Technik:
"Über das Internet kann man sich natürlich vernetzen. Also, da hat so eine gewisse Heimat. Natürlich gibt es Leute, die sich dann auch verkapseln, dann heißt das Filterblase – also, dass man nicht mehr rausgucken kann aus dieser ganzen Geschichte. Das Problem ist eben, dass in diese geschlossenen Gesellschaften, fast geschlossenen Heimatzonen dann eben auch diese ganzen Spammer und Trolle einbrechen und dann ihre Weisheiten dazugeben. Also man ist nicht mehr so ganz ungestört, weil ja jeder Zugriff oder Zugang hat und kommentiert dann irgendwie Grässlichkeiten da rein, um Freude zu haben, andere zu quälen. Die andere Sache ist, dass man eben auch dauernd unter Beobachtung steht – und alles wird auf die Goldwaage gelegt."
Wasserrechnung nicht mit Streams zu decken
Immer online, always-on, Suchtgefahr - aber auch: alles ist heute digital verfügbar. Die Streaming-Dienste sind die Sieger der 10er-Jahre. Die Begleitphänomene: Serien-Binge-Watching, Kinobranche in Aufruhr, Aufstieg der Podcast-Szene, schier grenzenloser Zugriff aufs Musik-Archiv. Die Klagen der Künstlerinnen und Künstler - hier Dieter Meier von Yello:
"Man bekommt überhaupt nichts. Das ist lächerlich! Fünf Millionen Streams, da kannst du kaum deine Wasserrechnung zahlen damit!"
Der Hipster ist ein elitärer Typ
Diese Klagen sind verstummt; wer sich früher verweigert hat, ist nun doch bei Spotify gelistet, die Musikindustrie - immerhin sie - verdient wieder Geld, viel Geld. Und auch sonst bringen die 10er-Jahre Gewinner hervor. Die "Hipster" …
Philipp Ikrath: "Also er ist ein elitärer Typ und er ist ganz bestimmt auch in einer Art und Weise ein Snob, weil er sich eben von alldem, was er für kulturell belanglos hält, eben ganz stark abgrenzt."
… die smoothie-trinkenden Veganer …
Marc Pierschel: "Mir fehlt auch nichts. Also, das ist natürlich die häufigste Frage, die dann kommt: Fehlt Dir nicht irgendwas? Und dann sage ich immer: Nein."
… kurzum: die Generation Y.
Lisa Zoth: "Dass man Lust hat, sich seine Arbeitswelt selbst zu gestalten, dass man Lust hat, sinnvolle Dinge zu tun – und nicht Dinge vorgesetzt bekommt, die man dann abarbeitet."
Sinn und Selbst
Die Zukunft sinnvoll und selbst gestalten, das könnte ein guter Vorsatz für die anbrechenden 20er-Jahre sein, oder?
Einen guten Rutsch ins neue Jahrzehnt wünscht Ihnen im Namen der gesamten Corso-Redaktion Adalbert Siniawski. Doch den Schlussakkord hinter die 10er-Jahre setzt zum Ende dieses Corso Spezials Musikkabarettist Thomas Pigor.

Die Zehnerjahre III
Musik u. Text: Thomas Pigor

Die Zehnerjahre
Zwischen Lachnummer und Gruselkabinett
Folge 3 von T bis Z
T wie Trump und seine Twitter Tiraden , TTIP und Tinder
U wie Uber, was gibt's noch mit U?
Oh, die Uwes von der NSU
V wie die Verstrickungen des Verfassungsschutzes
V wie Vuvuzela, Veganismus, Vogelschiss
V wie das Verwerfen der Argumente von Varoufakis
W wie die Whistleblower von Wikileaks
X wie Xi Jinping, X wie Xavier Naidoo und seine Doch-nicht-ESC-Teilnahme
Ypsilon wie "Yes we can" - Ein Satz, der Millionen Amerikaner anspricht
Die deutsche Übersetzung: "Wir schaffen das" - schaffte das nicht
Z wie Zuckerberg. Marc Zuckerberg, der Datenklau der großen Digitalen
Und Europa kriegt's seit Jahren nicht hin, dass sie hier ihre Steuern zahlen
Die Zehnerjahre hätten wir hinter uns gebracht
Tja, nur ham wir leider wenig draus gemacht
Wir ham uns in diesem Teil der Welt gut amüsiert
Und haben lieber munter, munter, munter ...
Altlasten, Altlasten produziert
Wir haben viel zu wenig in die Zukunft investiert wir haben
Altlasten, Altlasten produziert
Die ganzen Zehnerjahre über einfach
Altlasten, Altlasten produziert
Wir sind schon so Hallodris
Willkommen in the Twenties